Terror

Wäre die Welt nicht so zerrissen, daß keiner ihrer Teile mehr Gewicht in seinen Worten hat, so wäre es jetzt an der Zeit, feierlichen Protest einzulegen gegen das, was gegenwärtig in dem unglücklichen Russland geschieht. Der Augenblick wäre gekommen, die Menschheit aufzurufen gegen das Grässliche, das jetzt in allen Städten Russlands vor sich geht: die planmäßige Vernichtung einer ganzen Gesellschaftsklasse, die Zerstörung unzähliger Menschenleben, die durch tausend Fäden der Bildung und des Berufes mit den übrigen Völkern der Erde verbunden sind.

Es ist eine Bartholomäusnacht im großen, die in diesen Septembertagen ihre Todesschatten über Russland niedersenkt. Die Städte Moskau und Petersburg zittern. Nicht ein Mensch mehr in diesen Städten, der noch seines Lebens sicher wäre. Schuldige und Unschuldige, ein jeder kann, so geschieht es täglich, auf Grund eines bloßen Verdachtes, auf Grund von Listen, die beliebig zusammengestellt werden, von der Außerordentlichen Kommission gegriffen, in die überfüllten, von Schmutz und Ungeziefer wimmelnden Gefängnisse geworfen und ein paar Stunden später erschossen werden. Die Erschießungen finden meistens frühmorgens statt, beim grellen Licht der Scheinwerfer an den mit Opfern beladenen Lastautomobilen, in dem Wäldchen an der Semenowskaja Sastawa oder auf dem Chodynkafelde. Rücksichtslos requiriert man Häuser, Wohnungen und Wohnungseinrichtungen in allen Stadtvierteln. Die Räumungsbefehle prasseln in die von Kleinbürgerfamilien bewohnten Mietshäuser ebenso wie in die Häuser der Reichen an den Boulevards. Es fehlt an Fahrzeugen und Arbeitern, um die zahllosen Umzüge und Transporte zu bewerkstelligen. Ganze Familien mit kleinen Kindern verbringen die Nacht auf der Straße. Ein alter Kunstschriftsteller in meiner Bekanntschaft, zum erstenmal aus seiner eigenen Wohnung hinausgeworfen, die er seit zwanzig Jahren innehat, zum zweitenmal mit den Verwandten, zu denen er flüchtete, auf das Pflaster gesetzt, haust mit seinen mühsam geretteten Büchern, die auf dem Fußboden aufgeschichtet sind, in einem dunkeln gemieteten Hinterzimmer. In einzelnen Wohnungen beschlagnahmen die Räumungskomitees nur Klaviere, Bilder und Standuhren für ihre Klubs. Matrosenkomitees sichern sich die reichsten Häuser, deren treulose Verwalter sich durch Verrat einen Anteil an der Beute von Kunstgegenständen oder vom Inhalt der Weinkeller sichern.


Der Terror schüttelt ganz Moskau wie ein Fieber. Gewiss, er ist in erster Linie eine Ausgeburt der Rache. Die von den Bolschewiki verkündete Diktatur des Proletariats ist nach den Attentaten auf Uritzki und Lenin, nach der Enthüllung des von Engländern und Franzosen unterstützten neuen Umsturzversuches, rasch und heftig zum Massenterror gesteigert worden. Der Massenterror ist zunächst die maßlose Reaktion auf die Akte einer politischen Partei, die den Einzelterror von jeher in ihr theoretisches Programm aufgenommen hat. Die Theorie der Kommunisten fußt auf dem Satz, daß der Mensch als das Produkt der Verhältnisse zu betrachten sei; der soziale Kampf sei also mit der Absicht der radikalen Besserung der Verhältnisse zu führen. Dagegen gehört der Lehrsatz, daß die Verhältnisse das Produkt der Persönlichkeiten seien, und daß es also gelte, zunächst die verantwortlichen Persönlichkeiten auszumerzen, zum geistigen Rüstzeug der Sozialrevolutionäre. Dieser Satz und die terroristischen Folgerungen, die aus ihm gezogen werden, bildet noch heute das einigende Band zwischen den beiden, sonst miteinander verfeindeten Flügeln der Rechten und Sozialrevolutionären Linken. Alle die Attentäter der letzten Monate, die Blumkin, Donskoi, Kaplan und Kannegießer, stammen aus der Schule Sawinkows. Durch das Attentat und den Putschversuch vom 6. Juli haben die linken Sozialrevolutionäre den Versuch gemacht, Deutschland zu provozieren und die Sowjetregierung zu stürzen. Durch die Repressalien, die das Misslingen dieses Versuches begleiteten, ist die Partei der linken S.-R. gegenwärtig in drei Richtungen zersplittert, von denen die größere sich den offenen Feinden der Räteregierung angeschlossen hat, die zweite mit den Bolschewiki einen unsicheren Kompromiss schloss, die dritte an dem früheren engen Bündnis mit den Bolschewiki festhält. Von der ersten Gruppe drohen noch immer terroristische Akte sowohl gegen die deutschen Vertretungen in Russland wie gegen die Sowjetregierung. Nach dem zeitweiligen Verschwinden der linken Sozialrevolutionäre traten aber sofort die rechten S.-R. auf den Plan. Sie gebärden sich als Beauftragte der in Samara gegründeten Rumpfnationalversammlung und als offene Helfershelfer der Entente. In bolschewistischen Kreisen wird behauptet, daß der Ausbruch eines allgemeinen Pogroms der Moskauer Arbeiter gegen die Bürgerlichen nach dem Attentat auf Lenin nur an einem Faden hing. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Die Führer wissen sehr wohl, daß ein solcher Pogrom sich leicht in Szene setzen ließe, aber auch, daß niemand sein Ende voraussagen könnte. Was seit dem 1. September in Moskau geschehen ist, um den Repressalien gegen das Bürgertum eine organisierte Form zu geben, ist angeblich geschehen, um der Erregung des Proletariats ein Ventil zu geben, vielleicht aber auch, um den heißen Kessel unter Feuer zu halten, die knurrenden, unzufriedenen Volksmassen zu beschäftigen. Charakteristisch ist ein Leitartikel Radeks in der „Iswestija“ vom 6. September, in dem es heißt: „Die Arbeitermassen haben lange gezögert, bis sie sich entschlossen, Zwangsmaßnahmen gegen das Bürgertum zu ergreifen. Im Anfang wollte die Arbeiterrevolution Großmut üben. Aber ihre Feinde erhoben zum Dank dafür, daß sie sie laufen ließ, gegen die Arbeiter ihre Waffen. Als Antwort auf den weißen Terror steht jetzt der rote Terror auf der Tagesordnung. Die Seele aller Verschwörungen auf russischem Boden ist die Bourgeoisie, Sie verfügt über ein Netz von Verbindungen im ganzen Lande. In ihren Händen befinden sich noch Milliarden. Noch hofft sie auf den Sieg mit Hilfe des fremden Kapitals und des Großbauerntums. Daher müssen ihr nicht nur ihre Waffen abgenommen, sondern auch alle Reichtümer müssen ihr entrissen, ihre Verbindungen zerstört werden. Wir müssen nicht nur die Produktionsmittel in unsere Hände bekommen, sondern auch alles persönliche Eigentum der Bourgeoisie, denn dieses dient ihr nur als Kampfmittel gegen das Proletariat.“ Man weiß in Moskau genau, daß es sich bei solchen Worten nicht um leere Drohungen handelt. Der Eindruck dieses Artikels war furchtbar. Durch ihn war zunächst für die Stimmung der Arbeitermassen am vorigen Freitagabend der Ton angegeben.

Jeden Freitagabend finden in den Bahnhöfen und Arbeitervorstädten Moskaus Agitationsversammlungen statt, über die sich die ^Mitglieder der Regierung als Redner verteilen, um die Massen durch ihre Ausführungen zur Lage zu bearbeiten. Bei einer dieser Versammlungen, die am 31. August in der Michelsonschen Fabrik in dem jenseits der Moskwa gelegenen Arbeiterviertel stattfand, ereignete sich das Attentat auf Lenin. Bei den Versammlungen am 6. September mußte sich zeigen, wieweit die Ereignisse vom 30. und 31. August auf die Arbeiter eingewirkt hatten. Diesmal erschien in der Michelsonschen Fabrik Krylenko, der neben seinem ukrainischen Landsmann Skripnik als einer der Haupturheber des blutigen Massenterrors genannt wird. Er machte unter stürmischem Beifall der Versammlung die Mitteilung, daß als Antwort auf den Mordanschlag gegen Lenin die ehemaligen Minister Schtscheglowitow, A. N. Chwostow und Beletzki erschossen worden seien. Die Urheber der aufgedeckten anglo-französischen Verschwörung habe man dem Revolutionstribunal übergeben. Im Volkshause des Lefortowski-Rayon, dem typischen, halbländlichen Arbeiterviertel im Norden Moskaus sowie in der nicht weit davon entfernten Kaserne des i. Räteregiments sprach am selben Abend Radek über das Thema des Abends. Die Bolschewiki sind geschulte Agitatoren, aber nur wenige verstehen es so wie dieser kleingewachsene, unscheinbare Mann mit der Stirn und den Augen des Gelehrten und dem brutalen, beredten Mund des Demagogen, die Massen zu packen. Radek spricht ein schlechtes Russisch mit polischem Akzent und deutschen Satzgebilden. Aber er spricht einfach und den Massen verständlich. Er erinnerte daran, daß die Räteregierung nach der Novemberrevolution den Finanzminister Tereschtschenko auf die Bitte seiner bejahrten Mutter freiließ, daß sie die Generäle Kornilow, Kaledin, Kraßnow, dieselben, die später den Bolschewiki als Heerführer entgegentraten, freigab. Er erinnerte an den berüchtigten Radko Dimitrijew, der 80.000 russische Soldaten, von denen nur 20.000 zurückkehrten, vor Przemysl in den Tod schickte. Den Schluss bildete die Forderung des Terrors gegen jene Bourgeoisie, die während des Krieges zu Hause saß, mit Miljukow, Buchanan und Kerensld vom „Krieg bis zum Ende“ redete und unterdessen Hunderttausende russischer Bauern und Arbeiter an den Fronten hungern, frieren und sich verbluten ließ.

In dem Riesenbau des Butyrka-Gefängnisses befinden sich gegenwärtig über 2.500 Gefangene, von denen die meisten dem angesehenen Bürgertum Moskaus angehören. Überall in der Stadt, in ehemaligen Asylen, Schulen und Geschäftsgebäuden sind provisorische Gefängnisse. Kein ordentlicher Gerichtshof, sondern das dunkle Femgericht der Außerordentlichen Kommission entscheidet über Leben und Tod der Verhafteten. Man hat ein System daraus gemacht, die gruppenweise Verhafteten zu trennen und sie über verschiedene Gefängnisse zu verteilen, so daß sie allen Nachforschungen der Angehörigen unerreichbar sind. Auf den Straßen sieht man Gruppen von Verhafteten in Begleitung von Rotgardisten; über die Nikitskaja, eine der Hauptstraßen, deren einst vielbesuchte Buchläden und Geschäftslokale jetzt meist durch Bretterverschläge geschlossen sind, rollen die großen, schwarzen, fensterlosen Gefangenenautomobile. Die bekanntesten Würdenträger der Zarenregierung waren schon vor mehreren Monaten nach Moskau gebracht worden. Ihr Gefängnis befand sich im Kreml, wohin vor einigen Tagen auch General Brussüow gebracht wurde, gegen den nichts vorlag, als daß er im Fall eines fremden Einmarsches möglicherweise die Rolle eines Skoropadski hätte spielen können, und der noch immer nicht von seiner Beinwunde genesen war, die er bei den Dezemberunruhen des vorigen Jahres in den Straßen Moskaus durch eine verirrte Kugel erhalten hat. Die Erschießung der ehemaligen Würdenträger, insgesamt 29 Personen, geschah nach den Andeutungen eines hiesigen Blattes ohne Gericht auf die bloße Verfügung der Außerordentlichen Kommission. Die Hinrichtung vollzog sich angeblich im Beisein einer Menge von Rotgardisten und Arbeitern, die auf die Nachricht von der Exekution aus den benachbarten Vierteln zusammengelaufen waren. Am würdigsten verhielt sich der Erzpriester Wostorgow, der als einer der ersten erschossen wurde. Der frühere Gehilfe des Finanzministers, Beletzki, versuchte im letzten Augenblick zu fliehen, aber die dreifache Postenkette bemerkend, senkte er resigniert den Kopf. Schtscheglowitow rief, ehe das Blei ihn niederstreckte, daß er in seinem Leben kein einziges Todesurteil unterzeichnet habe. Dem früheren Minister des Innern, Maklakow, und dem letzten Innenminister Nikolais II., Protopopow, droht, wie es heißt, das gleiche Schicksal. Tag für Tag fordert die Epidemie der Verhaftungen neue Opfer. Am Sonntag wurden die Namen von über fünfzig früheren Gendarmerieoffizieren und Polizeibeamten veröffentlicht, die man tags zuvor erschossen hatte. Man verhaftet Fabrikdirektoren, Hausbesitzer, Geschäftsleute, darunter Greise von über 70 Jahren, einfach als Geiseln, die im Falle neuer Attentate auf Mitglieder der Räteregierung sofort erschossen werden sollen. Es gibt wohl in ganz Moskau keine Familie mehr, deren Kreis von Verwandten und Freunden nicht durch die furchtbaren Maßnahmen der Außerordentlichen Kommission betroffen wären. Man lässt neuerdings den Familien, die den Räumungsbefehl erhielten, nicht einmal mehr die Frist von drei Tagen zum Verlassen ihrer Wohnungen. Aus allen Städten der Provinz von Pensa bis Smolensk kommen Nachrichten von Verhaftungen, Erschießungen, Konfiskationen, Kontributionen. Unter den Verhafteten in Moskau allein befinden sich über 100 deutsche Schutzgenossen, die trotz der ausdrücklichen Proteste und amtlichen Bemühungen des deutschen Generalkonsulats bisher nicht freigegeben wurden, sondern absichtlich über die entlegensten Gefängnisse der Stadt verteilt wurden. Um die Abreise aus der Stadt zu verhindern, werden die Vorortzüge in den Bahnhöfen überwacht. In Petersburg hat man bisher zwei große Listen von „Geiseln“ veröffentlicht. Unter ihnen befinden sich sämtliche Großfürsten, die ehemaligen Minister, zahlreiche Mitglieder der Bankwelt und der Industrie. Die systematische Durchsuchung der Bürgerwohnungen nach Lebensmitteln, Kleidern, Geld und Wertgegenständen soll organisierten Arbeiterabteilungen übertragen werden. Selbst in den dunkelsten Zeiten des zarischen Regimes war Russland nicht so zur Hölle geworden wie in den gegenwärtigen Wochen des großen Schreckens.

Eine Einmischung von außen in diese Zustände erscheint gegenwärtig unwahrscheinlicher als je. Mit den Regierungen der ehemaligen Verbündeten befindet sich die Räteregierung nach ihren eigenen Erklärungen im offenen Kriegszustand. Von Deutschland, mit dem sie erst am 29. August die Ergänzungsverträge zum Brester Frieden abschloss, hat sie, nach den Angaben ihrer offiziösen Presse, nichts zu fürchten. Das stimmt zweifellos. Die nach Moskau gelangenden Stimmen der deutschen Presse über die Zusatzverträge zeigen das. „Prawda“ feierte die Verträge als einen ersten gewaltigen Sieg der proletarischen Diplomatie über den „Imperialismus“. Gewisse Berliner Blätter mögen indessen die neuen Verträge noch so lebhaft als ein gutes Geschäft begrüßen, zu dem die beteiligten Parteien sich gegenseitig Glück wünschen können — die Gründe zu dieser beiderseitigen Freude sind jedenfalls keineswegs komplementär. Warum es sich so verhält, habe ich in meinen Ausführungen über die Handelspolitik der Sowjetregierung gesagt. Dass gerade jetzt einzelne offiziöse deutsche Blätter anlässlich der Verträge wieder einmal von, „Frieden und Freundschaft“ zwischen beiden Ländern reden, erscheint unfassbar, wenn man betrachtet, mit wie offenem Hohn auf selten der Bolschewiki, mit welcher Bitterkeit auf selten der bürgerlichen Kreise Russlands die von Berlin gemeldeten glatten Redensarten über die Vorteile der Zusatzverträge hier aufgenommen wurden. Deutschland erscheint, von dem jetzigen Moskau aus gesehen, als ein Land der Illusionen, insbesondere der Illusionen über die Lage des östlichen Problemes in seiner Gesamtheit.

In den offiziellen roten Terror in Russland, der leicht eines Tages seinen Urhebern über den Kopf wachsen kann, mischt sich bereits der graue Terror des Banditenwesens. Bewaffnete plündern auf belebter Straße am hellen Tage Geld- und Warentransporte. Die Zeitungen sind gewiss nicht freigebig mit Notizen über Raubüberfälle und Unterschlagungen. Aber schon das, was durch die Blätter täglich bekannt wird, genügt. Am vergangenen Sonntag schwiegen zum erstenmal seit vielen Jahren die Glocken der Erlöserkirche, einer der stolzesten Kathedralen Russlands, deren weiße Wände und weithin strahlende Goldkuppeln ein Wahrzeichen Moskaus sind. Die Kirche ist geschlossen. In der Nacht zum vorigen Sonntag haben Einbrecher eine Menge von wertvollen Messgeräten, Gewändern, Fahnen, Heiligenbildern aus der Kirche gestohlen, sogar die silbernen Beschläge der Evangelienbücher wurden entwendet. Und aus den Dörfern in der nächsten Umgebung der Stadt berichtet man von organisierten Überfällen ganzer Banden von Expropriatoren auf Gutshöfe, Landhäuser und Bauernwohnungen.

Die Frage nach einem diplomatischen Eingreifen Deutschlands soll hier nicht erhoben werden. Die deutsche Reichsregierung tue nur das ihrige, um im deutschen Volke keine Illusionen über Russland aufkommen zu lassen, von denen es einst ein unangenehmes Erwachen geben müsste. Um den Namen Deutschlands vor der übrigen Welt rein zu halten, ist es unumgänglich, nicht nur gegen den leichtsinnigen Gebrauch der Worte „Frieden und Freundschaft“ in bezug auf das gegenwärtige Russland Einspruch zu erheben, sondern eines Tages im Namen der Menschlichkeit auch das deutliche und kurze Wort „Genug!“ auszusprechen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau