Jaroslawl

Vierzehn Tage lang lag über den Vorgängen in der an dem hohen Ufer der Wolga gelegenen, nur vier Bahnstunden von Moskau entfernten Stadt der Schleier des Geheimnisses. Seit dem 21. Juli weiß man endlich, daß Jaroslawl fast völlig zerstört ist. Heute gleicht diese wegen ihrer schönen alten Klöster und Kirchen berühmte Stadt dem verwüsteten Brest-Litowsk. Tausende von Menschen sind obdachlos geworden. Hier am Ufer der Wolga hat sich ein Akt des russischen Bürgerkrieges abgespielt, der mit dem Untergang einer blühenden Stadt, mit dem Verlust von vielen Menschenleben, mit der schließlichen Gefangennahme der Aufständischen, mit der standrechtlichen Erschießung von über 350 Bürgern durch die Roten Garden geendet hat.

Der Aufstand begann in der Nacht auf den 6. Juli um 4 Uhr morgens. Er stand unter der Führung einer Anzahl ehemaliger Offiziere des russischen Heeres. Bürger aller Stände, Geistliche, Schüler, Studenten und Arbeiter haben an ihm teilgenommen. Daneben auch andere, einige Tage zuvor aus Wologda angereiste Personen, unter diesen ein serbischer Major und einige französische Offiziere.


In Wologda, das bis zum 24. Juli noch Sitz der Ententegesandtschaften in Russland war, soll schon am Vormittag des 6. Juli ein Gerücht über die Ermordung des deutschen Gesandten verbreitet gewesen sein. Das Attentat geschah am Nachmittag desselben Tages. In Moskau waren in den ersten Julitagen die Führer der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre zum Rätekongress versammelt. Der Putsch der S.-R. in Moskau, Jaroslawl und anderen Orten sollte gleichzeitig vor sich gehen. Auch in Murom, im Gouvernement Wladimir, kam es zu einem Aufstandsversuch gegen die Rätegewalt, der niedergeschlagen wurde. Am 8. Juli wurde Murawiew, der Oberbefehlshaber der an der Wolga gegen die Tschecho-Slowaken kämpfenden Roten Truppen, bei dem Versuch, seine Soldaten zum Übertritt auf die Seite des Gegners zu bewegen, im Handgemenge erschossen.

Der Anschlag in Jaroslawl gelang zunächst vollkommen. Die Aufständischen bemächtigten sich am Abend vor dem Aufstande eines Waffenlagers und verhafteten frühmorgens die Mitglieder der Rätebehörde in ihren Betten. Dann wurden mittels chiffrierter Telegramme alle erreichbaren Abteilungen der Roten Armee herbeigerufen, überrascht und entwaffnet. Die „Weißen“ ließen mehrere bolschewistische Kommissare sofort erschießen. Sie verfügten über das Arsenal der Artillerieverwaltung mit einigen Panzerautomobilen und bemächtigten sich aller am Flussufer liegenden Dampfer und Fähren. Ein Rest der Roten Truppen verschanzte sich zuerst beim Bahnhof und zog sich dann in die Umgebung der Stadt zurück. Die Eisenbahnbrücke kam in die Gewalt der Weißen. Ihr Stab befahl die Mobilisation aller in der Stadt befindlichen Waffenfähigen; er bezeichnete seine Kampftruppe offiziell als die „Freiwilligen der Nordarmee“. Die Roten Truppen begannen nun die Stadt zu beschießen und besetzten ihre Ausgänge. Am 7. Juli begannen die Kämpfe sich in die Nähe der westlichen Vorstadt hinzuziehen. Die Moskauer Räteregierung hatte sofort Verstärkungen gesandt, darunter das erste Moskauer Sowjetregiment, eine aus polnischen Freiwilligen bestehende Kompagnie, einen Panzerzug und schwere Geschütze. Diese richteten ihr Feuer auf alle die Plätze, wo sich die Weißen verschanzt hatten, vor allem auf das von hohen Mauern umzogene Spaß-Preobrashenski-Kloster und das in Russland berühmte Demidow-Lyzeum. Diese Gebäude wie auch das geistliche Seminar und die Post wurden schwer beschädigt und größtenteils zerstört. Bereits am 7. Juli brach in verschiedenen Stadtvierteln Feuer aus. Jaroslawl blieb volle zwölf Tage lang belagert. Auf beiden Seiten wurde mit größter Erbitterung gekämpft und kein Pardon gegeben. Die Verteidiger erwarteten schon beim Ausbruch des Putsches die ihnen verheißene Hilfe einer aus der Richtung Archangelsk-Wologda angeblich bereits anmarschierenden, von englischen Offizieren geführten „Nordarmee“. Das erklärt ihre Hartnäckigkeit. Aber nur einige Flieger aus Moskau, deren Flucht zu den Aufständischen in Jaroslawl großes Aufsehen und allerlei Gerüchte in Moskau hervorrief, erreichten die Aufständischen. Unterdessen hatten die Roten Truppen die Übermacht erreicht. Die Weißen kamen immer mehr in Not.

Aber erst am 20. Juli war das Schicksal der Aufständischen entschieden. Zehn Tage lang war die Stadt ohne Trinkwasser. Am 10. Juli war die Wasserleitung durch die einschlagenden Granaten zerstört worden. Brunnen gab es nicht. Da die Aufständischen mehrmals versucht hatten, zu Schiff den Ring der Belagerer zu brechen, so wurden die Wolgaufer von der Roten Armee bei Tag und Nacht unter einem so heftigen Feuer gehalten, daß selbst in der Dunkelheit niemand wagte, am Flusse Wasser zu holen. Zum Glück für die Belagerten gingen in jenen Tagen heftige Gewitterregen nieder. Die Bewohner sammelten das Regenwasser von den Dachrinnen, in Badewannen und allen erdenklichen Gefäßen; sie schöpften die letzten Wasserreste mit Löffeln aus den Rinnsteinen und Pfützen.

Das Leben in Russland ist voller Seltsamkeiten. Stets geschieht das Unerwartete. Jaroslawl ist seit dem Brester Frieden der Sitz der deutschen Kommission Nr. 4 für Gefangenenfürsorge, der die Aufnahme und Weiterbeförderung der aus dem Innern Russlands eintreffenden Kriegs- und Zivilgefangenen obliegt. Das eigentliche Gebiet von Jaroslawl war schon nahezu von deutschen Kriegsgefangenen geräumt, aber als Knotenpunkt der Wolgaschifffahrt und des nordrussischen Eisenbahnnetzes behielt die Stadt ihre Bedeutung für die Transporte. Für die Unterbringung der durchreisenden Scharen von heimkehrenden Gefangenen hatte die Kommission in der westlichen Vorstadt ein großes Barackenlager mit eigenen Wirtschaftsanbauten und Krankenstuben angelegt. Gerade am 3. Juli war ein Transport von tausend Mann aus Ufa eingetroffen. In den Baracken warteten insgesamt 1.500 Personen auf ihre Abreise. Am 5. Juli abends standen 27 Güterwagen für sie auf dem Bahnhof bereit. Aber in der Nacht brach der Aufstand aus. Aus der Abfahrt wurde nichts, die Gefangenen mußten, da die Kämpfe begonnen hatten, in ihrem Lager bleiben. Für die Verpflegung der Gefangenen war, auch schon an den vorhergehenden Tagen, von den russischen Behörden nicht das geringste getan worden.

Am Abend dieses ersten Kampftages kam ein Oberst Taschinski in das Lager hinausgeritten und forderte die Kriegsgefangenen auf, aktiv am Kampfe der Weißen gegen die Rote Armee teilzunehmen. Im Falle der Weigerung werde man den Kriegsgefangenen keine Lebensmittel liefern, aber das Lager werde unter Artilleriefeuer genommen werden. Tatsächlich wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht, die das Lager von allen Seiten bestrichen. Jetzt waren die Gefangenen wieder Gefangene, und in einem doppelten Sinne. Auf die Forderung des Stabes der Aufständischen konnte man natürlich nicht eingehen. Die Kämpfe nahmen nun ohne Rücksicht auf die wehrlosen Deutschen ihren Fortgang. Schon am siebten Juli, noch mehr aber am achten, lagen die Baracken und ein benachbartes Landhaus unter schwerem Feuer. Schließlich brannte das Landhaus nieder; das Feuer griff auf das Lager über, die Baracken mußten geräumt werden. Am 8. Juli abends wurden alle Kriegsgefangenen, Zivilgefangenen mit Frauen und Kindern, darunter auch Österreicher, Ungarn und Polen, die sich den Deutschen angeschlossen hatten, jetzt schon insgesamt 2000 Menschen, von den beherzten Unteroffizieren Schmidt und Munkel, die in Diensten der Kommission standen, vor das Wohnhaus des Leiters der Kommission, des Leutnants Balk, in das Innere der Stadt geführt. Der Leutnant begab sich zum Stabe der Aufständischen und forderte von ihm eine Unterkunft für diese Schar von Menschen. Er wurde verhaftet. Man sagte ihm, daß sich die „Freiwillige Nordarmee“ im Kriege mit dem Deutschen Reich betrachte. Die Kriegsgefangenen wurden im Stadttheater untergebracht und streng bewacht. Lebensmittel erhielten sie nicht. Einigen Mutigen gelang es am folgenden Tage, heimlich in der Stadt ein paar spärliche Lebensmittel einzukaufen. Auf der Straße neben dem Theater wurden Herde gemauert, hier kochte man ein wenig Essen. Die Beschießung der Stadt dauerte weiter. Auch das Theater erhielt viele Beschädigungen und mehrere Volltreffer. Einige Personen wurden getötet, viele verwundet.

Erst nach einer Reihe von Tagen, die Lage der Aufständischen war inzwischen kritisch geworden, begann sich ihre Haltung gegen die Kriegsgefangenen zu ändern. Man entließ zunächst den Leutnant aus seiner Haft, stellte aber noch einmal an ihn das Ansinnen, den Aufständischen 250 Mann gegen die Rote Armee zur Verfügung zu stellen. Daraus wurde nichts. Am 20. Juli erschien schließlich der ganze „Stab der Jaroslawlschen Abteilung der freiwilligen Nordarmee“ vor der deutschen Kommission. Er forderte von ihr in aller Form als der Vertreterin einer Macht, mit der sich die Nordarmee im Kriege befinde, gefangengenommen und entwaffnet zu werden. Der Kommission blieb nur übrig, die Waffenstreckung anzunehmen. Am 21. morgens geschah dann die regelrechte Entwaffnung und Gefangennahme des Stabes durch den Führer der aus Ufa eingetroffenen Kriegsgefangenen, den Leutnant Müller. Die Sowjetbehörden der Stadt traten allmählich wieder in Erscheinung. Aber noch waren die Roten Truppen nicht in die Stadt eingerückt. In der Umgegend wurde noch geschossen. Vertreter der Bürgerschaft erschienen und boten den Deutschen die Stadtkasse mit 60 Millionen Rubel zur Aufbewahrung an, da sie bei ihnen am sichersten aufgehoben sei. Der Chef der Miliz stellte an die Deutschen den Antrag, die vollziehende Gewalt in der Stadt zu übernehmen. Das geschah, und so war am 21. Juli 1918 tatsächlich der deutsche Leutnant Balk als dienstältester Offizier am Orte Kommandant der tief im Innern Russlands gelegenen Stadt Jaroslawl. Er erließ zwei gedruckte Proklamationen, in denen er die Bevölkerung zur Ruhe und Zuversicht auf bessere Zeiten ermahnte und auf seine „bewaffnete Neutralität“ hinwies. Die deutschen Kriegsgefangenen hatten von beiden kämpfenden Parteien das Recht erhalten, den Schutz der Ordnung zu übernehmen. Sie waren sogar zu diesem Zwecke mit Waffen versorgt worden, von denen sie indessen keinen Gebrauch zu machen hatten. Erst am Abend desselben Tages rückten die Sowjettruppen ein. Auf Verlangen ihres Befehlshabers übergab die deutsche Kommission die sämtlichen ihr von den Aufständischen abgelieferten Waffen und den gefangenen Weißen Stab an die Rote Armee.

Der Fall Jaroslawl gehört sicherlich zu den völkerrechtlichen Kuriosa, die der Weltkrieg in seinem Strudel mit sich führt. Im übrigen war die „normale“ Lage ja rasch wieder hergestellt. Die Roten Truppen hielten nach ihrem Einzug in die Stadt unter den Aufständischen ein furchtbares Strafgericht. Die Kriegsgefangenen, die zwei Wochen der Schrecken und Entbehrungen durchlebt und nur durch eine Reihe glücklicher Zufälle und die Geistesgegenwart ihrer Führer die schwierige Lage heil überstanden haben, warten nun auf die Möglichkeit zur baldigen Heimkehr in das Vaterland. Jedenfalls haben sie erfahren, was Bürgerkrieg bedeutet. Vor der Geschichte trägt die Entente, die durch ihre Agenten die zur Gegenrevolution geneigten Kreise des russischen Volkes in einen neuen Krieg gegen Deutschland zu hetzen suchte, aber sich als unfähig erwies, ihre den Freiwilligen in Jaroslawl gegebenen Versprechungen zu halten, die eigentliche Schuld an dem tragischen Untergang der Stadt.

Radek, einem Mitglied der Räteregierung, der zur Regelung des mit den Deutschen entstandenen Zwischenfalles am 22. Juli eiligst von Moskau nach Jaroslawl gefahren war, gelang es, einigen Unschuldigen, die sich den Deutschen mit dem aus über 150 Personen bestehenden Stabe ergeben hatten, das Leben zu retten: einem angesehenen Bürger, der sich zwar als Mitglied der Kadettenpartei bekannte, aber nachwies, daß er sich während der Belagerung nur aus menschlichem Pflichtgefühl des städtischen Verpflegungswesens angenommen hatte, und einem wegen Ermordung seiner Braut zum Insassen des Stadtgefängnisses gewordenen ehemaligen Akzisebeamten, den eine in das Gefängnis einschlagende Granate aus seiner Haft befreite, der sich daraufhin dem Stab als der zeitweiligen obersten Behörde gestellt hatte, von dieser zwar davongejagt worden war, aber schließlich die Erlaubnis bekommen hatte, sich als Koch nützlich zu machen, „Man hat seltsame Eindrücke von der Kraft des Lebens“, sagte mir Radek. „Ich fuhr in einem Auto durch die zerstörten Straßen. Die Beschießung hatte kaum eine Stunde aufgehört, aber schon spielten die Kinder wieder auf der Straße. Familien krochen, so wie sie des Nachts vor den Kugeln Schutz gesucht hatten, mit nichts als dem Hemd auf dem Leibe, verschmutzt und noch ganz verstört, aus den Kellern. Ich nahm einige von diesen Leuten in mein Auto, um sie nach einer Verpflegungsstation zu führen. Die Kinder, die zum erstenmal in einem Auto fuhren, brachen in Jubel aus und erzählten voller Freude, daß sie die ganze Zeit in ihrem Keller nichts anderes gegessen hätten als Aprikosenmarmelade.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau