Schicksale der russischen Presse

Mitte November 1918 hat in Moskau ein Kongress der auf dem Boden der Räteregierung stehenden Journalisten stattgefunden, um über die Lage der russischen Presse zu beraten. Man durfte gespannt sein, was es da noch zu beraten gäbe. Die russische Presse hat innerhalb der Kriegsjahre alle Stadien der Freiheit durchgemacht, von der gemäßigten Knebelung durch die politische und militärische Zensur bis zur hemmungslosen Ausgelassenheit nach dem Ausbruch der Revolution und zurück zur Zensur des Pressekommissariats der Räteregierung. Die großen bürgerlichen Zeitungen, die früher von den Hauptstädten aus mit ihren beträchtlichen Auflagen einen starken zentralistischen Einfluss auf die Bevölkerung des Reiches ausgeübt hatten, existieren nicht mehr. Die große Presse mit ihrem vorzüglich organisierten Nachrichtendienst aus dem Auslande und den glänzenden Federn, die ihr zur Verfügung standen, hatte in den täglichen Diskussionen des geistigen und politischen Lebens jenem eigentümlichen Schillern und Oszillieren des modernen Russland Ausdruck gegeben, das sich ebenso sehr in weiten Horizonten wie in einer zweideutigen Beleuchtung des herrschenden Regierungssystems gefiel. Die russische Presse hatte bei aller ihrer nationalen Eigentümlichkeit den weltbürgerlichen Zug, der sie den führenden Organen der westeuropäischen Tagespublizistik gleichstellt; zu ihren nationalsten Eigentümlichkeiten gehörte aber jedenfalls ihr vorrevolutionärer Charakter. Mit der Revolution im März 1917 schien nun plötzlich das kritische Ziel der gesamten russischen Presse, die selbst in ihren loyalsten Formen immer Oppositionspresse war, erreicht; sie jubelte, sie geriet buchstäblich außer sich. Sämtliche Zeitungen Petersburgs verwandelten sich am 13. März in Extrablätter. Die Verleger waren übereingekommen, den sensationellen Ereignissen in Abständen von Stunden zu folgen. Als zwei Tage später die Moskauer Zeitungen mit einem zusammenhängenden Bericht über die Ereignisse eintrafen, wurden sie auf den Straßen geradezu versteigert. In Petersburg begann nun sofort für die gesamte Presse die Neuorientierung. Die monarchistischen Blätter wurden republikanisch, selbst die „Nowoje Wremja“ und die kadettische „Rjetsch“; der bis dahin radikalliberale „Djen“ stellte sich auf die Rechte des neuen großen sozialistischen Flügels. Der erst wenige Monate vor der Umwälzung von einflussreichen Industriekreisen gegründeten „Rußkaja Wolja“, die sich selbst als parteilos bezeichnete, und der von Maxim Gorki herausgegebenen freimütigen „Nowaja Shisn“ schlossen sich zahlreiche neue Improvisationen an. Zu der großen sozialistischen Gruppe gehörten die Sozialrevolutionären Blätter „Wolja Naroda“ und „Djelo Naroda“, letztere als das Blatt Kerenskis und des Landwirtschaftsministers im Koalitionsministerium Tschernow. Daneben waren die drei sozialistischen Hauptgruppen durch besondere Organe vertreten: die „Jedinstwo“ des alten Marxisten Plechanow, das offizielle Verordnungsblatt des damals noch menschewistischinternationalistischen Arbeiter- und Soldatenrates, das sich unter dem Titel „Iswestija“ allmählich zum Reichsanzeiger des revolutionären Russland aufgeschwungen hat, sodann die ganze Schwarmlinie der von Lenin und seinen Freunden geführten bolschewistischen Agitationsblätter, an ihrer Spitze die „Prawda“ mit ihren Ablegern „Soldatskaja Prawda“ und „Okopnaja Prawda“ für die Agitation in den Schützengräben.

Volle Freiheit der politischen Meinungsäußerung hat in Russland nur in der Zeit zwischen März und November 1917 bestanden. Ihr Ergebnis war ein wahrhaft ungeheuerliches Durcheinander der Meinungen, eine sich von Woche zu Woche steigernde Bösartigkeit der gegenseitigen Angriffe. Blätter, wie die „Nowoje Wremja“ und die „Prawda“, waren bald an Intensität der gegen die politischen Gegner des reaktionären oder des radikalen Lagers geschleuderten Verleumdungen nicht mehr zu überbieten. Vieles von diesen Verleumdungen ist hängen geblieben und vergiftet noch jetzt die Gesinnung der beiden feindlichen Lager. Gegen die sich vorbereitende proletarische Revolution nahm die bürgerliche Presse mit allen Mitteln den Kampf auf. Dabei spielten die sogenannten parteilosen Blätter, wie die „Börsenzeitung“ und „Rußkaja Wolja“, die Generalanzeiger des damaligen Russlands, eine solche Rolle, daß sie die ersten waren, die von den Arbeitern und Matrosen mit Panzerautomobilen zum Schweigen gebracht wurden.


An den Staatsstreich im November schloss sich dann die blitzschnelle Offensive Trotzkis gegen die bürgerliche Presse, die Überumpelung und Enteignung einer Anzahl Druckereien und die Einführung des Inseratenmonopols der revolutionären Regierung. Blätter, wie „Nowoje Wremja“ und „Rußkoje Slowo“, deren Anzeigenteil bis dahin von allen Schichten der Bevölkerung gelesen worden war und deren politischer Einfluss zum großen Teil darauf beruhte, daß die Blätter wegen ihres Reichtums an Inseraten überall hindrangen, wurden davon am schwersten betroffen. Fortan war der russische Bürger genötigt, Dienstmädchen oder verlorene Pässe durch die „Prawda“ zu suchen. Die Druckerei der „Nowoje Wremja“ auf dem Newski-Prospekt diente jetzt zur Herstellung der Manifeste und Dekrete der Räteregierung, nur ihr altes Firmenschild prangt heute noch über der Haustür. Die ganz rechts stehenden Parteien starben zusammen mit ihrer Presse. Die Parteiblätter der Kadetten, der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki durften zunächst noch weiterbestehen, aber unter empfindlichen Einschränkungen; ihre Auflagen erlitten durch die Kontingentierung des Papieres eine starke Verminderung, die Freiheit ihrer Meinungsäußerung wurde beschnitten durch eine Zensur, die an Unberechenbarkeit und Brutalität der alten Polizeiregierung nichts nachgab. Nach wiederholten Verboten nahmen diese Blätter ihre Zuflucht zu einem alten Kunstgriff und änderten ihre Titel. „Djen“ (Der Tag) erschien eine Zeitlang unter dem Titel „Die Nacht“, die , .Mitternacht“ und „Tiefe Nacht“, ehe er ganz unterging. Die „Rjetsch“, die sich als einziges bürgerliches Blatt großen Stils noch bis in den Sommer 1918 zu halten vermochte, änderte ihren Namen nacheinander in „Nasch Rjetsch“, „Wjek“ (Das Jahrhundert) und „Nasch Wjek“. „Rußkoje Slowo“ in Moskau war vor der Revolution mit nahezu einer Million Abonnenten einer der stärksten Dampfkessel der öffentlichen Meinung gewesen. Dieses Blatt wurde durch die Papierpolitik des Pressekommissariates auf 40.000 Exemplare herabgedrückt. Es erschien eine Zeitlang unter dem Namen „Nasche Slowo“ und ging im Frühjahr 1918 ein. Dem Organ der kadettischen Professoren in Moskau, der angesehenen, aber technisch rückständigen „Rußkija Wjedomosti“, die sich in „Swoboda Rossii“ verwandelte, ging es nicht besser. Ebenso erlosch im Sommer igi8 das ehemalige Moskauer Sensationsblatt „Utro Rossii“, das eine Zeitlang als „Sarja Rossii“ weiter erschienen war. Von kleineren Blättern, die aber wegen ihrer politischen Haltung Beachtung verdienten, kamen im Sommer 1918 in Moskau noch „Nascha Rodina“ und „Welikaja Rossija“ heraus. Die letzten Nummern dieser Blätter erschienen am 7. Juli 1918, dann gab die Ermordung Mirbachs dem Pressebureau im Kreml den Vorwand zu seinem letzten summarischen Eingriff, der das Verschwinden auch des Restes der bürgerlichen Presse zur Folge hatte. Ein paar Monate lang fristete indessen in Moskau noch ein kleines gemäßigt sozialistisches Sonntags- und Montagsblatt, „Utro Moskwü“ und „Wetscher Moskwü“, sein Dasein. Dieses Blatt wurde von der Genossenschaft der Moskauer Journalisten herausgegeben, im November wurde es eingestellt.*) Einige von den ehemals großen Blättern Petersburgs und Moskaus sind über die Grenzen des Sowjetgebietes ausgewandert. Ein Ableger der „Nowoje Wremja“ erscheint zurzeit in Nowo-Tscherkask im Kaukasus. Die Sozialrevolutionäre „Wolja Naroda“ erscheint jetzt unter dem Namen „Semlja i Wolja“ in Samara, dem Sitz der dorthin verzogenen rudimentären Nationalversammlung. „Nowaja Shisn“ hatte im Spätsommer 1918 die Absicht, nach Kiew überzusiedeln.

*) Nach der vorübergehenden Versöhnung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Menschewiki) mit der Räteregierung durfte im Januar 1919 in Moskau ein kleines Blatt der Genossenschaft der Zeitungsleute unter dem Titel „Gaseta Petschatnikow“ (Buchdruckerzeitung) und die Zeitung „Wperiod“ unter dem Titel „Wsegda Wperiod“ (Immer vorwärts) wieder erscheinen. Beide Blätter wurden nach wenigen Wochen abermals geschlossen. D. Verf.

Die erwähnte Moskauer Konferenz der „Rätejournalisten“ fragte allerdings nicht nach dem Schicksal der untergegangenen Zeitungen, aber sie beschäftigte sich mit dem kritischen Stand des Zeitungswesens im jetzigen Russland. Der proletarischen Räteregierung standen von Anfang an für ihre neu gegründete Presse nur ungenügende Kräfte zur Verfügung. Man hatte erwartet, daß sich, durch den Hunger gezwungen, der Rätepresse die nötigen Mitarbeiter bald zur Verfügung stellen würden. Aber die Erwartung ging nur vereinzelt in Erfüllung. Die bürgerlichen und rechtssozialistischen Redakteure und Schriftsteller streikten in der Mehrzahl. Man erinnert sich, daß eine der ersten Handlungen der Revolution im März 1917 die Besetzung der Petersburger Telegraphenagentur war. Äußerlich blieb der Dienst der P. T. A. aufrechterhalten, innerlich begann eine große Umgestaltung. Die zweite Revolution kam dazwischen. Das Personal der Petersburger Telegraphenagentur weigerte sich, in den Dienst der Räteregierung und damit der bolschewistischen Propaganda überzutreten. Es wurde fast in seiner Gesamtheit, nebst einer Anzahl von technischen Fachleuten und Provinzkorrespondenten, von einer neu gegründeten Aktiengesellschaft übernommen, die noch unter der Regierung des Fürsten Lwow die Konzession für den Betrieb eines großen, russischen und internationalen Nachrichtenbureaus erhalten hatte, dem das Recht zustand, in ganz Russland eigene Telegraphenlinien zu errichten. Dieses Millionenunternehmen ist unter der Räteregierung zur Untätigkeit verurteilt. Seine Bureaus sind trotzdem fertig eingerichtet. Die Angestellten erhalten Wartegelder und sind bereit, im Augenblick, wo die kommunistische Epoche vorüber sei, den Betrieb aufzunehmen. Andere arbeitslos gewordene Journalisten sind in die Ukraine abgereist, die weniger Glücklichen hungern sich durch. Im Moskauer Journalistenverband herrscht die anständige Armut. In dem einfachen Klublokal des Verbandes trifft man Journalisten aller Parteien, außer der Bolschewiken. Hier verkehren die Mitarbeiter der verbotenen Blätter, der feiernden Redaktionen. Die bescheidenen Räume dieses Klubs, mit ihren kahlen Wänden, ihren kleinen, ungedeckten, hölzernen Tischen und ihrer volksküchenmäßigen Speisegelegenheit, sind vermutlich der Ausgangspunkt der ungeschriebenen und ungedruckten Zeitungen, die heute in der öffentlichen Meinung Moskaus eine Rolle spielen. Neben den „ mündlichen Zeitungen“ gibt es allerhand gelegentlich auftauchende hektographierte Blätter, die den Leuten auf der Straße heimlich in die Hand gedrückt werden. Oft sind diese Blätter ganz wertlos, wenigstens für den Käufer; der Verkaufspreis beträgt bis zu einem Rubel das Stück. Nicht ohne System arbeitet diese illegale Presse durch die Verbreitung von phantastischen Gerüchten und boshaften Kommentaren der Meinungsmache der offiziellen bolschewistischen Organe entgegen; dem Bürgertum, den Unterdrückten ist die Verbreitung und Ausschmückung solcher Gerüchte Genuss und Waffe zugleich. Während des vergangenen Sommers erlebte Moskau die Gründung einer pazifistischen Zeitung, die sich „Mir“ (Friede) nannte. Dass dieses Blatt der deutschen Vertretung als eine Art Sprachrohr diente, war offenes Geheimnis und schadete ihm keineswegs. Es verfügte über reichlichen Stoff an Auslandsnachrichten, hatte angesehene russische Mitarbeiter und erfreute sich zeitweise einer Auflage von über 50.000 Exemplaren. Nur erwies es sich später, daß der Herausgeber des Blattes zu den Mitgliedern des verflossenen „schwarzen Hundert“ gehörte. Eines Tages forderte der Redaktionsstab die Entlassung des Herausgebers, und nun dauerte es nicht mehr lange, bis auch dieses Blatt sein natürliches Ende fand. Die gesamte, aus der Zeit der Verfolgung noch übriggebliebene oder seitdem neu entstandene Presse Russlands steht nun unter der unmittelbaren Kontrolle der Räte. Nur einige kleine Parteiblätter der linken Sozialrevolutionäre und der anarchistischen Gruppen machen eine Ausnahme, aber auch sie verdanken ihre Existenz der Protektion gewisser Räte, in denen Gesinnungsfreunde sitzen. In Petersburg gibt es gegenwärtig nur zwei Blätter größeren Formates, die „Sewernaja Kommuna“ („Nördliche Kommune“) und die parteioffiziöse „Krasnaja Gaseta“ („Rote Zeitung“). In Moskau erscheint die „Istwestija“, die bis vor kurzem noch über eine besondere Abendausgabe verfügte, als Regierungsblatt. Neben ihr besteht als offiziöses Organ die „Prawda“. Bucharin, einer der fähigsten jüngeren Köpfe der bolschewistischen Weltagitation, ist ihr Herausgeber. Daneben erscheinen zwei Blätter kleineren Formats, aber in großen Auflagen, „Kommunar“ und „Bjednota“, das erstere für den Gebrauch der Industriearbeiter, das andere für die Bauern. An die Stelle der altbekannten Petersburger „Industrie- und Handelszeitung“, des früheren Organs des Handelsministeriums, das noch bis in den Herbst 1918 hinein die wirtschaftlichen Vorgänge Russlands mit stoischer Sachlichkeit verfolgt hatte, trat eines Tages das „Wöchentliche Bulletin“ des Handelskommissariates. Sonst findet man bei den Zeitungsverkäufern auf den Straßen von Petersburg und Moskau, wo eine Zeitlang auch deutsche Blätter in Menge zu erhalten waren, nur noch die Organe nationaler Gruppen, wie die Polen, Weißrussen, Ukrainer, der Juden, Tataren und Letten. Auch die Deutschen haben ein eigenes Organ, die „Weltrevolution“. Dieses Blatt wird in der Druckerei der früheren Moskauer deutschen Zeitung von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen gesetzt. Alle diese nationalen Organe aber sind kommunistisch und dienen der Räteregierung. Dasselbe gilt für die gesamte Presse der Provinz. In Saratow trat an die Stelle des alten, deutschen Blattes „Der Kolonist“ der bolschewistische „Kommunist“. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist das Niveau der bolschewistischen Presse so jämmerlich, ihre Dialektik so eintönig und so blutleer, daß man den dringenden Wunsch der Räteregierung verstehen kann, diesem Übelstand der geistigen Aushungerung der Massen abzuhelfen.

Auf dem Kongress der Rätejournalisten wurde denn auch zugestanden, daß sich die Presse der Hauptstädte, wie die der Provinz, trotz aller ihrer Vorteile, in einer schwierigen Lage befinde und so wie sie ist, nicht bleiben kann. Schon in einer Zuschrift an die „Prawda“ vom 20. September hat Lenin eine scharfe Kritik der bolschewistischen Blätter in ihrer Allgemeinheit ausgesprochen und gesagt, was er sich unter einer tüchtigen Rätepresse vorstellt. An Stelle endloser Raisonnements verlangt er eine kurze, sachliche Beleuchtung konkreter Tatsachen. Er fordert weniger Politik, mehr Ökonomik, er empfiehlt statt banaler Verherrlichung der Revolution eine präzise Hervorhebung einzelner Mängel oder Fortschritte. Nach seiner Ansicht ist es die Aufgabe der proletarischen Zeitungen, alle Fabriken, in denen die Arbeiter sich der Lässigkeit, der Unordnung oder des Rowdytums schuldig machen, an den Pranger zu stellen. Im gleichen Sinne sollen die unzuverlässigen Elemente der Roten Armee moralisch verurteilt werden, Lenin fordert einen schärferen Kampf gegen jede Spur der Wiederkehr des „alten Übels“ im russischen Leben und meint damit ausdrücklich weniger die Ansätze der politischen Gegenrevolution als die Nachlässigkeit, Bestechlichkeit und Dummheit gewisser Teile der neuen Arbeiterbureaukratie. Seine Vorschläge zur Erziehung der Massen sind entschieden aus dem Geist eines echten politischen Führers geboren, aber von der besonderen Natur des Zeitungswesens scheint Lenin nicht viel zu verstehen, er würde sonst die Frage der Form nicht außer acht gelassen haben. Mit dem guten Willen allein kann man Blätter, die mit Interesse gelesen werden sollen, nicht machen. Es fehlt der Rätepresse an Fachleuten und an gebildeten Mitarbeitern. Tatsächlich ist sie in ihrem Tone oft außerordentlich roh, auch in literarischer Beziehung bietet sie so gut wie nichts. Der russischen Revolution fehlt es nicht an volkstümlichen Einzelzügen, denn sie ist trotz ihrer Beimischung agitatorischdemagogischer Elemente doch eine Bewegung des einfachen Volkes, das eine jahrhundertelange Knechtschaft abgeworfen hat. Aber in der Tagespresse der Revolution kommt das nur wenig zum Ausdruck. Die neuen billigen Kunstzeitschriften sind schon besser.

Von diesen inneren Mängeln abgesehen, leidet die russische Presse der Gegenwart aber auch an einem katastrophalen Papiermangel. Die russische Papierfabrikation steht still. Aus Finnland und Schweden ist Papier nicht zu erhalten. An den Straßenecken der Städte kleben papierne Panzerplatten von Tausenden, immer wieder überklebten Plakaten. Die ungeheuren Papiermengen, die die Sowjetregierung aus beschlagnahmten Druckereien herauszog, werden für die Zwecke der Agitation allmählich aufgebraucht. Man sieht im Petersburger Smolnainstitut die Säle ganzer Stockwerke angefüllt mit Broschüren, Flugblättern, Dekreten und Maueranschlägen, die täglich zu Zehntausenden hinausgeworfen werden. Die Druckerpressen, die während des ganzen

Krieges und erst recht in den Händen der Enteigner während der Revolution mit Hochdruck gearbeitet haben, sind abgenutzt. Es fehlt an Schriften und anderem Druckmaterial. Die Löhne sind zu phantastischer Höhe gestiegen. Dementsprechend sind die Nummerpreise der Blätter erhöht worden; ein Exemplar der „Iswestija“, das anfänglich 10 Kopeken gekostet hatte, kostet jetzt 60 Kopeken. Die „ Iswestija“ ist das einzige Organ, dem man nachsagen kann, daß es gut redigiert sei und täglich eine Fülle interessanten Stoffes bringe; aber auch sie leidet, wie ihre Ableger in der Provinz, die oft zu sehr den persönlichen Interessen gewisser Rätegruppen dienen müssen, an einem Ballast von offiziellen Bekanntmachungen. Die Moskauer „Iswestija“ ist zurzeit die umfangreichste aller russischen Zeitungen; dafür verzeichnet sie aber auch eine stattliche Unterbilanz, die sich angeblich auf anderthalb Millionen Rubel im Monat beläuft. Ihr Zwillingsblatt, die „Prawda“, hatte noch im Juli 1918 eine Tagesauflage von 80.000 Exemplaren, diese Auflage ist aber infolge der Entvölkerung Moskaus und der zunehmenden Interesselosigkeit des Publikums für die Meinungen und Nachrichten der Rätepresse stark zurückgegangen. Nun sind nur noch zwei führende Typen von Blättern übriggeblieben: der Iswestija-Typ der großen, politischen Zeitung auf der einen Seite, auf der anderen Seite der Typ des Blattes für die breiten, ungebildeten Volksmassen, wie ihn „Bjednota“ und „Kommunar“ vertreten. Auf dem Journalistenkongress trat Steklow dafür ein, aus der Not eine Tugend zu machen, d. h. sowohl in den Hauptstädten wie in der Provinz diese beiden Typen bewusst herauszubilden und die Zwischenformen verschwinden zu lassen. Vielleicht zeigt sich in diesem Verfahren wirklich der Weg zu einer grundsätzlichen Neugestaltung des russischen Zeitungswesens. Durch den Wortlaut der Räteverfassung ist ja die „Abhängigkeit der Presse vom Kapital“ beseitigt worden, so daß die Zeitungen prinzipiell keine Möglichkeit mehr haben, die Sprachorgane miteinander kämpfender Interessengruppen zu sein. Das „Kapital“ war jedenfalls auf die Vielgestaltigkeit der Presse im alten Russland mit ihren zahlreichen vorübergehenden Neugründungen nicht ohne Einfluss. Um aber Oberflächlichkeit, Unwahrhaftigkeit und Ratlosigkeit aus der öffentlichen Meinung ganz zu entfernen, dazu gehört mehr als nur die Beseitigung des Kapitals hinter den Blättern. Es gehört dazu selbst in einem kommunistischen Staat eine sehr glückliche Atmosphäre.

Wie aus Äußerungen von Regierungsmitgliedern auf dem genannten Kongress hervorging, hat die Räteregierung das entschiedene Bestreben, in ihrer nun einmal begonnenen Revolutionierung des Zeitungswesens nicht stehenzubleiben. Man plant die Gründung von Journalistenschulen in Petersburg und Moskau, in denen junge Leute aus dem Arbeiterstand zu Trägern der neuen Aufgabe herangebildet werden sollen. Man hat außerdem die Bildung einer zentralen Informationsstelle für die gesamte Presse vorgeschlagen. Und schon vor Monaten hatte man durch die Gründung der „Russischen Telegraphenagentur“, die unter dem Namen „Rosta“ an die Stelle der verflossenen „Petersburger Telegraphenagentur“ getreten ist, mit einer umfassenden Neugestaltung des telegraphischen Nachrichtendienstes in bolschewistischem Sinne den Anfang gemacht. Die „Rosta“ ist in ihrer ganzen Anlage als ein Agitationsinstrument ersten Ranges gedacht. Die Meldungen dieses Bureaus genießen in der jetzigen russischen Presse dasselbe Monopol wie einst die bekannten halbamtlichen Agenturen, Die Tendenz dieser Meldungen tritt in der russischen Presse offen zutage; für den Gebrauch des Auslandes befleißigte man sich natürlich einer vorsichtigeren Stilisierung und Auswahl. Die „Rosta“ gründete im vorigen Herbst eine Niederlassung in Berlin, die anscheinend mit beträchtlichen Mitteln ausgerüstet war. Ihr Hauptbureau in Moskau verfügt über einen nicht geringen Stab von Mitarbeitern, unter denen sich auch Ausländer befinden; ihr gesamter technischer Apparat war für den Anschluss an das internationale Nachrichtenwesen vorbereitet. Für die nichtrussische Presse, soweit sie nicht über eigene Korrespondenten in Russland verfügte, bestand natürlich ein großes Bedürfnis nach Meldungen aus Russland, also auch ein großer Anreiz, sich der „Rosta“telegramme zu bedienen. Die Einstellung des Betriebes der „Rosta“ in Berlin und in anderen europäischen Hauptstädten, eine Folge der über die Räterepublik verhängten Weltblockade, brachte fürs erste den Versuch der Annäherung zum Scheitern. Die zurzeit gegen den Bolschewismus stillschweigend verbündeten Regierungen haben ihre alten Agenturen in der Art von „Havas“ und „ Reuter“, die nichts als das andere Extrem der „Rosta“ darstellen, noch ganz in der Hand. Und die hochkapitalistischen Zeitungstrusts, die in Frankreich, England und Amerika die öffentliche Meinung kontrollieren, unterschlagen lieber ihren Lesern überhaupt alle Nachrichten aus Russland, ehe sie sich entschließen würden, sie mit den der Räteregierung genehmen Darstellungen bekannt zu machen.

Hoch über dem Gewimmel der Volksmassen gehen die breiten elektrischen Wellen durch den Äther. Dieselbe Antenne, die einst in den Nächten der russischen Revolution die Aufrufe „An Alle, an Alle, an Alle“ heraussandte, steht sendend und empfangend heute noch mit den Antennen anderer hoher dünner Masten in allen Ländern in Verbindung. Aber die Öffentlichkeit trägt ihr Ohr nicht höher als fünf Fuß über dem Boden; dieses Ohr ist nicht fein genug, die leisen Rhythmen in sich aufzunehmen, die ihm die Botschaften ferner Hirne melden. Dem Zeitungsleser in der Ferne sind jene einsamen und streng bewachten Stationen noch heute als ob sie nicht da wären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau