04. - Das hatte Bellas Leben errettet; doch blieb sie lange ohnmächtig und erwachte erst, als schon die beglückten Liebhaber ...

Das hatte Bellas Leben errettet; doch blieb sie lange ohnmächtig und erwachte erst, als schon die beglückten Liebhaber von ihrem Glücke lässig heimkehrten, einer von diesen sang ein jauchzendes Lied von seinem feinen Liebchen und von den falschen Zungen, die heimliche Liebe ausschwätzen; halb hatte er dabei Schlummer in den Augen, und so kam es, daß er sie übersah. Als sie davon erwachte, wußte sie nicht, wie sie an diesen Ort gekommen, den sie nicht mehr erkannte; schwach richtete sie sich auf und sah im ersten Morgenschimmer ihren toten Simson. Sie erkannte ihn, erinnerte sich auch allmählich, warum sie hergekommen, und fand an den Haarflechten, die sie jetzt dem Hunde abnahm, ein menschenähnliches Wesen, gleichsam einen beweglichen Umriß, aus welchem die edlen Sinne noch nicht hervorgetreten sind, ähnlich einer Schmetterlingslarve: so war der Alraun, und wunderbar ist es zu nennen, wie sie auf der einen Seite des Prinzen gar nicht mehr denken konnte, der eigentlichen Ursache, warum sie den Alraun aufgesucht, ganz vergessen hatte, so liebte sie diesen auf der andern Seite mit jener ersten Zärtlichkeit, welche zart durchdringend seit jener Nacht, wo sie den Prinzen gesehen, in ihr zur Erscheinung gelangt war. Zärtlicher kann eine Mutter ihr Kind, das sie bei einem Erdbeben verschüttet glaubt, nicht wieder begrüßen, nicht vertrauter, nicht bekannter, als Bella den kleinen Alraun aus dem letzten Erdenstaube an ihre Brust hob und ihn von allem Anflug reinigte. Er schien von dem allen nichts zu wissen, sein Atem strömte aus kaum bemerkbaren Öffnungen des Kopfes, nur als sie ihn eine Zeitlang auf ihren Armen gewiegt hatte, bemerkte sie an einem ungeduldigen Stoß seines Armes gegen ihre Brust, daß er diese Bewegung liebe; auch beruhigte er Arme und Beine nicht eher, bis sie ihn wieder mit schaukelnder Bewegung erfreulich einschläferte. So eilte sie mit ihm in ihre Wohnung zurück; sie achtete nicht des Hundegebells, nicht einzelner Marktleute, die sich früh vor den Toren der Stadt sammelten, um die ersten bei der Eröffnung der Tore zu sein; sie sah nur auf den Kleinen, den sie sorgsam in ihren Überrock eingeschlagen hatte. Endlich war sie in ihrem Zimmer, hatte ihr Licht angezündet und besah das kleine Ungeheuer. Es tat ihr leid, daß er nicht einen Mund zum Küssen, nicht eine Nase habe, die ein göttlicher Atem herrschend und sanft geformt, daß keine Augen sein Inneres kund machten und daß keine Haare den zarten Sitz seiner Gedanken umsicherten; aber ihre Liebe minderte das nicht. Sie ging sorgsam zu ihrem Zauberbuche, um sich wieder zu erinnern, was mit dieser gegliederten und beweglichen Rübe anzufangen sei, um ihre Kräfte, ihre Bildung zu entfalten, und sie fand es bald. Zuerst sollte sie den Alraun waschen, das vollbrachte sie, dann sollte sie ihm Hirse auf den rauhen Kopf säen, und wie diese aufginge in Haaren, so würden sich seine übrigen Gliedmaßen von selbst entwickeln, nur müsse sie an jede Stelle, wo ein Auge entstehen sollte, ein Wacholderkorn eindrücken, wo aber der Mund werden sollte, eine Hagebutte. Zum Glück konnte sie diese Sämereien alle herbeischaffen, die Alte hatte ihr neulich einige gestohlne Hirse gebracht, Wacholderbeeren brauchte ihr Vater häufig zum Räuchern in seinem Zimmer; sie hatte den Geruch nie leiden können, jetzt war er ihr lieb, denn es war noch eine Handvoll übriggeblieben; eine Hagebuttenstrauch hing im Garten noch voll roter Früchte als die letzte Pracht des Jahres. Alles wurde herbeigeschafft, zuerst die Hagebutte an den rechten Ort eingedrückt, sie merkte aber nicht, daß sie ihm diese bald aus Liebe schief küßte; dann drückte sie ihm zwei Wacholderbeerkerne ein, es schien ihr, als sähe der Kleine sie an, das gefiel ihr so wohl, daß sie ihm gerne ein Dutzend eingesetzt hätte, wenn sie nur einen schicklichen Platz dazu hätte ausfinden können; aber wo sie ihm am liebsten Augen eingesetzt hätte, hinten, da fürchtete sie, möchte er sich oft wehe daran tun; zuletzt brachte sie noch ein Paar Augen in seinem Nacken an, und wir müssen ihr eingestehn, daß diese Erfindung nicht ganz zu verachten gewesen sei. So fröhlich und ernstlich zugleich begann sie dies Werk, ein Wesen zu schaffen, das, wie der Mensch seinen Schöpfer, bis an sein Ende sie betrüben sollte; selbstzufrieden wie ein junger Künstler, dem alles über Erwartung glückt, besah sie ihr kleines, unförmliches Ungeheuer und verbarg es in einer zierlichen Wiege, die sie im Hause vorgefunden, wohlbedeckt mit Betten, entschlossen, selbst gegen die alte Braka dies als das erste Geheimnis ihres Lebens zu bewahren.

Braka, die sich am andern Abende durch ihr verabredetes Katzengeschrei kund machte, merkte doch an ihr eine Veränderung und fragte listig nach allen Seiten, insbesondre als sie den schwarzen Hund nicht mehr bemerkte: „Gott sei gelobt, ist der Hund fort! wie ist's gekommen? Ich hätte den infamen Köter längst tot gemacht, wenn ich gedurft hätte; aber da er vom Vater hinterlassen war, so durft' ich nicht; einmal hatte ich ihn doch schon im Sack und wollte ihn ersäufen, da biß er mich aber beim Aufheben des Sacks so scharf in die Hände, daß ich ihn mit dem Sack laufen ließ: nun sag, Kind, wie hast du es angefangen, ihn über die Seite zu schaffen?“


Bella sah seitwärts auf ihre Arbeit nieder, sie schälte Äpfel und erzählte recht umständlich, wie sie nachts im Garten gewesen, wie ein schäumender Hund dort gegen sie angerannt sei, wie sich ihr schwarzer Simson auf ihn gestürzt und beide einander so grausam zerzaust und herumgerissen, bis der fremde Hund sich geflüchtet hätte, worauf der Simson lahm und blutend ihm nachgelaufen und seit der Zeit von ihr nicht wieder gesehen worden sei, vielleicht weil er gefühlt, daß er toll werde, und sie nicht habe verletzen wollen. Eine recht rührende Erfindung! Bella hatte sie so wahrscheinlich vorgetragen, ungeachtet es ihre erste Lüge war, daß Braka beruhigt war und sich in Verwunderung über das treue Tier und über das große Unglück, dem sie entgangen, ausließ. Nun hatte Bella Mut, ihr alles einzubilden, was sie künftig von ihrem Wurzelmännchen zu sagen nötig finden würde; doch wartete sie ungeduldig, daß die Alte ginge, denn sie fühlte eine rechte Unruhe, ob noch nichts Lebendiges an ihm wahrzunehmen sei.

Nachdem die Alte ihr Zwiebelgericht, das sie sich bereitet, ausgetunkt hatte, ging sie endlich von dannen. Bella schloß die Türe und eilte zu ihrer heimlichen Wiege; zagend deckte sie auf und freudig sah sie schon die keimende Hirse auf dem Scheitel des Wurzelmännleins, auch die Wacholderkerne hatten sich schon angezogen; es war überhaupt ein Bewegen innerlich in dem kleinen Wesen, wie frühlings im Acker beim ersten heißen Sonnenscheine nach dem Regen, es wächst noch nichts, aber die Erde trennt sich und lockert sich, und wie die Sonnenblicke alles fördernd umgehen, so regte sie küssend alle Kräfte der geheimnisvollen Natur auf. Erst nach später Ermüdung entschloß sie sich, neben ihrem Kleinod schlafen zu gehen, ihre Hand aber ließ sie auf der Wiege ruhen, daß es ihr nicht entführt werden könnte. Was wundern wir uns über ihre sonderbare Neigung zu der halbmenschlichen Gestalt, nachdem sie zu dem schönen Fürstensohne so ausschließliche Neigung gezeigt hatte; es ist das Heiligste, diese Anhänglichkeit an alles, was wir schaffen, und ruft uns, während wir vor den Häßlichkeiten der Welt und unsren eignen erschrecken, die Worte der Bibel in die Seele: Also hat Gott die von ihm geschaffene Welt geliebet, daß er ihr seinen eingebornen Sohn gesendet hat. O Welt, bilde dich schöner aus, daß du dieser Gnade würdig werdest. Vergessen war in ihr aller Eigennutz, wie sie sich durch den kleinen Wundermann zu ihrem geliebten Prinzen wollte hintragen lassen; dieses Wunderkind, in Gefahr errungen, füllte jetzt alle ihre Gedanken, von ihm träumte sie, aber ihre Träume waren nicht glücklich; sie sah den vergessenen Fürstensohn vor sich, wie er im Wettstreite mit andern das zierliche Pfeilspiel der Spanier übte, worin sie durch die Stärke und Schnelligkeit des Wurfs sowohl wie durch die geschickte Wendung der Pferde einander zu necken und zu übervorteilen suchen, aber der Prinz siegte über alle, seine Pferde rissen Sterne vom Himmel und warfen sie wie zierlichen Schmuck ihr auf die Brust. Die meisten dieser Sterne verlöschen, einer aber bebte in tiefem Lichte auf der Mitte ihrer Brust; und sie sah immer tiefer hinein, unendlich tiefer und konnte sich nicht satt sehen, und darüber erwachte sie. Kaum war sie erwacht, so wußte sie nicht mehr, nach wem sie sich so eifrig gesehnt hatte; ihr war es, als sei es der kleine Wurzelmann gewesen, den sie mit lautem Jubel begrüßte, als er ihr ganz vernehmlich wie ein kleines Kind entgegenwimmerte, mit runden schwarzen Augen sie ansah, als wollten sie ihm aus dem Kopf herausfallen; sein gelbfaltiges Gesicht schien entgegengesetzte Menschenalter zu vereinigen, und die Hirse auf seinem Kopfe hatte sich schon zu borstigen Locken vereinigt, so auch, was auf seinen Körper von den Hirsekörnern heruntergefallen war. Bella meinte, er schreie nach Essen, und war in großer Verlegenheit, was sie ihm geben sollte, wo sollte sie Milch hernehmen? Sie bedachte sich lange; endlich gedachte sie der Katze, die auf dem Boden gejungt hatte, ein Jubel war ihr diese Erfindung; die Jungen wurden heruntergeholt und zu dem Wurzelmännlein, das sie schon spöttisch ansah, in die Wiege gelegt; die Katze ernährte jetzt willig ihn mit den übrigen Jungen, und die kleinen Blindgebornen duldeten es, daß der nach allen Seiten sehende Fremdling ihnen voraus, ohne daß es die Alte merkte, die mütterliche Vorsehung aussog. Bald kniend, bald auf den Knien hockend konnte Bella stundenlang diesen Listen ihres Männleins zusehen; wo er die andern überlistete, schien es ihr hohe Überlegenheit, wo er sich feig vor ihren Tatzen zurückzog, Schonung und Klugheit; nichts machte aber dem Mädchen so viel Freude an ihm wie die Augen im Nacken. Schon verstand er sie damit, wenn sie ihm winkte, wo eines der Kätzchen von dem Zitzen heruntergefallen war, und legte sich vor, bis er auch daran kommen konnte. Ihre Zuneigung wuchs so schnell, daß sie sich aber jeden Tropfen Milch kränkte, der von den eingebornen Jungen dem Fremdlinge entzogen wurde, daß sie lange mit sich kämpfte, aber endlich nicht widerstehen konnte, eines dieser Jungen heimlich fortzutragen und nahe am Bach ins Gras zu legen. Dann floh sie schnell, damit es ihr nicht folgte, sie war aber kaum einige Schritte gelaufen, so hörte sie etwas ins Wasser einplumpen, sie mußte ihre Augen hinwenden und sah, wie der Strom die kleine, blinde Katze forttrug. Das jammerte ihr, sie gedachte ihres unschuldigen Vaters, der denselben Weg gezogen, sie hätte nachspringen mögen, doch blieb sie am Ufer stehen und fühlte, daß sie gesündigt; der Himmel ward dunkel über ihr, die Erde frostig unter ihr und die Luft unstet um sie her; sie schlich ins Haus und weinte. Und als der kleine Wurzelmann mit den Augen im Nacken dies ersah, fing er an der Brust der Katze laut zu lachen an, daß die Katze aufsprang und eins der Jungen mit sich fortzog, das sich ihr in Angst angebissen hatte. Jetzt war das Wurzelmännchen auch so mutwillig geworden, daß es sich nicht viel um die milde Nahrung der Milch kümmerte, zwar sah es schon aus wie ein altes Männlein, das zum Kinde zusammengeschrumpft war, aber es hatte noch alle Unarten der kleinsten Kinder dabei. Gerade weil es sah, daß Bella über den kleinen Mord mit ihm zürnte, drängte es sich immer mehr zu ihr, und schlagen konnte sie es nicht, und was sollte sie da tun, als es küssen und ihm den Willen lassen, der sich durch Hingreifen nach allerlei Wurzeln zeigte, die nicht von ihrem Vater her im Zimmer so umherlagen, sondern von der alten Braka bei ihrer Mauserei aus Unkenntnis weggeworfen waren. Kaum hatte das Männlein eine Springwurzel genossen, so fing es an so lächerlich über Tisch und Stuhl, kopfüber, kopfunter zu springen, daß Bella in Angst die Augen wegwenden mußte und ihm ängstlich wie ein Huhn dem ausgebrüteten Entchen nachlief und nachsah, wie sie ihn nirgend fassen und erreichen konnte. Listig wußte er bald an allen Ecken aufzusuchen, was ihm diente, so fand er bald auch die Sprechwurzel, welche die grünen Papageien vom höchsten Gipfel des Chimborasso in die Ebenen bringen, wo sie die Baumschlangen von ihnen gegen Äpfel eintauschen, die am verbotnen Baume gewachsen; wer sie aber den Schlangen abjagt, das kann allein der Teufel, und sie von dem zu bekommen, ist schwer und hat schon manchen ehrlichen Erzieher in Verlegenheit gesetzt. Als er diese ekelhafte Wurzel gierig genossen, sprang er auf einen Ofen, und wie ein Vogel, dem die beschnittnen Flügel wiedergewachsen, zur Verwunderung seines Herrn plötzlich empor auf den Baum vor dem Fenster fliegt und erst spottend sein Lied pfeift, das er von ihm gelernt, eh er sich von ihm fort im wilden Natursang durch die Luft schwingt, so waren die ersten Worte des Männleins ein spottendes Wiederholen ihrer Lehren: „Sei artig, sei gut, sei stille!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Isabella von Ägypten