Eine Gewissensfrage*)

Seit mehreren Monaten ist in deutschen wie in russischen politischen Kreisen von dem bevorstehenden Abschluß verschiedener Ausführungsverträge zum Brester Frieden die Rede. Man sagt hier, Herr Joffe habe von seiner kaum zehnstündigen Anwesenheit in Moskau die Ermächtigung der Sowjetregierung nach Berlin mitgenommen, diese Verträge zu unterschreiben. Inzwischen aber sind Vertreter einer neu entstandenen Krimrepublik und des Dongebietes in Berlin eingetroffen, und statt von der Unterschrift des Herrn Joffe hört man mit einem Male von seinen „kleinen Abänderungsvorschlägen“. Auch hat die Räteregierung einen förmlichen Protest gegen die Verhandlungen mit dem Grafen Tatischtschew und dem Fürsten Leuchtenberg nach Berlin gesandt. Vielleicht besteht deutscherseits kein Grund zu allzu großem Bedauern, falls die nach den langen Berliner Verhandlungen bis auf die Unterschrift fertiggestellten Verträge schließlich nicht zustande kommen sollten. Freilich sollten diese Verträge, auch nach der Auslegung der Sowjetregierung, die Grundlage für eine künftige tätige Mitarbeit des deutschen Unternehmungsgeistes am wirtschaftlichen Wiederaufbau Russlands in sich tragen. Wer aber weiß, wie sehr sich im gegenwärtigen Russland alle Zukunftspläne einer juristischen Erfassung durch noch so treffliche Verträge entziehen, der fragt sich, ob die neuen Zusatzverträge denn diese Mitarbeit besser sichern werden als schon der Brester Friedensvertrag sie zu sichern vermochte.So gut wie alle Parteien Russlands, die revolutionären wie die bürgerlichen, erstreben die Wiedervereinigung der Ukraine und des Dongebietes mit dem moskowitischen Russland. Den gemäßigten Parteien schwebt ein bürgerliches Groß- Russland vor, den Bolschewiki dagegen die Ausdehnung ihrer sozialistischen Weltinsel zu einem Festlande des Kommunismus, das eine unter die Kleinbauern aufgeteilte Ukraine in sich schließt und ein Dongebiet, wo ebenfalls die Kleinbesitzer über die konservative und ältere Generation und über den Großgrundbesitz unter den Kosaken den Sieg davon getragen haben. Man sollte also die in Moskau über die Ankunft der Krim- und Donvertreter aufgekommene Verstimmung begreifen können.

Sicherlich liegt es nicht in der Absicht der deutschen Politik, die Wiedervereinigung der wirtschaftlich am meisten aufeinander angewiesenen Einzelgebiete des alten Russlands zu verhindern, wenn dies auf Grund einer Verständigung mit Deutschland geschieht. Die Organe der Sowjetregierung sprechen von einer doppelten deutschen Politik dem Osten gegenüber. Man ist natürlich im Hotel Metropol zu Moskau keineswegs so blind, um nicht zu sehen, daß einer bürgerlich orientierten Regierung wie der deutschen diese Wiedervereinigung Russlands auf einer bürgerlichen Grundlage sympathischer wäre als auf der bolschewistischen. Mit um so größerem Nachdruck weist man deshalb darauf hin, daß die Macht der Sowjetregierung sich täglich festige und daß das Räte-Russland einem langen Leben entgegensehe. Die von Deutschland gegenwärtig in der Ukraine geführte und auch auf das Dongebiet, die Krim, den Nordkaukasus und Kubanj ausgedehnte Politik der Unterstützung der dortigen „ordnungsliebenden“ Elemente bezeichnet man als deutschen Hyperimperialismus, der in verbrecherischer Weise versuche, dasselbe Russland, mit dem man gegenwärtig die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen und des kulturellen Austausches vorbereite, durch die künstliche Absperrung von seiner natürlichen Kornkammer, von Erzen, Kohlen und Naphtha, an den Rand des wirtschaftlichen Unterganges zu treiben.


Vielleicht wird das Verhallen der deutschen Regierung zur Moskauer Sowjetregierung nicht im entferntesten durch Absichten bestimmt, wie sie ihr hier untergeschoben werden. Dennoch liegt es in der Natur der Dinge, daß eine wahre Einigung mit dem kommunistischen Russland, ehe nicht auf einer der beiden Seiten eine entscheidende Wesensänderung sich vollzogen hat, auf die Dauer nicht möglich ist. Tatsächlich steht in diesem Falle Deutschland trotz des Friedensvertrages dem revolutionären Russland nicht anders gegenüber als die Ententemächte ihrem früheren Verbündeten. Der Unterschied besteht nur darin, daß die Politik der Ententeregierung Russland gegenüber durch die Landung im Murmangebiet, durch die offene Unterstützung der Gegenrevolution und der Tschecho-Slowaken mit Geldmitteln und Waffen zum Ausdruck kommt, während Deutschland auf einen Angriff gegen das kommunistische Russland mir verzichtet, um ihm den Kampf gegen die Entente nicht unmöglich zu machen.

Die Räteregierung begrüßte vor einigen Wochen die Ernennung Helfferichs zum Gesandten in Russland aufrichtig als ein Zeichen dafür, daß Deutschland Russland gegenüber seine Hauptaufgabe in der Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen erblicke und der Sowjetregierung bei den schweren Kämpfen, die sie gegenwärtig nach innen wie nach außen zu führen hat, den Rücken freihalten werde. Noch jetzt äußert man im Kommissariat des Auswärtigen die Hoffnung, daß Helfferich eines Tages auf seinen Moskauer Posten zurückkehren und hier jene Politik der guten geschäftlichen Beziehungen aufnehmen werde, deren Durchführung man ihm zutraut. Vertreter der Sowjetregierung sagen gegenwärtig den Deutschen immer wieder, in wie hohem Maße die russische Bourgeoisie bereits vor dem Kriege und vor der Revolution zu dem englischen Großkapitalismus orientiert war. Wenn sie, mit oder ohne deutsche Hilfe, jemals wieder zur Macht gelange, werde sie sich sehr bald wieder an den englischen Imperialismus anlehnen und den deutschen Einfluss in jeder Form bekämpfen. Die „Iswestija“ veröffentlichte in den letzten Wochen mehrere bei Haussuchungen oder auf andere Weise aufgegriffene Dokumente, die allerdings drastische Beweise liefern, in welchem Umfang und mit welcher Planmäßigkeit noch immer in den bürgerlichen und Offizierskreisen mit englischem Gelde gearbeitet wird, um konterrevolutionäre Bewegungen zu fördern und durch den Sturz der Sowjetregierung die alten kapitalistischen Ententeeinflüsse in Russland wieder heraufzuführen. Die Räteregierung ließ die kürzlich von England, den Vereinigten Staaten und Japan an das russische Volk erlassenen Aufrufe ohne jeden Abstrich als Beispiele eines heuchlerischen und raubgierigen Imperialismus veröffentlichen. Es ist bemerkenswert, daß von den intervenierenden Ententemächten nur Frankreich es unterlassen hat, mit einer derartigen Proklamation hervorzutreten. In Paris haben Kundgebungen gegen die Murmanexpedition stattgefunden. Gleichzeitig sind hier freilich Gerüchte verbreitet, daß Frankreich wegen der Verhaftung von Mitgliedern der französisch-russischen Großbourgeoisie in Moskau im Begriffe stehe, Russland offiziell den Krieg zu erklären. Sowohl aus den aufgefundenen Schriftstücken wie aus öffentlichen Äußerungen in Russland ansässiger Franzosen, darunter offizieller Persönlichkeiten, geht hervor, daß gerade im französischen Lager über die Frage der Intervention in Russland die schärfsten Meinungsverschiedenheiten bestehen. Die vor kurzem in der „Iswestija“ abgedruckten Briefe des französischen Konsuls in Samara sind nicht nur bezeichnend für den Gegensatz zwischen den konsularischen Vertretern der französischen Republik und ihren an die Tschecho-Slowaken-Front entsandten Militäragenten, sie offenbaren auch ein hilfloses Schwanken, welche der in Russland miteinander um die Macht ringenden Gewalten schließlich den französischen Interessen nützlicher sei: die radikale Richtung der aus Sozialrevolutionären bestehenden Rumpfduma von Samara, oder das gemäßigtere Programm der sibirischen Koalitionsregierung, das offenbar alle großindustriellen und kommerziellen Kreise für sich, aber die Stimmung der breiten Massen gegen sich hat. Noch offener sind die bei einem ehemaligen Mitgliede der aufgelösten französischen Militärmission gefundenen Aufzeichnungen. Es handelt sich um Abschriften einer Reihe von Briefen des Hauptmanns Jacques Sadoul in Moskau an die bekannten, der sozialistischen Minderheit angehörenden Abgeordneten Longuet und Pressemane und um einen besonders ausführlichen und pathetischen Brief des genannten französischen Offiziers an Romain Rolland. Sadoul ist Sozialist, aber kein Bolschewik. Er bittet Rolland, das französische Volk über die Bedeutung der bolschewistischen Revolution aufzuklären, er beschwört ihn, die „ Söhne der großen französischen Revolution“ daran zu hindern, die Henker der großen russischen Revolution zu spielen. Nicht durch Vernichtung der russischen Revolution werde Frankreich den Krieg gewinnen. Am Schluss des Briefes heißt es: „Die Ententeminister, durch die Blindheit ihrer Informatoren irregeführt, haben es verstanden, die Massen zu betrügen und sie gegen die Rätegewalt aufzuhetzen. Aber die Wahrheit wird an den Tag kommen. Einst werden die verbrecherischen Regierungen Rede zu stehen haben. Es kommt der Tag, wo der allgemeine Volksaufstand alle Eroberer hinwegfegen wird.“

Wie die „Iswestija“ bemerkt, bilden die Berichte und Proteste des Kapitäns Sadoul nur die Bestätigung und Ergänzung der von dem Botschafter Noulens bei seiner fluchtartigen Abreise in Wologda zurückgelassenen Papiere, die viel Interessantes über die konterrevolutionären Unternehmen der französischen Militärmission und der französischen Konsulate enthalten. Unter den übrigen französischen Stimmen, die in der russischen Öffentlichkeit noch gehört werden, entbehren die Äußerungen eines Pseudonymen, seit Jahren in Russland lebenden französischen Schriftstellers, Jean d'Auvergne, nicht einer gewissen Originalität, d'Auvergne analysiert den Brester Frieden und bezeichnet ihn als eine Niederlage der Entente, besonders Frankreichs, in Europa, dagegen als einen Sieg des Angelsachsentums in Asien. Die Niederlage Russlands dient nach der Ansicht dieses Franzosen vor allem den angelsächsischen Plänen. Nach seiner Meinung sind die wirklichen russischen Interessen durch die englischen Bestrebungen weit mehr bedroht als durch den Pangermanismus. Auch betrachte man in Frankreich ganz zu Unrecht die russische Revolution einfach als eine Episode des europäischen Krieges. Die Teilnahme Russlands am europäischen Kriege könne viel mehr als eine Episode der russischen Revolution bezeichnet werden. Im Gegensatz zu Sadoul, der als überzeugter Sozialist seine Gesinnungsgenossen in Frankreich gegen die konterrevolutionäre Politik der französischen Regierung aufruft, protestiert d'Auvergne gegen die Politik der Herren Clemenceau und Noulens, weil sie nur den englischen Interessen nütze. Wie einst in Indien, in den amerikanischen Kolonien, in Ägypten und auf der Krim, so kämpfe Frankreich auch jetzt im Murmangebiet nur als ein blindes Werkzeug der englischen Politik, d'Auvergne steht auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, aber er gelangt zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie sein sozialistischer Landsmann. Nach seiner Überzeugung gibt es, um Europa vor einem allgemeinen bolschewistischen Umsturz zu bewahren, nur den Weg des baldigsten Friedensschlusses zwischen den kriegführenden Staaten, die in Zukunft ein Gegengewicht gegen die angelsächsischen Mächte zu bilden haben. Das Warten auf den Ausbruch der Revolution „bei den anderen“ sei ein verhängnisvoller Irrtum, denn eine Revolution in Deutschland werde auch Frankreich das größte Unheil bringen. Ebenso umgekehrt.


Aber nicht nur von französischer Seite werden gegenwärtig aus Russland scharfe Proteste gegen die Einmischungspolitik der Entente laut. Auch von englischer Seite in Russland regt sich Widerspruch. Die Korrespondenten der Londoner „Daily News“ und des „Manchester Guardian“, der eine aus Stockholm, der andere aus Moskau, haben seit Beginn der Murmanexpedition begonnen, einen entschiedenen, wenn auch vielleicht aussichtslosen Kampf gegen die von Lloyd George geführte Kriegspartei zu führen. Ransome, der Vertreter der „Daily News“, und Price, der Vertreter des „Manchester Guardian“, befanden sich seit Anfang des Krieges in Russland. Beide gelten als genaue Kenner der russischen Verhältnisse; sie bereisten als Kriegsberichterstatter die russischen Fronten. Ransome war schon vor dem Kriege in England als Biograph von Oscar Wilde bekannt, Price hat sich durch Reisen in Innerasien einen Namen gemacht. In einer in englischer Sprache in Moskau erschienenen Broschüre, „Die Wahrheit über die alliierte Intervention in Russland“, bezeichnet Price die Murmanexpedition als ein Unternehmen der Londoner und Pariser Börse, um sich Faustpfänder für die gestrichene russische Staatsschuld zu verschaffen, nachdem das unter den Bürden des Krieges zusammengebrochene russische Volk von Arbeitern und Bauern nicht mehr willens war, für die Ehre, weiterhin als Kanonenfutter zu dienen, einen jährlichen Tribut von einer Milliarde Rubel an fremde Banken zu zahlen. Die Schrift enthält einiges bisher Unbekannte über die Maßnahmen der Entente im Sommer 1917, die das Zustandekommen der Stockholmer Sozialistenkonferenz verhinderten, über die von den englischen und französischen Regierungen nach der Oktoberrevolution 1917 unternommenen Versuche, die Sowjetregierung zu stürzen, und die Ukrainische Rada ebenso wie die Truppen des Generals Kaledin mit Geld für eine weitere Kriegführung gegen Deutschland zu gewinnen. Nach dem Brester Frieden handelten die Ententeregierungen, als ob sie die Sowjetmacht noch mehr als Deutschland zu fürchten hätten. Auf die wiederholten Einladungen der russischen Regierung, am industriellen und militärischen Wiederaufbau Russlands teilzunehmen, antworteten die Ententevertreter aus Wologda mit höhnischer Ablehnung und mit der Organisation konterrevolutionärer Putsche, u. a. durch die Auszahlung von neun Millionen Rubel an die Tschecho-Slowaken.

Die vereinzelten Proteste von Angehörigen der Ententestaaten gegen die Politik ihrer Regierungen in Russland werden wohl zunächst den Gang der Ereignisse nicht aufhalten. Man wird in England wie in Frankreich nichts unterlassen, um das Bekanntwerden dieser Proteste zu verhindern. Trotzdem werden sie gehört werden. Der Standpunkt der Protestierenden ist verschieden, aber alle diese Stimmen kommen aus dem unmittelbaren Erlebnis dessen, was gegenwärtig in Russland vor sich geht. Niemand, der die elementaren, historischen Vorgänge, die sich gegenwärtig in Russland abspielen, aus der Nähe erlebt, kann ihnen auf die Dauer als gleichgültiger Zuschauer gegenüberstehen. Mag auch die Beteiligung Russlands am Weltkriege mit ihren Folgen nur als eine Episode der in diesem Lande seit mehr als zehn Jahren sich vollziehenden großen Umwälzung zu betrachten sein, so sind doch die Formen, die sie angenommen hat, allzusehr mit den allgemeinen sozialen Wirkungen eines langdauernden Krieges verflochten, um nicht eines Tages auch in andern Ländern in ähnlicher Erscheinung hervortreten zu können. Der Ernst der Lage tritt hervor in der Forderung der genannten Ententestimmen nach einem baldigen Friedensschluss zwischen den europäischen Mächten. In keinem der kriegführenden Länder werden einschneidende Umwälzungen ausbleiben, wenn einmal die Heere in ihre Heimat zurückkehren. Die Grundlagen der europäischen Zivilisation, die diesen Weltkrieg hervorbringen konnte, werden einer Revision unterzogen werden. Die Voraussage Lenins, daß die Beendigung des imperialistischen Krieges nur durch den Bürgerkrieg möglich ist, wird in Erfüllung gehen, wenn die Regierungen, auf die es ankommt, sich nicht beeilen, ihrer Erwartung auf einen völligen Zusammenbruch des Gegners und ihren Glauben an die rohe Gewalt aufzugeben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau