Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung

Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus der Gegenwart und Jüngstvergangenheit nach eigenen Erlebnissen von
Autor: Friedländer, Hugo (1855-1920) deutscher Journalist und Gerichtsreporter, Erscheinungsjahr: 1914
Themenbereiche
Einleitung zum Prozess Rosengart vom 23. bis 30. März 1899 vor dem Schwurgericht zu Königsberg, Pr.

Die Trunksucht und die Geschlechtskrankheiten sind zweifellos die größten Geißeln der Menschheit. Die Fortschritte der ärztlichen Wissenschaft sowie der allgemeinen Kultur haben glücklicherweise eine ganz wesentliche Verminderung dieser Menschheitsplagen bewirkt. Die großartige Entdeckung des Professors Ehrlich und die Arbeiten der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten dürften allmählich zur Steuerung der Geschlechtskrankheiten beitragen. Die Zahl der Trunkenbolde hat sich auch, dank dem Fortschritt der Kultur, ganz wesentlich vermindert.

Kaiser Wilhelm II.

hat wiederholt zur Mäßigung im Trinken ermahnt. Soweit mir bekannt, hat bereits Kaiser Friedrich als Kronprinz es veranlasst, daß den Soldaten auf den Märschen anstatt, wie bis dahin, Schnaps, Kaffee in den Feldflaschen mitgegeben wird. Sehr viel dürften auch zur Verminderung der Trunksucht die vielen Abstinentenvereine, die sich immer mehr vermehrenden Lokale, in denen nur alkoholfreie Getränke verabreicht werden, die Gesellschaften zur Bekämpfung der Trunksucht und nicht in letzter Linie der sozialdemokratische Schnaps-Boykott,

der auf dem 1909 in Leipzig stattgefundenen Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands beschlossen wurde, beigetragen haben. Allein diese Übel, die an dem Mark des Volkes zehren, solange es Geschichte gibt, die zur geistigen und körperlichen Zerrüttung ganzer Geschlechter führen, sind noch lange nicht beseitigt. Die weitaus große Mehrheit der Geisteskrankheiten entstehen durch Syphilis und Trunksucht. Auch die große Mehrheit der Verbrechen sind auf Trunksucht zurückzuführen. Wie viele Existenzen diese zwei Plagen vernichtet haben, wie verheerend sie auf das Ehe- und Familienleben und auf die Nachkommen gewirkt haben, ist naturgemäß auch nicht annähernd festzustellen. Dass die Trunksucht an den Türen der Wohlhabenden nicht halt macht, bewies das Drama, das sich vom 23. bis 30. März 1899 vor dem Schwurgericht zu Königsberg, Preußen, unter der größten Spannung fast der ganzen Kulturwelt, entrollte. Auf der Anklagebank saß eine hübsche, elegante und „schick“ gekleidete Frau von 38 1/2 Jahren, Besitzerin zweier Rittergüter, unter der Beschuldigung, ihren inzwischen verstorbenen Wirtschaftsinspektor angestiftet zu haben,
ihren Mann zu erschießen.

Justizrat Dr. Sello-Berlin