Im tiefen Meeresgrunde

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1933
Autor: Dreßler, Alwin, Erscheinungsjahr: 1933

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Meer, See, Tiefsee, Fische, Aale, Ozean, Friedhöfe, Natur, Umwelt
Die großen Tiefsee-Ebenen zwischen den Kontinenten sind gewaltige Stätten des Todes, in denen sich die sterblichen Reste aller Arten Seegetier mit den unendlich vielen Opfern des Meeres und den Leichen der Landgeschöpfe, die von den Flüssen ins Meer gespült werden, vermengen. Alles Versunkene, das seit Jahrtausenden dem Meer zum Opfer fiel, liegt dort unten, zermürbt und zersetzt, zu einer breiten Schlammdecke aufgeschichtet, auf welcher der gewaltige Druck des Meerwassers lastet.

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Unablässig fällt dieser Schlamm, der aus dem Staube von Millionen und aber Millionen von großen und kleinen Organismen erzeugt wird, aus den höheren Regionen wie feiner, grauer Schnee hinab, hüllt alles gleichmäßig ein und bildet so den allergrößten Friedhof der Erde. Auf ihm breitet sich nach allen Richtungen hin ein Teppich aus, gewebt aus dem Staub alles Versunkenen, das den ewigen Todesschlaf schlummert.

Aber auch das währt nur eine gewisse Zeit, wenn auch viele Jahrtausende darüber vergehen. Wir kennen solche Friedhöfe aus der vorsintflutlichen Zeit: es sind die mächtigen Kalk- und Schiefergebirge, die einst, als das Meer noch eine andere Verteilung auf Erden hatte, sich aus dem Meeresgrunde bildeten. Sie sind emporgestiegen aus ihrer Totengruft, als die Stunde gekommen war, in welcher ein neues Schöpfungswerk, aus Schlamm und Kalk gebaut, fertig dastand.

Wir wissen aus den geologischen Forschungen, dass seit Bestehen der Weltgeschichte eine fortwährende Veränderung und Verschiebung der Meeresgrenzen stattgefunden hat und dass es keinen Ort auf der Welt gibt, der nicht schon einmal unter den Meeresfluten begraben lag. Überall da, wo jetzt Kalk-, Schiefer- und Sandsteingebirge vorhanden sind, stehen wir vor stummen Zeugen einer erdgeschichtlichen Epoche, in der das Meer einst die Gegend beherrschte und sich auf seinem tiefen Grunde die Gebirgsformationen unseres heutigen Europas bildeten.

Die Meere sind riesige Kalkwerkstätten, sie überdecken den Boden im Rollen der Zeiten mit ihrem kalkhaltigen Schlamm, verkitten alle Fugen und Ritzen der anwachsenden Korallen- und Muschelbänke und backen alles zu mächtigen Felsblöcken zusammen. Es ist nachgewiesen worden, dass sich Kalk in den Meeren umso mehr absetzt, je wärmer sie sind, und dass 30 Prozent aller Meere, das heißt über 100 Millionen Quadratkilometer, mit solchem Kalkschlamm bedeckt sind.

Nach einer Berechnung von Kapitän Collins vom nordamerikanischen Fischereiuntersuchungsdampfer „Albatros“ war im Jahre 1882 der Seeboden in der Delawarebai auf einer Fläche von 10.000 Quadratkilometer bis zu 2 Meter Höhe mit Leichen von Meerestieren bedeckt. Neuere Untersuchungen an andern Meeresstellen ergaben noch größere Resultate. Der ungeheure Meeresreichtum an Tier- und Pflanzenleben trägt zu diesen Kalkschichtbildungen bei, denn letzten Endes findet alles einmal seinen Tod und Untergang, wird zur Unkenntlichkeit zersetzt und aufgelöst und breitet sich wie ein großes Leichentuch, aus kalkhaltigem Schlamm bestehend, über dem Meeresboden aus.

Es ist bekannt, dass das Wasser umso sauerstoffärmer ist, je wärmer es ist. Warme Gewässer lassen ein Leben der Fische nicht zu und bilden für sie eine Gefahrenzone. So findet zum Beispiel an den Stellen, an denen der Golfstrom die kalten Meereszonen durchschneidet, ein ununterbrochenes Massensterben von Fischen statt, die das Leben in frischen Gewässern gewohnt sind. Unausgesetzt regnet es dort tote Fische auf den Meeresboden, und so entstehen mit der Zeit jene gewaltigen Friedhöfe des Meeres, die der kalkhaltige Schlamm zu mächtigen Kalkbänken formt.

Diese Unmassen von Meeresleichen machen keinen Fäulnisprozess durch, sondern sie zerfallen und tragen zur Schaffung mineralischer Neubildungen (Erdöl) bei, die reichen Gehalt an phosphoreszierendem Kalk aufweisen.

Nun ist ja der Meeresboden keineswegs eine ebene Fläche, sondern ungeheuer zerklüftet. Es gibt Meeresstellen, die tiefer sind, als der Mount Everest hoch ist, und es gibt Gegenden, in denen der Meeresboden durch unterseeische Beben fortwährenden Umwälzungen unterworfen ist. In solchen Hexenkesseln hebt und senkt sich der Meeresboden wie ein gärender Hefeteig. In der Gegend zwischen den Azoren und den Neufundlandbänken östlich von Neu-York, wo im Jahre 1832 rund 200 Meter Tiefe gemessen wurden, lotete man im Jahre 1858 rund 5.000 Meter; einige Jahre später stellte man die dortige Meerestiefe wieder nur mit 160 bis 200 Meter fest, und eine noch spätere Lotung eines englischen Kriegsschiffes fand bei über 3.000 Meter noch keinen Grund. Aber kaum hatte man dieses letzte Messergebnis auf der Seekarte vermerkt, da musste es schon wieder geändert werden, weil bald darauf ein anderes Schiff wieder nur knapp 150 Meter an jener Meeresstelle gemessen hatte.

Das Gesamtbild des Meeresbodens ist eine phantastische Welt steil aufragender Felsenspitzen und gewaltiger Höhenzüge, tiefer Schluchten und Senkkessel, Erdbebenrisse und Kraterwälle, wie sie uns in der Gebirgslandschaft des Mondes im Fernrohr vor Augen tritt. Nie aber wird es den Augen des Forschers vergönnt sein, in jene finsteren Meerestiefen hinabzublicken, die voller Geheimnisse und Rätsel sind. Mit unseren modernen Tauchapparaten erreichen wir nur eine Tiefe von 300 bis 400 Meter, denn einen größeren Wasserdruck halten die Apparate nicht aus. Taucher haben berichtet, dass bis zu 200 Meter Tiefe der Lichtschein der Sonne noch das Wasser durchdringt, und dass dort die Tiefseedämmerung beginnt. Weiter unten aber herrsche absolute Dunkelheit.

Umso erstaunlicher ist die Feststellung, dass in Meerestiefen von 1.500 bis 2.000 Meter noch Leben zu finden ist. Die neueren Tiefseeforschungen haben erwiesen, dass in solchen Meerestiefen, in die bisher kein Forscherauge gedrungen ist, noch ein reich gestaltetes Leben von Geschöpfen herrscht, deren Anpassungsfähigkeit an die Lichtlosigkeit und die eigenartigen Wasserdruckverhältnisse erstaunlich ist. Von den Aalen wird sogar behauptet, dass ihre Laichgründe in der Sargassosee genannten Teil des Atlantischen Ozeans in einer Tiefe von 5.000 bis 6.000 Meter liegen. Mit unfassbarer Sicherheit finden diese Tiere ihren Weg dorthin, und wie lange ihre Reise bis auf die 6.000 Meter tiefen Gründe des Meeres dauert, ist völlig unbekannt. Man veranschlagt sie auf mindestens ein Jahr. Die reifen Eier und die aus ihnen schlüpfenden jüngsten Stadien des Aales kennt man noch nicht; erst die größeren, in der Form weidenblattähnlichen Larven sind bekannt. Sie steigen aus der Tiefe empor und konnten mit feinen Netzen wiederholt in einiger Menge im Gebiet des Sargassomeeres bis zu den Bermudainseln gefangen werden. Sie sind durchsichtig wie das Wasser selbst, und hieraus erklärt sich wohl auch, dass sie dem gewaltigen Druck des Wassers standhalten können, weil sie ihm kaum einen Widerstand bieten.

Fischerboote am Strand

Fischerboote am Strand

Das Boot in der Brandung

Das Boot in der Brandung