Die russischen Frauen

Es scheint zuweilen, als ob die Erde nicht zwei Länder aufzuweisen habe, wo die Frauenfrage in ihren Extremen so übereinstimmende Züge aufweist, wie in England und Russland. Diese Übereinstimmung erscheint auf den ersten Blick ganz unverträglich mit der bekannten geschichtsphilosophischen Konstruktion, wonach der auf Allheit drängende Geist des Russentums und der individualistische, nationalistische, ewig protestantische Geist des Germanentums die schärfsten Gegensätze seien. Der Typus der Suffragette und der Amazone scheint nirgends in der Welt so ausgebildet wie in Russland und in England, diesen beiden Ländern, deren Unterschiede sonst so augenfällig sind. Wells spricht einmal von der neuen europäischen Kultur, die sich immer mehr von der Kultur der Mittelmeerländer und des Katholizismus ablöse. Er nennt diese neueuropäische Kultur und insbesondere die Frau, deren Typus in ihr im Entstehen sei, den nordischen. Der Kern dieser neuen Kultur liege in ihrer veränderten Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter. Die Frau sei aus ihrer zurückgezogenen Stellung in die Öffentlichkeit des freien Bürgertums herausgeschritten. Dieselbe neue Kultur, die im Begriff stehe, den Mann zu einem sozialeren, kooperativen Wesen umzugestalten, mache die Frauen kühner, verantwortlicher, geschwinder und weniger klosterhaft.

Das alles gilt nun entschieden wie für die moderne Frau In England auch für das ganze übrige Europa, wenigstens in den letzten Jahren. Für Russland aber gilt es längst. Russland ist das Land der weiblichen Attentäter und der politischen Exaltierten, aber auch der weiblichen Beamtenuniformen. Die Staatsmacht des Kommunismus hat nun diesem Russland eine neue Idee von der Frau gegeben, die besagt, daß die Frau, die für die Revolution mitgekämpft hat und noch mitkämpft, besonderer Rechte und Pflichten in der neuen Gesellschaft nicht bedürfe, und daß damit die Zeit der Hörigkeit der Frau in allen ihren Formen für immer vorüber sei. Ehe und Erziehung sind in dieser freigelassenen Gesellschaft neu geordnet. Die Leichtigkeit der Eheschließung und der Trennung, die absolute Selbständigkeit der Frau, der vom Staate auch die Sorge für die Erziehung der Kinder abgenommen werden soll, soll den Anteil der Frau an der Gesellschaft zu einem geistigeren und aktiveren machen. Durch die Aufhebung der übertriebenen Wertschätzung der Jungfräulichkeit müsste folgerichtig sowohl die kümmerliche Stellung der unverheirateten Frauen in der Gesellschaft aufhören wie die Prostitution als Form der Ausnutzung einer sozialen Notlage unmöglich sein.


Man wird sich erinnern, daß in der enthusiastischen ersten Epoche der Revolution in Russland unter der Regierung Kerenskis zur Bildung von Frauenbataillonen aufgerufen wurde, die dem beinah niedergebrochenen Körper des russischen Heeres neues Leben einflößen sollten. Dies geschah damals gleichsam als äußerster Protest eines noch immer patriotischen Teiles der Gesellschaft gegen den Friedensruf aus den Reihen der Arbeiter und Soldaten. Der Krieg war ja durch die fanatische Energie der Verbündeten und einer aus verborgenen Zentren von dunklen Geisteskräften beherrschten Presse zu einem Krieg der Völker eingeheizt worden. Kein Wunder, daß in den noch nicht Ernüchterten der Ruf sich erhob, daß Weiber zu Männern werden müssen, wenn Männer zu Weibern werden. Die weiblichen Soldaten Russlands mögen kaum mehr als einige Hundert gewesen sein. Sie wurden von der öffentlichen Meinung eine Zeitlang vergöttert und dann vergessen. Sie kamen in die Kaserne und dann ins Feld. Dort machten sie natürlich bald dieselben Erfahrungen wie die Männer. Eigentlich noch schlimmere. Das Sinken der Stimmung und die schließliche Niederlage konnten sie nicht verhindern. Ihr schließlicher Zusammenbruch war nicht einmal tragisch, sondern einfach scheußlich; er vollzog sich im Frühjahr 1918 an der Nordfront in Zank und Schlägereien. Die Führerin der Frauenbataillone, die mit einer Handvoll

Genossinnen zur Gegenrevolution übergegangen war, ist dann im Sommer 1918 von der Außerordentlichen Kommission verhaftet und erschossen worden. Andere weibliche Soldaten traten in die Rote Armee über; der Rest lief auseinander. Den besten Typus jener weiblichen Soldaten findet man noch in den geschulten Agitatorinnen und den jungen, ihrem Dienst ergebenen Sowjetbeamtinnen und Sekretärinnen mancher Moskauer Kommissariate. Ein immerhin merkwürdiger, wenn auch in Russland nicht ungewöhnlicher Typus Zigaretten rauchender, Maschine schreibender, halb studierter Frauen und Mädchen, die überall mit dabei sind und das Glück ihrer Person an das Glück der Idee geheftet haben.

Kann man auch in Russland von einer nordischen, neueuropäischen Kultur reden, die allmählich in einen erklärten Gegensatz zu der vom Bildnis der heiligen Gottesmutter beherrschten strengen christlichen Kultur des slawischen Orients getreten ist? Was liegt hier vor? Symptome einer Umwandlung im Charakter eines Volkes? Erscheinungen eines Auflösungsprozesses der Gesellschaft, der die Folge des erbarmungslosen Kampfes um ein menschenwürdiges Schicksal großer Teile dieser Gesellschaft ist ? Oder die ersten Anzeichen einer Wesensfestigung der Gesellschaft, die begonnen hat, ihr wahres Gesicht zu zeigen? Ist das Weib wirklich mehr als nur Weib?

Russland ist reich an fesselnden Frauenerscheinungen. Die in orientalischer Zurückgezogenheit lebende Frau des altrussischen Kaufmanns, die am Zarenhof und mit den Büchern der französischen Aufklärung und der deutschen religiösen Mystik erzogene Frau des Großgrundbesitzers, das gnädige Fräulein, die Studentin, die verhätschelte und parfümierte Dame der reichen, neueren Bourgeoisie, und zuletzt die Arbeiterin mit ihrem Rest von Ländlichkeit, das sind die Typen, die man in Russland nebeneinander findet. Der Typus der genialen Abenteuerin und Freidenkerin vom Schlage der Kaiserin Katharina ragte nach einem Worte Amfiteatrows im achtzehnten Jahrhundert inselhaft aus dem trüben Ozean der allgemeinen Unwissenheit und Rückständigkeit der russischen Frau. Ihm folgen jene sanften und tapferen Frauen des Revolutionsadels um 1825, die ihren nach Tschita und Nertschinsk verschickten Männern freiwillig in die Verbannung nachreisten. Dann die fanatischen Kämpferinnen, höhere Töchter aus Beamtenkreisen, aus dem Kleinbürgertum und aus dem Ansiedelungsrayon, die Wera Sassulitsch, Hessy Helfmann, Sofia Perowskaja, bis zur Breschkowskaja unserer Tage, bis zu der kindlich gütigen und fanatischen Balabanowa, der schroffen Frau Bizenko und jener Frau Kaplan, die im Gewühl der Fabrikversammlung auf Lenin schoß. Diese letzten Typen der politischen Frau trafen sich seit Jahrzehnten in den Gefängnissen, auf den Barrikaden, in den erregten nächtlichen Versammlungen und in allen europäischen und amerikanischen Schlupfwinkeln der russischen Emigration. Diese Frauen protestierten durch ihre bloße Existenz gegen die Barbarei des alten Staates und seiner Einrichtungen, aber auch gegen die unerlöste Seele des von ihnen inbrünstig geliebten Volkes. Der europäische Westen verrät in seiner Verehrung Strindbergs das Geheimnis des Unerlösten. Der Futurismus, dieses unmündige und schwatzhafte Kind des neuen Tages, hat frech seinen Inhalt ausgesprochen in dem Schlagwort von der „Verachtung des Weibes“. Die Saat der alten Priesterkirche , der katholischen wie der orientalischen, ist noch einmal in den Völkern aufgegangen, und das ist es, was den Kampf der Frauen um ihre Menschenwürde entfesselt, diesen schweren Kampf, der zuweilen ein Kampf gegen die Lächerlichkeit geworden ist. Neben den Märtyrerinnen und den Königinnen ihres Geschlechts stehen nun jene anderen Frauen mit den fast männlich harten Zügen. Man ermittelt das durchschnittliche Heiratsalter eines Volkes an dem Durchschnittsalter der unehelichen Mütter. In Mitteleuropa liegt das Durchschnittsalter zwischen dem 26. und dem 27. Jahr, in Russland beim einundzwanzigsten. In Russland ist die Mehrzahl der jugendlichen Arbeiter und der Rekruten bereits verheiratet. Die Hälfte der Männer, zwei Drittel der Frauen, heiraten in Russland vor der Volljährigkeit. Das russische Leben und die rechtgläubige Kirche begünstigen das frühe Heiraten. Die Kinder jugendlicher Eltern gelangen auch als Erwachsene über ein gewisses Stadium der geistigen Entwicklung nicht hinaus. Phantasie, Frische, Ursprünglichkeit, rohe Kraft und Begabung haben in solchen Menschen das Übergewicht über jene Eigenschaften des reifen Verstandes, die man Besonnenheit, Ausdauer und Fähigkeit für das Haushalten nennt. Ich hoffe nun nichts Albernes zu sagen: Mit vierzig Jahren, wo der germanische Mann erst seine volle Reife erreicht, ist der russische Mann alt und unschöpferisch geworden. Zuweilen erscheint das ganze russische Volk in Gestalten verkörpert wie Turgenjews „Rudin“. Die Aera Potemkin, Paul I. und Alexander I., die älteren und neueren „großen Episoden“ der russischen Politik, wie die russisch-chinesische Episode in der Mandschurei, schließlich das Unternehmen des Weltkrieges, vielleicht auch das Unternehmen des Bolschewismus, — eine jede begann mit der breiten Wucht der Dampfwalze, entwarf Perspektiven, vor denen das Herz stillsteht, und erstickt schließlich im Morast. Die Psyche des östlichen Menschen wurzelt in der Biologie des östlichen Lebens. Auch für den Juden und den Mohammedaner Russlands scheint dieses Gesetz Geltung zu haben. Es ist, als ob kein Volk so sehr wie das russische Volk die Not empfände, seine Seele zu festigen, an eine Verbesserung des Menschengeschlechts zu denken. Vielleicht wurzeln in diesem Boden die grotesken und erschreckenden Dekrete des Kronstädter Rates der Matrosen, Arbeiter und Bauern „über die Aufliebung des privaten Besitzes an der Frau“, die nichts als die Konsequenzen des Kommunismus sind. Kein Mensch ist kommunistischer als der Matrose, dieser fürchterliche Mönch im Banne des unendlichen Wassers und der härtesten körperlichen Arbeit. Andere Räte, scheinbar vor allem solche, denen Matrosen angehören, haben dieses Dekret nachgeahmt. So erklärte der freie anarchistische Bund in Saratow: Die soziale Ungleichheit und die gesetzlichen Ehen, die bisher für das Bürgertiun üblich waren, dienten dem letzteren als das Mittel, sich alle besten Exemplare des schönen Geschlechtes allein zu sichern, wodurch die regelrechte Fortpflanzung des menschlichen Geschlechts gestört wurde. Der Klub dekretierte am 28. Februar 1918 das folgende:

§ 1 Vom I. Mai 191 8 ab wird der Privatbesitz an Frauen, die ein Alter von 17 — 32 Jahren erreicht haben, abgeändert.

Anmerkung. Das Alter einer Frau wird auf Grund des Taufscheines, des Passes, des Aussehens oder durch Zeugenaussagen bestimmt.

§ 2 Alle Frauen werden dem Privatbesitz entzogen und für Gemeineigentum des Volkes erklärt.

§ 3 Die Wirkung dieses Dekretes erstreckt sich nicht auf solche Frauen, die mehr als fünf Kinder haben.

§ 5 Die Verteilung der offiziell enteigneten Frauen ist Aufgabe des Saratower Anarchistenbundes und beginnt nach drei Tagen, vom Erlass dieses Dekretes an gerechnet. Alle Frauen, welche auf Grund dieser Bestimmung dem Volke gehören, sind verpflichtet, sich bei der genannten Adresse zu melden und daselbst alle von ihnen geforderten Auskünfte zu geben.

§ 6 Die Aufsicht über die Durchführung dieses Dekretes wird, bis zur Bildung der damit beauftragten Wohnungsausschüsse, den Bürgern anvertraut.

Anmerkung. Jeder Bürger, der eine Frau bemerkt, die sich diesem Beschluss nicht unterwirft, ist verpflichtet, dem Anarchistenbund davon Mitteilung zu machen, und zwar unter Angabe des Vor-, Familien- und Vaternamens der Streikerin.

§ 8 Jeder Mann, der auf ein Exemplar des Volksgutes Anspruch erhebt, muss eine Bescheinigung von Seiten des Fabrikkomitees, des Gewerkverbandes oder des Bauern- und Soldatenrates über seine Zugehörigkeit zur „Arbeitsfamilie“ vorweisen.

§9 Jedes Mitglied der „Arbeitsfamilie“ ist verpflichtet, 9% seiner Einkünfte in den Fonds des „Volksgeschlechts“ einzuzahlen.

Anmerkung. Diese Abzüge werden von den Fabrikkomitees der Volksherrschaft vollzogen, welche verpflichtet sind, dieselben unter Namenslisten an die Volksbank, das Rentamt oder dergleichen Anstalten auf den Fond des „Volksgeschlechts“ einzutragen.

§ 10 Männer, die keiner „Arbeitsfamilie“ angehören, haben Anspruch auf die Rechte des Proletariats an der Benutzung des Volksgutes nur gegen Einzahlung von 100 Rubel monatlich an den Fond des „Volksgeschlechts“.

§ 11 Die örtliche Filiale der Volksbank sowie auch die Sparkassen sind verpflichtet, die Annahme von Einzahlungen an den Fond des „Volksgeschlechts“ zu eröffnen.

§ 12 Alle Frauen, die gemäß diesem Dekret Volksgut geworden sind, erhalten aus dem Fond des „Volksgeschlechts“ eine Unterstützung von monatlich 232 Rubel.

§ 13 Alle Frauen sind auf 3 — 4 Monate vor und 1 Monat nach ihrer Niederkunft von ihren direkten Pflichten befreit.

§ 14 Neugeborene müssen, sobald sie 1 Monat alt sind, in die Anstalt „Volkskrippe“ gebracht werden, wo sie bis zum 17. Lebensjahr auf Kosten des „Volksgeschlechts“ erzogen und unterrichtet werden.

§ 16 Verbreitung von Geschlechtskrankheiten wird der strengsten Verantwortung und Bestrafung unterzogen.

§ 17 Frauen, die ihre Gesundheit verloren haben, können beim Rate des „Volksgeschlechts“ um Unterstützung oder Pension nachkommen.

§ 18 Mit der Ausarbeitung zeitweiliger technischer Maßregeln sowie der Durchführung des Dekretes bis zur Organisation eines Rates des „Volksgeschlechts“ ist der Anarchistenbund beauftragt.

§ 19 Personen, welche die Durchführung des Dekretes ablehnen, werden für Streiker gegen den Staat, d. h. für Feinde des Volkseigentums und Konteranarchisten erklärt und der strengsten Verantwortung unterzogen.

Ich habe aus Gründen des Geschmacks von diesem Dekret die Paragraphen 4, 7 und 15 weggelassen. Die ersteren handeln von der Reihenfolge, der Paragraph 15 enthält eine hygienische Kontrollvorschrift. Der übriggebliebene Text besagt schon deutlich genug, welche Monstrosität entstehen muss, wenn eine Partei es plötzlich erzwingen wollte, die Gesellschaft in jenes Abstraktum von Menschen gleicher Geburt, gleicher Möglichkeiten und gleicher Triebe zu verwandeln, das zwar bei Plato die Grundlage des vollkommenen Staates und seiner Stufungen ist, in seiner Verwirklichung aus dem Bestände der bisher gewordenen Welt aber nichts anderes bringen könnte als den grauenhaftesten Zusammenbruch. Denn dieser Weg führt logisch nur über die Trümmerstätte alles dessen, was Familie, Art und Blutsverwandtschaft heißt, obwohl man annehmen könnte, daß er bei der Bildung neuer noch unbekannter gruppenmäßiger Vereinigungsformen Halt macht. Er würde aber auf dem bloßen Boden einer unbeweisbaren und niemals vernünftig ausreichenden Begründung, und wenn diese wegfällt, einem ungeheuerlichen Wahn zuliebe mit einem Schlage nicht nur das Ergebnis einer mehrtausendjährigen Sittenentwickelung auslöschen, sondern den Erdkreis in einem Maße mit Trümmern anfüllen, mit dem verglichen die Kampfzone des Weltkrieges nur die Szene eines kleinen Vorspiels darbietet. Ich weiß nicht, ob es sich bei dem Saratower Anarchistenklub um etwas Bedeutenderes handelt als um jenen „Rat der fünf Unterdrückten“, der eine Zeitlang Petersburg unsicher machte. Aber die Zahl der Mitglieder ist gleichgültig. Die Empörung, oder auch der Spott, den dieses Dekret hervorruft, kann trotz alledem keineswegs der Zivilisation, in der wir bisher gelebt haben, oder einer Moralauffassung, die irgendwie mit Heuchelei verbunden ist, zur Verteidigung dienen. Das Dekret bietet im übrigen wohl, nach dem Gesetz des Kontrastes, das grelle Gegenstück zur bisherigen Stellung der einfachen russischen Frau als Besitz des Kleinbürgers oder des Bauern nach Art eines Haussklaven. Von Artigkeit gegen die Frauen war in dem alten Zustande nicht die Rede, man findet auch im neuen nichts davon. Koloniale Völker, wie die Amerikaner, werden dies, solange in ihrer Schätzung der Frauen die Zeit der Seltenheit der Frauen nachwirkt, noch weniger begreifen als europäische Kulturvölker, bei denen das durchschnittliche Maß dieser Schätzung in einem direkten Verhältnis zu dem sogenannten Frauenüberschuss ihres Landes steht. Manchen Leuten in Russland erscheint noch jetzt die ganze Revolution nur als ein böser Scherz des Proletariats. Dekrete, wie das obige, stützen beinahe diese Auffassung. Es handelt sich indessen um einen sehr ernst gemeinten Scherz, dessen Hintergründe stehen bleiben, auch wenn sie nicht durch rote Raketen beleuchtet sind. Das Erregende der Urkunde liegt nicht so sehr in ihrer Roheit, so wenig sich diese auch von dem Zynismus der westländischen Zote unterscheidet. Aber dieses Dokument zeigt tatsächlich etwas wie eine verhüllte Angst vor der physiologischen Entartung des Proletariates als Folge seiner langen Knechtschaft. Sein Naturalismus ist allerdings ein Bastard zwischen einer verdächtigen Belesenheit in modernen naturwissenschaftlichen Büchern und Abenteuerinstinkten. Die von den Gründern Roms geraubten Sabinerinnen wurden die Mütter eines Weltreiches. Sollen einst die auf den Gymnasien Russlands erzogenen Sklavinnen der Matrosen die Mütter der Namenlosen werden, die den Adel des künftigen kommunistischen Weltreiches bilden? Das Abstoßendste an diesem Dokument ist seine vandalische Mechanisierung des Turnus, sein Nichtwissen um den Sinn der Zucht, sein chaotisches Durcheinandermischen der Rassen. Unter den Trümmern der alten bürgerlichen Ehe und ihrer Nebenbauten wird hier nicht nur die Lüge einer Gesellschaft, die zum Schein geheiligte Monogamie, sondern auch die ewige Wahrheit, die seelische Liebe zwischen den Geschlechtern, die tiefste Problemhaftigkeit und Kunst der Liebe begraben. Eine solche Vergewaltigung des Menschen wäre weniger antichristlich als antigriechisch. Sie würde, wenn nicht die Natur selbst sich dem Nihilismus hemmungsloser Menschengruppen widersetzte, europäische Völker unter die Stufe der afrikanischen Neger zurückstoßen.

Auch andere Räte, die sich nicht als anarchistisch bezeichnen, haben in Russland bereits begonnen, Frauen der gebildeten und verwöhnten Stände zu erniedrigen. Man hat beispielsweise in Swinigorod, einem als Sommerfrische beliebten alten Städtchen nicht weit von Moskau, die dortigen Damen eines Tages zu gewöhnlichen Erdarbeiten gezwungen. Alles das hat vor allem den Zweck, die Bourgeoisie zu martern; alle sonstigen Folgen bezeichnet man vorderhand als gleichgültig. Die Frauen im jetzigen Russland teilen das Schicksal ihrer Männer. Die Ängstlichen fliehen von der Stadt auf das Land, und sie fliehen vom Land, wo Raub und Willkür herrschen, zurück in die verödeten Städte, in die verdunkelten, ungastlichen Wohnungen. Die Männer vermögen keinen Schulz mehr zu bieten; wie viele mußten über Nacht entfliehen und ihre Frauen zurücklassen. Die Schönheit der einst Sorglosen zerfällt. Sie wagen nicht, ihre kleinen Kenntnisse einem Bureau, einer Schule anzubieten. Es gibt stoische, ältere Frauen, Frauen mit dem kurzgeschnittenen Haar und den strengen, hageren Zügen der einstigen Intelligenten, Gattinnen von Offizieren, Priestern, Gelehrten, Mütter von Studenten, die jetzt die kahlen Zimmer ihrer Wohnungen an Fremde vermieten und von Rüben und Wassersuppen leben. Es sind die Mütter der von geistigen Stürmen durchbebten russischen Familien, sie selbst sind die Kämpferinnen für die Freiheit Russlands aus der vorigen Generation, die heute um die Früchte ihres Kampfes betrogen ist; Frauen, die man nicht mehr auf den Promenaden sieht, die niemals klagen, aber mit dem Leben ihrer Generation abgeschlossen haben. Nur ein einziger Typus ist herausfordernd geblieben und versteht es, noch im Sterben Ohrfeigen auszuteilen. Es ist der majestätische Typus der Babuschka aus Dostojewskis „Spieler“, — jener Typus voller Güte, Grobheit, Verschwendung und Mutterwitz, den das reiche russische Land hervorbrachte. Eine solche Frau, deren Stadthäuser und Güter eines nach dem anderen dem Mahlstrom der allgemeinen Zerstörung und Beschlagnahme anheimgefallen waren, die aber bis zuletzt als die große Dame der zusammenschmelzenden Schar ihrer alten Freunde und ihrer Dienerschaften präsidierte, traf ich schließlich auf der Straße wieder. Sie stand da, in der Nische eines der vielen jetzt geschlossenen Warenhäuser Moskaus, umgeben von ihren letzten Getreuen aus der Glanzzeit, die in ihren Versuchen, tröstliche Argumente vorzubringen, einen doppelt kläglichen Eindruck machten. Hochrot, das faltenreiche Gesicht zum erstenmal nicht geschminkt, die Augen von Tränen der Wut gerötet. Mein Herz klopfte, als sie mich erkannte, — ich wusste schon, was geschehen war. Die „Außerordentliche“ hatte ihren Mann verhaftet, einen verweichlichten, an Protektion gewöhnten Herrn, dem man tausendmal alle Wege geebnet hatte, seine politisch höchst harmlose Person in Sicherheit zu bringen, der aber in seiner Vertrauensseligkeit sich niemals hatte entschließen können, von seinem noch immer reich besetzten Tisch in ein höchst Ungewisses Exil zu flüchten. Nun saß er plötzlich als „ Geisel“ im Gefängnis; Rotgardisten bewachten die Tür und das Telephon in seiner Wohnung. Deutsche und Neutrale waren bis zuletzt der Schutz dieses bis zuletzt gastfreien und nicht unglücklichen Hauses gewesen. Ich hatte von dem Missgeschick des Ärmsten erfahren und begonnen, mich für ihn zu verwenden. Ach, gerade in jenen Tagen war die Revolution auch in Deutschland ausgebrochen! Man fragte mich lächelnd, warum ich mich für einen notorischen Millionär interessiere. Und hier stand ich nun vor dieser außer sich geratenen Frau, die aus ihrer Wohnung fortgelaufen war, und sie empfing mich mit Beschimpfungen. Ah, ihr Deutschen! Schönes Volk! Lasst ihn ruhig in sein Unglück hineinreiten und rührt keinen Finger! Solche Bande! Ihr seid wohl auch Bolschewiken! Bande allesamt! Und sie war nahe daran, nach mir zu schlagen.

Sie hatte die russische Revolution als etwas Unvermeidliches hingenommen und auf die Dekrete Lenins, die ihresgleichen Schritt für Schritt zu armen Leuten machten, ausgespien. Aber die deutsche Revolution empfand sie als eine persönliche Kränkung. Es ging ihr wie vielen aus den höheren Kreisen in Russland, die die Deutschen und ihren Kaiser verwünschten, aber doch an ihre fast unbegrenzte Macht glaubten. Die allen düsteren Voraussagen zum Trotz mit der letzten Kraft ihres strahlenen Egoismus glaubten, daß Deutschland der Fels sei, an dem der aufgewühlte Strom aus dem Osten brechen werde. Und selbst die plötzliche, unerwartete Revolution erschien ihr nur als ein Trick der Deutschen, um sich zu guter Letzt aller Verantwortung für das bürgerliche Russland zu entledigen und Russland aufs vollkommenste zu unterjochen. Sie wird niemals begreifen, daß eine wirkliche deutsche Revolution überhaupt möglich ist. Unter allen Umständen aber sah sie im Zusammenbruch Deutschlands auch ihren letzten Halt vor dem Ansturm der Hölle niedersinken.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau