In den Schluchten des Balkan

Hausschatzsammlung
Autor: Karl May (1842-1912), Erscheinungsjahr: 1892
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Auszug

Noch nicht lange waren wir geritten, als wir Hufschlag hinter uns vernahmen. Wir wendeten uns um und erblickten einen Reiter, welcher uns im Galopp einzuholen trachtete. Wir zügelten also unsere Thiere, um ihn heran zu lassen, und erkannten bald Malhem, den Thürhüter Hulam's. Er ritt ein schwer bepacktes Pferd, von welchem er herabsprang, als er uns erreicht hatte.

„Sallam!“ grüßte er kurz.

Wir gaben ihm diesen Gruß zurück, und auf unsere fragend auf ihn gerichteten Blicke erklärte er mir:

„Verzeihe, Effendi, daß ich Euern eiligen Ritt unterbreche! Mein Herr gebot mir, Euch zu folgen.“

„Weßhalb?“ fragte ich.

„Um Euch dieses Pferd zu bringen.“

„Was hast Du aufgeladen?“

„Proviant und andere nothwendige Dinge, die Ihr vielleicht nothwendig brauchen werdet.“

„Wir sind bereits für mehrere Tage versehen!“

„Mein Herr glaubte an die Möglichkeit, daß diejenigen, welche Ihr verfolgt, von der Straße abweichen könnten. Wenn sie sich in die Berge schlagen, so findet Ihr nur Futter für die Pferde, für Euch aber nichts.“

„Dein Herr ist sehr gütig; aber dieses schwer bepackte Pferd ist doch nur geeignet, unsern Ritt zu verlangsamen.“

„Ich habe es Euch gebracht; ich muß gehorchen; ich kann nicht anders. Warin saghlik ile Allah jol atschliklighi – bleibt gesund; Allah gebe Euch eine gute Reise!“

Bei diesen Worten warf er dem Pferd die Zügel über den Hals, wendete sich um und rannte eiligen Laufes davon, nach der Stadt zurück.

Sofort drehte Halef sein Pferd herum, der Stadt entgegen und fragte:

„Soll ich ihm nach, Effendi?“

„Wozu?“

„Ihn festnehmen und herbringen, damit er Deinen Willen erfährt?“

„Nein, laß ihn gehen. Wir haben keine Zeit zu versäumen.“

„Was wird da in den Decken und Matten verpackt sein?“

„Das brauchen wir jetzt nicht zu wissen. Wir werden nachsehen, wenn es Abend geworden ist und wir wegen der Dunkelheit nicht weiter reiten können. Nimm Du das Pferd am Zügel. Vorwärts wieder!“

Der unterbrochene Ritt wurde fortgesetzt. Ich ritt voran, und die Andern folgten. Es geschah dies aus dem Grunde, weil ich nach Spuren suchen mußte, obgleich es kaum denkbar war, daß solche zu finden seien.

Der Weg war, obgleich keine Straße zu nennen, doch leidlich belebt. Der kleine Hadschi hatte ganz Recht gehabt, als er sagte, daß hier die Fährte eines Verfolgten nicht so leicht zu entdecken sei, als in der Sahara.

Darum richtete ich mein Augenmerk auch nicht auf den Weg selbst, sondern auf den Rand desselben, welcher dem Flußufer entgegen lag. So lange ich nicht die Spuren fand, daß drei Reiter von der Richtung, welche wir verfolgten, abgewichen seien, konnte ich ziemlich sicher sein, daß wir die Verfolgten vor uns hatten.

Es begegneten uns Reiter, schwerfällige Wagen und Fußgänger, doch richtete ich an Niemand eine Frage. Da die Flüchtigen bereits am vorigen Abend hier geritten waren, konnte Keiner der uns Begegnenden sie getroffen haben.

Auch an den kleinen Häusergruppen, welche wir passirten, hielt ich nicht an, da hier keine Wege abzweigten, welche Barud el Amasat hätte einschlagen können. Aber als wir eine kleine Ortschaft erreichten, Bukiöj genannt, von welcher einige Pfade zur Seite liefen, hielt ich an und fragte den Ersten, den ich traf:

„Sallam! Gibt es in diesem Ort, den Allah segnen möge, vielleicht einen Bekdschi?“ 1)

Der Gefragte trug einen riesigen Sarras an der Seite, einen fürchterlichen Knüppel in der Rechten, hatte über den Fez ein Tuch geschlagen, welches früher jedenfalls eine Farbe gehabt hatte, jetzt aber nur so vom Schmutz starrte, und ging – barfuß. Er betrachtete mich eine ganze Weile und schickte sich dann an, diese eingehende Beobachtung auch über die Andern ergehen zu lassen.

„Nun?“ bemerkte ich ungeduldig.

„Sabr, sabr – Geduld, nur Geduld!“ antwortete er.

Er stützte sich auf seinen Stock und begann die Gestalt des kleinen Hadschi einer eingehenden Besichtigung zu unterwerfen. Halef Omar aber langte mit der Hand nach den Sattelösen, zog seine Peitsche hervor und fragte:

„Kennst Du vielleicht dieses Ding hier?“

Der Gefragte warf sich in Positur, griff an den Säbel und antwortete:

„Kennst Du dieses hier, Kleiner?“

Kleiner! Kein anderes Wort hätte Halef Omar so wie dieses beleidigen können. Er holte zum Schlage aus; ich aber drängte rasch mein Pferd zwischen ihn und den Bedrohten und warnte:

„Keine Übereilung, Halef! Dieser Mann wird mir meine Frage schon beantworten.“

Ich zog einige kleine Münze aus der Tasche, zeigte sie dem Sarrasträger und wiederholte:

„Also, gibt es hier einen Bekdschi?“

„Gibst Du mir das Geld?“ fragte er.

„Ja.“

„So her damit!“

Er streckte die Hand aus.

„Erst die Antwort!“

„Ja, es gibt einen Bekdschi. Nun aber gib mir das Geld!“

Es waren nur einige kupferne Parastücke.

„Hier hast Du!“ sagte ich. „Wo wohnt der Bekdschi?“

Er steckte das Geld ein, zuckte die Achsel und fragte dabei grinsend:

„Bezahlst Du auch diese Frage?“

„Du bist bereits bezahlt!“

„Für die erste, aber nicht für die zweite.“

„Gut, hier hast Du noch zwei Fünfparastücke! Also, wo wohnt der Bekdschi?“

„Dort im letzten Hause,“ antwortete der Mann nach einem Bauwerke deutend, welches er zwar Haus nannte, das aber nicht einmal die Bezeichnung Hütte, sondern nur den Namen Stall verdiente.

Wir setzten uns nach der angegebenen Richtung in Bewegung. Als wir die baufällige, einstöckige Wohnung erreichten, stieg ich vom Pferd, um an das Loch zu treten, welches als einziger Ein- und Ausgang diente. In diesem Augenblick aber trat eine Frau heraus, welche durch den Hufschlag unserer Pferde hervorgelockt worden war.

„O jazik! Atsch gözünü – o wehe! Nimm Dich in Acht!“ rief sie und trat eiligst zurück.

Ihr Gesicht war nämlich nicht verschleiert gewesen, woran allerdings nicht wir die Schuld trugen. Auch sie war barfuß. Ihr Körper war in ein altes zerfetztes Tuch gehüllt, und ihr Haar hatte ganz das Aussehen, als ob ihr Scheitel eine Filzmanufaktur im Kleinen sei. Wasser war jedenfalls seit Monaten nicht an ihr Gesicht gekommen.

Ich glaubte beinahe, daß sie sich nicht wiedersehen lassen werde; aber nach einigen ungeduldigen Ausrufen meinerseits kam sie doch wieder zum Vorschein. Sie hielt den Boden eines zerbrochenen Korbes vor ihr Gesicht. Durch die Ritzen des alten Weidengeflechtes konnte sie uns sehen, ohne daß es uns möglich war, uns an ihrer Schönheit zu weiden.

„Was wollt Ihr?“ fragte sie.

„Hier wohnt der Bekdschi?“ mußte ich abermals fragen.

„Ja.“

„Du bist sein Weib?“

„Ich bin sein einziges Weib,“ antwortete sie stolz, um anzudeuten, daß sie das Herz ihres mitternächtlichen Pascha's ganz allein besitze.

„Ist er daheim?“

„Nein!“

„Wo befindet er sich?“

„Er ist ausgegangen.“

„Wohin?“

„Auf die Wege seines Amtes.“

„Es ist ja doch jetzt nicht Nacht!“

„Er wacht nicht nur des Nachts, sondern auch am Tage über die Unterthanen des Padischah. Er ist nicht bloß Bekdschi, sondern auch Diener des Kiaja, dessen Befehle er auszuführen hat.“

Kiaja ist Ortsvorsteher. Da fiel mir der Mann ein, mit dem wir vorhin gesprochen hatten. Ich drehte mich um, und richtig, da kam er langsam und stolz auf uns zugeschritten.

Das war mir denn doch zu viel. Ich schnitt die finsterste Miene und trat ihm einige Schritte entgegen.

„Du selbst bist der Bekdschi?“ fragte ich ihn.

„Ja,“ antwortete er in einem höchst selbstbewußten Tone.

Hadschi Halef Omar bemerkte, daß ich nicht mehr guter Laune sei, und lenkte sein Pferd hart an den Wächter der Nacht und des Tages heran, mich fest dabei im Auge haltend. Ich wußte, was er wollte, und nickte ihm bejahend zu.

„Warum sagtest Du das nicht gleich, als ich vorhin mit Dir sprach?“ fragte ich.

„Ich habe es nicht nöthig. Hast Du noch Geld?“

„Genug für Dich. Da, ich will Dich für alle weiteren Fragen gleich vorausbezahlen.“

Ein Wink von mir, und die Peitsche des kleinen Hadschi klatschte auf den Rücken des Wächters der Unterthanen des Padischah hernieder. Er wollte zurückspringen, aber der kleine Hadschi hatte sein Pferd so sicher zwischen den Schenkeln, daß er den Mann an die Wand drängte und immer neue Hiebe fallen ließ.

Der Gezüchtigte dachte gar nicht daran, von seinem Sarras oder Knüttel Gebrauch zu machen. Er schrie in allen möglichen Tonarten und sein ‚einziges‘ Weib stimmte ein. Dabei vergaß sie, den Boden des Korbes vor dem Gesicht zu behalten; sie warf vielmehr diesen Bewahrer ihrer weiblichen Würde weit von sich, sprang zum Pferde des Hadschi, faßte dieses am Schwanz, zerrte aus Leibeskräften und schrie dabei:

„Wai baschina, Wai baschina! Wehe Dir, wehe Dir! Wie kannst Du den Diener und Liebling des Padischah beleidigen? Zurück, zurück! Bre bre, he he – zu Hülfe, zu Hülfe!“

Auf diese mit kreischender Stimme ausgestoßenen Rufe wurde es vor den Thüren der Häuser und Hütten lebendig. Männer, Frauen und Kinder eilten heraus und herbei, um nach der Ursache dieses Geschreies zu forschen.

Ich gab Halef einen Wink, abzulassen, und er gehorchte. Der Nachtwächter mochte zehn bis zwölf kräftige Streiche erhalten haben. Er ließ den Knüttel aus der Rechten fallen, zog den Säbel aus der Scheide und rief, indem er sich mit der Linken den Rücken rieb:

„Mensch! Was hast Du gewagt! Soll ich Dich um ein Haupt kürzer machen? Ich werde die ganze Gemeinde gegen Dich hetzen und Dich von ihr zerreißen lassen!“

Halef nickte lachend. Er wollte Etwas antworten, kam aber nicht dazu, denn ein Mann drängte sich durch das Publikum und wendete sich mit der barschen Frage an mich:

„Was geht hier vor? Wer seid Ihr?“

Jedenfalls hatte ich den hohen Herrn Ortsvorsteher vor mir, dennoch fragte ich:

„Wer bist denn Du?“

„Ich bin der Kiaja dieses Dorfes. Wer gibt Euch das Recht, Euch an meinem Khawassen zu vergreifen?“

„Sein Verhalten gibt uns das Recht.“

„Wie so?“

„Ich forderte Auskunft von ihm, und er verweigerte sie mir. Er verlangt, daß ich ihm eine jede Antwort einzeln bezahle.“

„Er kann seine Antworten verkaufen, so theuer er nur immer will.“

„Und ich kann sie bezahlen, so hoch es mir beliebt. Jetzt hat er den Lohn voraus, und nun wird er mir antworten müssen.“

„Kein Wort!“ rief der Wächter.

„Kein Wort wird er antworten,“ bestätigte der Kiaja. „Ihr habt Euch an meinem Diener vergriffen. Folgt mir augenblicklich! Ich werde die Sache untersuchen, und Ihr sollt Eure Strafe finden!“

Da zeigte der kleine Hadschi die Peitsche und fragte:

„Effendi, soll ich diesem Kiaja von Bukiöj diese schöne Haut des Nilpferdes auch zu kosten geben?“

„Jetzt nicht, vielleicht aber später,“ antwortete ich.

„Was, Hund, mich willst Du peitschen lassen?“ schrie der Ortsvorsteher.

„Vielleicht ja,“ antwortete ich ruhig. „Du bist der Kiaja dieses Dorfes; aber weißt Du denn, wer und was ich bin?“

Er antwortete nicht. Meine Frage schien ihm höchst ungelegen zu kommen. Ich fuhr fort:

„Du hast diesen Mann Deinen Khawassen genannt?“

„Ja, er ist es.“

„Nein, er ist es nicht. Wo ist er geboren?“

„Hier.“

„Ah so! Von wem ist er zu Dir abcommandirt worden? Er ist ein Einwohner dieses Ortes, und Du hast ihn zu Deinem Diener gemacht; aber ein Polizeisoldat ist er nicht. Da, siehe Dir einmal diese drei Reiter an, welche die Uniform des Großherrn tragen! Du hast einen Nachtwächter; ich aber habe drei wirkliche Khawassen bei mir. Ahnst Du nun, daß ich ein ganz anderer Mann bin, als Du?“

Um meinen Worten mehr Nachdruck zu geben, fuchtelte Halef ihm so vor dem Gesicht herum, daß er aus Angst zurück wich. Auch die hinter ihm stehenden Personen zogen sich zurück. Ich merkte diesen vielen Gesichtern an, daß sie begannen, mich für einen hohen Herrn zu halten.

„Nun, antworte!“ befahl ich.

„Herr, sage zuvor, wer Du bist!“ bat er.

Da fuhr Halef ihn an:

„Mensch! Wurm! Wie kannst Du verlangen, daß ein solcher Herr Dir sage, wer er ist? Aber ich will Dir in Gnaden mittheilen, daß Du vor dem hohen und edlen Hadschi Effendi Kara Ben Nemsi Bey stehst, dem Allah noch viele tausend Sommer geben möge, die Winter gar nicht mitgezählt. Ich hoffe, daß Du schon von ihm gehört hast!“

„Nein, nie!“ betheuerte der eingeschüchterte Mann sehr der Wahrheit gemäß.

„Was? Nie?“ donnerte der Kleine ihn an. „Soll ich etwa Dein Gehirn so lange zusammendrücken lassen, bis der richtige Gedanke hervorgebracht wird. Denke nach!“

„Ja, ich habe von ihm gehört,“ bekannte der Kiaja in heller Angst.

„Etwa nur einmal?“

„Nein, sehr viele, viele Male!“

„Das ist Dein Glück, Kiaja! Ich hätte Dich gefangen genommen und nach Stambul geschickt, um Dich im Bosporus ersäufen zu lassen! Nun aber höre, was dieser erhabene Effendi und Emir Dir zu sagen hat!“

Bei diesen Worten drängte er sein Pferd von dem Bedrohten zurück. Seine Augen blitzten noch immer in scheinbarem Zorn, aber um seine Lippen zuckte es verrätherisch. Der brave Hadschi mußte sich alle Mühe geben, um nicht in ein lautes Lachen auszubrechen.

Aller Augen hingen jetzt an meinem Munde. Ich sagte zu dem Kiaja in beruhigendem Tone:

„Ich bin nicht gekommen, Euch Übles zu erweisen; aber ich bin gewöhnt, meine Fragen gehorsam und augenblicklich beantwortet zu sehen. Dieser Mann weigerte sich, mir freiwillig Auskunft zu ertheilen; er wollte Geld erpressen; darum habe ich ihn züchtigen lassen.

Es soll auf ihn selbst ankommen, ob er vielleicht gar noch die Bastonnade empfängt!“

Während ich mich dem Nachtwächter zuwendete, gab der Ortsvorsteher diesem ein hastiges Zeichen und raunte ihm zu:

„Um Allah's willen, antworte schnell!“

Der nächtliche Beschützer der Unterthanen des Padischah warf sich in eine so stramme Haltung, als ob er in mir den Beherrscher der Gläubigen vor sich sehe.

„Effendi, frage mich!“ sagte er.

„Hast Du während der letzten Nacht gewacht?“ fragte ich.

„Ja.“

„Wie lange?“

„Vom Abend bis zum Morgen.“

„Kamen Fremde in das Dorf?“

„Nein.“

„Sind keine Fremden durch das Dorf geritten?“

„Nein.“

Aber bevor er diese Antwort gab, glitt aus seinem Auge ein fragender Blick hinüber zu dem Kiaja, dessen Gesicht ich zwar nicht beobachten konnte, aber ich hatte genug gesehen und konnte dieser Antwort keinen Glauben schenken. Darum sagte ich in strengem Tone:

„Du lügst!“

„Herr, ich rede die Wahrheit!“

In diesem Augenblick drehte ich mich schnell nach dem Kiaja um und sah, daß dieser den Finger warnend an den Mund gelegt hatte. Erst hatte er dem Wächter zugeraunt, schnell zu antworten, und nun veranlaßte er ihn, zu schweigen. Das war natürlich auffällig. Ich fragte den Wächter:

„Du hast auch mit keinem Fremden gesprochen?“

„Nein.“

„Gut! Kiaja, wo ist Deine Wohnung?“

„Das Haus da drüben,“ antwortete der Gefragte.

„Du und der Bekdschi, Ihr werdet mich dort hinüber begleiten, Ihr Beide allein. Ich habe mit Euch zu sprechen.“

Ohne mich nach ihnen umzusehen, schritt ich nach dem mir bezeichneten Hause und trat in die Thüre.

Es war ganz auf bulgarische Weise gebaut und bestand nur aus einem Raum, der aber durch Weidengeflechte in mehrere Abtheilungen geschieden war. In dem vorderen Raum fand ich eine Art von Stuhl, auf den ich mich setzte.

Die beiden Genannten hatten nicht gewagt, mir zu widerstreben; sie traten daher fast unmittelbar hinter mir ein. Und durch das Mauerloch, welches als Fenster diente, bemerkte ich, daß sich draußen noch immer die Bewohner des Ortes zusammen hielten, jedoch in respektvoller Entfernung von meinen Begleitern.

Sowohl der Kiaja als auch sein Untergebener befand sich sichtlich in einer nicht beneidenswerthen Lage. Beide hatten Angst, und das mußte ich benützen.

„Bekdschi, bleibst Du auch jetzt noch bei dem, was Du mir vorhin gesagt hast?“ fragte ich.

„Ja,“ antwortete er.

„Trotzdem Du mich belogen hast?“

„Ich habe nicht gelogen!“

„Du hast gelogen, und zwar nur deßhalb, weil es der Kiaja so haben wollte.“

Das Ortsoberhaupt fuhr erschrocken auf:

„Effendi!“

„Was? Was willst Du sagen?“

„Ich habe ja zu diesem Mann kein Wort gesagt!“

„Nein, aber gewinkt hast Du ihm!“

„Nein!“

„Ich sage Euch, daß Ihr Beide lügt. Kennt Ihr das Sprichwort von dem Juden, welcher ertrank, weil er sich in den Brunnen schlafen gelegt hatte?“

„Ja.“

„Wie jenem Juden wird es auch Euch ergehen. Ihr begebt Euch in eine Gefahr, welche wie das Wasser des Brunnens über Euch zusammenfließen und Euch ersticken wird. Ich aber will Euer Unglück nicht; ich will Euch warnen. Ich rede hier mit Euch, damit Eure Untergebenen und Freunde nicht erfahren sollen, daß Ihr dennoch die Unwahrheit gesagt habt. Ihr seht, daß ich mild und freundlich mit Euch bin. Nun aber verlange ich auch, von Euch die Wahrheit zu hören!“

„Wir haben sie bereits gesagt,“ betheuerte der Kiaja.

„Es sind also während dieser Nacht nicht Fremde durch diesen Ort geritten?“

„Nein.“

„Drei Reiter?“

„Nein.“

„Auf zwei Schimmeln und einem dunklen Pferd?“

„Nein.“

„Sie haben nicht mit Euch gesprochen?“

„Wie können sie mit uns gesprochen haben, wenn sie gar nicht hier gewesen sind! Wir haben keinen Fremden gesehen.“

...



1) Nachtwächter.

Karl Friedrich May

Karl Friedrich May