Das Seehundsfell

Ein Mann aus Myrdal im Osten ging eines Morgens früh, ehe die Leute aufgestanden waren, an einigen Felsen vorbei und kam an den Eingang einer Höhle. Da hörte er, dass in dem Hügel gelärmt und getanzt wurde, draußen aber sah er eine große Menge Seehundsfelle. Er hob eins von ihnen auf, nahm es mit nach Hause und verschloss es in seiner Truhe. Etwas später, im Laufe des Tages, kam er wieder an den Eingang der Höhle; da saß dort ein junges und schönes Mädchen, das ganz nackt war und bitterlich weinte. Das war der Seehund, dem das Fell gehörte, das sich der Mann mitgenommen hatte. Der Mann gab dem Mädchen Kleider, tröstete es und nahm es mit nach Hause.

Sie war ihm später sehr zugetan, weniger aber stimmte ihr Gemüt mit dem anderer Leute überein. Oft saß sie da und schaute über die See hinaus. Nach Verlauf einiger Zeit nahm sie der Mann zur Frau; sie lebten gut zusammen und hatten viele Kinder miteinander.


Der Bauer verbarg das Fell unter Schloss und Riegel in seiner Truhe und trug den Schlüssel bei sich, wohin er auch ging. Nach Verlauf vieler Jahre ruderte er eines Tages zum Fischfang hinaus und vergaß den Schlüssel zu Hause unter seinem Kopfkissen. Andere dagegen sagen, dass der Bauer mit seinen Leuten zum Weihnachtsgottesdienst gezogen sei, dass die Frau aber krank gewesen wäre und nicht mitgehen konnte; da soll er vergessen haben, den Schlüssel aus der Tasche seiner Wochentagskleider zu nehmen, als er sich umzog; als er aber abends nach Hause kam, war die Truhe geöffnet und die Frau samt dem Fell verschwunden. Sie hatte den Schlüssel gefunden und aus Neugierde die Truhe durchsucht und das Fell gefunden. Da konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen; sie sagte ihren Kindern Lebewohl, fuhr in das Fell und warf sich in die See. Ehe die Frau in die See sprang, soll sie vor sich hingesagt haben:

„Ich will und will auch wieder nicht, —
Sieben Kinder hab’ ich auf dem Meeresboden,
Sieben Kinder hab’ ich auch hier oben.“

Es wird erzählt, dass der Bauer sich das sehr zu Herzen nahm. Wenn er später hinausruderte, um zu angeln, dann schwamm der Seehund oft um sein Boot herum, und es war, als liefen ihm Tränen aus den Augen. Von dieser Zeit an hatte er stets Erfolg bei seinem Fischfang, und das Glück suchte seinen Strand oft auf.

Häufig sah man, wenn die Kinder des Ehepaares an den Strand gingen, dass ein Seehund draußen in der See schwamm und sie begleitete, während sie auf dem Lande oder am Strande entlanggingen, und bunte Fische und hübsche Muscheln zu ihnen hinaufwarf. Nie aber kehrte ihre Mutter wieder aufs Land zurück.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isländische Märchen und Volkssagen