Vorwort

Jetzt setzte der Reisende die eigenen Füße in Bewegung, wanderte landeinwärts und übersah von einem Hügel aus die Gegend. Er musste sich gestehen, die Landschaft hatte, wohin er auch blickte, viel Abwechselung, überall einen interessanten Hintergrund, wenn auch der Vordergrund nur aus Heidehöhen und Schluchten bestand, und es fehlten der Gegend, um schön zu sein, eigentlich nur Bäume. Eine mit Häusern zahlreich bedeckte grüne Halbinsel ragte nach Südost in das innere Wattenmeer hinaus und endete mit einem ziemlich hohen, vielfarbigen Vorgebirge, dem Morsumkliff. Auf der bräunlich grünen Ebene im Südwest und Westen lagen ebenfalls eine Menge freundlicher Wohnungen umhergestreut, geschützt gegen das Meer durch eine Kette hoher, gebirgsähnlicher Dünen in allerlei Formen und Farben. Dieses Dünengebirge schien sich im Süden auf der Landzunge Hörnum ins Unendliche zu verlieren. Ein ähnliches, noch großartigeres Dünenchaos bedeckte das Listland im Norden und Nordost jenseits der näheren Heidehöhen und Dörfer im Nordwest. Im Osten lag die Meeresbucht bei Munkmarsch und Keitum mit ihren segelnden und ankernden Schiffen und Booten fast zu seinen Füßen. Über dieselbe hinweg am Horizont entdeckte er viele einzelne Punkte des Festlandes. Im fernen Süden überschaute er ebenfalls eine bedeutende Meeresbucht und jenseits derselben die Inseln Föhr und Amrum. Selbst das große offene Meer, die Nordsee, im Westen der Insel ließ auf seinem Standpunkte, wenn auch nicht sich sehen, so doch, wie freilich überall auf der Insel, durch das donnerähnliche Getöse der Brandung sich hören. Er blieb lange auf einem Grabhügel, der — Gott weiß, welches altfriesischen Seehelden Asche bergen mochte, in Betrachtung der eigentümlichen Insellandschaft und in Gedanken darüber vertieft, stehen. Endlich brach er wieder auf, wanderte weiter und kam bald darauf bei der stattlichen, hochliegenden Keitumer Kirche vorbei in das große volkreiche Dorf Keitum. Er fand die Häuser daselbst geschmackvoll und regelmäßig gebaut, mit hohen Giebeln und Schornsteinen, blanken Fenstern und grün angestrichenen Toren versehen, von hübschen Gärten und steinernen Gartenmauern umgeben, und Alles reinlich und wohl unterhalten. Er fand die Einwohner offen und zuvorkommend, viele gastfrei und gebildet, namentlich solche, die als Kapitäne auf großen Schiffen sich nicht bloß Geld, sondern auch Welt- und Menschenkenntnis gesammelt hatten; alle aber schienen gesund und wohlgekleidet zu sein. Auch das Innere der Häuser entsprach dem Äußern derselben, es war reinlich und gemütlich, wenn auch in mancher Hinsicht etwas eigentümlich. Der leidige Tee- und Kaffeepunsch, mit dem man in den Wirtshäusern des schleswigschen Festlandes seinen hungernden Magen zu beruhigen gesucht hatte, schien hier fremd, mindestens nicht wie dort im Gebrauch zu sein. Je mehr er das Land und die Leute kennen lernte, desto mehr gefielen ihm beide.

Als er seine Geschäfte, wegen welcher er seine Reise nach Sylt unternommen, beendigt hatte, trennte er sich nur ungern wieder von der gastlichen Insel, und konnte nicht umhin, zuvor noch eine Wanderung nach den westlichen Gegenden der Insel zu machen, teils, um das eigentümliche Sylter Dünengebirge näher kennen zu lernen, teils, um das offene große Meer, dessen Brandungswellen er immerwährend hörte, zu sehen und zu bewundern. Er verglich die Sylter Dünen ungeachtet ihrer Kleinheit und ihres lockern, beweglichen Inhaltes mit den Schweizer Alpen, fand namentlich in den Formen, Farben und Abwechselungen beider viel Ähnlichkeit, als er die Dünen näher betrachtet hatte.


Vor dem gewaltigen Meere aber blieb er stehen voll Ehrfurcht und Bewunderung. Er blieb lange im Anschauen und in Gedanken versunken über die Größe und Majestät desselben und dessen wunderbares Wellenspiel an dem westlichen Sandufer der Insel. Er zog wie unwillkürlich den Hut von dem Haupte, entblößte seine Brust und zuletzt den ganzen Leib; ließ sich von der frischen, kühlen und doch so sanften Seeluft anwehen und atmete sie mit nie gekanntem Wohlbehagen ein. Er breitete die Arme aus und stürzte sich — er konnte es nicht lassen — endlich wie zur Umarmung der Brandung ins Meer. Einen Augenblick verschwand er in der sich brechenden oder überstürzenden Woge; dann kam er wieder aus dem Wasser herauf. Noch eine und abermals eine gewaltige Brandungswelle überschüttete ihn mit ihrem flüssigen, aber klaren und salzreichen Inhalt. Noch einmal schwand ihm der reine sandige Grund unter den Füßen; jedoch die nächste Welle hob ihn wie im Spiel empor, trug ihn zurück auf den Strandwall und setzte ihn wieder aufs Land. Er ging wunderbar erquickt und gestärkt, wie neu geboren, aus dem Bade hervor. Er dachte, wenn irgendwo, müsste hier eine Seebade- und Heilanstalt für die schwächliche und leidende Menschheit des Inlandes angelegt werden. — Er zog, völlig zufrieden mit dem Erfolge seiner Reise nach Sylt und ausgesöhnt mit den nordschleswig’schen Heide-Ebenen, Sandwegen und Wirtschaftshäusern des Festlandes, wieder von der Insel fort nach seiner Heimat. Er gedachte noch oft der Insel Sylt und des gewaltigen Meeres bei derselben, segnete noch lange den Sylter Strand und die Brandungswellen, die ihm ein so herrliches Bad verschafft hatten.

Erst 20 Jahre später, nachdem die Bäder auf Föhr und Helgoland schon lange bekannt und benutzt waren (ersteres seit 1819, letzteres seit 1826) und nachdem manche Festländer bereits auf List, der einsamen Nordspitze Sylts, zu baden angefangen, jedoch auch andere, z. B. der König Christian VIII. im August 1842, und einzelne Kranke und Gelähmte die Heilkraft der Nordsee bei Westerland um 1855 und 1856 mit gutem Erfolge geprüft hatten, begann man im Allgemeinen, an den vortrefflichen Badestrand und Wellenschlag bei Westerland auf Sylt zu denken, und im Jahre 1857 wurden von dortigen Eingesessenen die ersten nötigen Vorkehrungen getroffen, teils zur Aufnahme und Bewirtung fremder Badegäste, teils für die Sicherheit und Bequemlichkeit derselben beim Baden.

Dr. med. G. Ross aus Altona, der sich um die Gründung und erste Einrichtung des Seebades zu Westerland ebenfalls nicht geringe Verdienste erworben hat, schreibt unter anderm darüber: „Die Strandverhältnisse sind der Hauptvorzug des Sylter Bades. Man kann zu allen Tageszeiten baden, bei jeder Wasserhöhe, und zwar tragen die Bäder bei hohem und niedrigem Wasser einen so verschiedenen Charakter, dass binnen wenigen Stunden die Starken wie die Schwachen das ihnen gerade zusagende Bad finden.“ Er sagt an einer andern Stelle seiner kleinen Schrift „Das Nordseebad Westerland auf der Insel Sylt“: „Wegen der Beschaffenheit des Strandes kann der Badende nicht mit der Karre in das Wasser hinein, sondern nur an dasselbe hinan gefahren werden, er muss hinein gehen und tritt durch die äußerste Brandung gleich in eine mehrere Fuß tiefe Grube. Hier überlässt man sich dem Spiele der Wellen, die mit solcher Macht anrollen, dass man sie mit vorgebeugtem Körper empfängt, um sie sich über uns brechen zu lassen.“

Im Jahre 1558 ließen die Unternehmer der neuen Badeanstalt zu Westerland mit bedeutendem Kostenaufwande ein ansehnliches Gebäude, eine Badewirtschaft mit Speisesaal, Lese- und Billardstuben, aufführen, und jetzt 1859 wird schon ein zweites ähnliches Lokal, jedoch in größerer Nähe des Strandes als das erste, gebaut, da die zahlreiche Frequenz des neuen Seebades im zweiten Jahre seiner Entstehung einen solchen Neubau nicht bloß wünschenswert, sondern bereits notwendig erscheinen ließ.

Was nun die Verbindungsmittel der Insel Sylt mit dem Festlande des Herzogtums Schleswig und die Verkehrsstraßen dieses Herzogtums mit dem Süden betrifft, so hat sich in dieser Hinsicht zur großen Bequemlichkeit und Befriedigung der von Deutschland etwa nach Sylt reisenden Badegäste Vieles in den letzten Jahren zum Bessern gewendet. Man fahrt jetzt, ohne Flensburg oder Tondern zu berühren, auf der Eisenbahn über Rendsburg nach Husum, einer Stadt im südwestlichen Schleswig, besteigt als dann ein Dampfschiff und fährt vermittelst desselben anf dem ruhigen, gefahrlosen Wattenmeere zwischen den interessanten friesischen Inseln Nordstrand, Pellworm und Föhr und vielen kleinen Halligen hindurch in wenigen Stunden, während einer Flutzeit, nach der Insel Sylt, der größten und merkwürdigsten dieser Inselgruppe. Da aber oie bisherige Dampfschifffahrtsverbindung zwischen Husum, Föhr und Sylt und namentlich die Landung der Reisenden an der unbewohnten, von dem Badeorte Westerland sehr entfernten, gegen Wind und Meeresströmung schlecht geschützten Ostspitze der Insel Sylt nicht mehr genügend schienen, so ist jetzt für die Anschaffung eines neuen Dampfschiffes, welches künftig die Reisenden und Badegäste von und nach Husum, Wyck, Munkmarsch oder Keitum und Hoyer regelmäßig befördern wird, hauptsächlich durch die Bemühungen des Schiffskapitäns A. Andersen in Keitum, gesorgt worden.

Was mich aber veranlasste, das vorliegende Büchlein zu schreiben? — Nun, ich will es Ihnen gern gestehen: ich bin weder Teilhaber an der hiesigen Badeanstalt, noch an einer Dampfschifffahrtsunternehmung; aber ich bin mehrfach, sowohl von Badenden als von Besitzern des hiesigen Bades, und namentlich auch von dem vorerwähnten Herrn Dr. Ross aufgefordert worden, zur Beförderung der jungen Heilanstalt und mithin des gemeinen Wohles in meiner Weise durch eine kleine Schrift über Sylt und das Sylter Seebad beizutragen. Ich vereinigte mich denn mit Dr. Ross und einem andern gelehrten Herrn wegen der Ausarbeitung einer größeren Schrift über die Insel Sylt und das Seebad zu Westerland. Wir hatten uns bereits in die Arbeit geteilt (mir waren die Sagen, sowie der geschichtliche und statistische Teil der Arbeit zugefallen); ich hatte mein Pensum bereits fertig: da wurde leider Dr. Ross krank, er musste seinen Anteil an der Arbeit aufgeben, und das Unternehmen der gemeinsamen Anfertigung einer größeren Schrift über Sylt scheiterte mithin. — Ich sah mich daher veranlasst, meine Arbeit noch einmal durchzusehen, sie hin und wieder zu ergänzen und sie dann als ein selbständiges Büchlein der Welt zu übergeben. Möge sie nicht ohne Nutzen bleiben!
Keitum auf Sylt, im Mai 1859.
Der Verfasser.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Insel Sylt wie sie war und wie sie ist