Die gefesselte Stadt

Das Mittelalter über diesen pyramidenförmigen Türmen, den Schwalbenschwanzmauern des Kreml, dem Wald der Kirchen, ist geblieben. Nur einige dieser alten Mauern sind von Kanonenkugeln wie von Sturmböcken durchstoßen; nur einige dieser schlanken, funkelnden Kreuze auf den Türmen stehen schief. Der Asphalt der Straßen ist wie aufgepflügt. Große Reklametafeln auf den Dächern der Geschäftshäuser hängen da wie gestrandete Flugzeuge. Einige zehntausend Fensterputzer und Glaser, Tischler und Gärtner wären wohl nötig, um jenes alte Moskau wiederherzustellen, das wir vor dem Kriege kannten, Stadt mit leicht gebogenen hügeligen Straßen voll von Waren hinter glänzenden Scheiben, Plätze mit wuchtigen Denkmälern, Parks in eisernen Zäunen. Zehntausend Schneider, Schuster und Friseure hätten wohl alle Hände voll zu tun, um dem Volk dieser Stadt jenes wohllebige Aussehen wiederzugeben, das es einst mit den Bewohnern aller Städte des alten, guten Europa gemein hatte, und einige zehntausend Küchen mit ihren Öfen und Kasserolen müßten sich auf ihren Beruf besinnen, müßten brozeln und backen, quirlen und kochen, um auf den asketisch und gedankenvoll gewordenen Gesichtern jenen fetten Glanz wiederzuerwecken, der einmal der besondere Stolz dieser russischen Hauptstadt war. Jetzt sind diese Straßen ein wenig öde geworden trotz ihrer vielen Fußgänger auf den Bürgersteigen. Hoftore stehen offen und zeigen verwilderte Gärten, verstaubte Häuser, von Gestrüpp umwaldet, zeigen ländliche Höfe mit eingerostetem Fuhrwerk, leere Ställe, Mit Arabesken überhangene Paläste, scharfkantige neue Steingebäude, fünf Stockwerk hoch, sind pockennarbig geworden von den Spuren der Straßenkämpfe, bei denen sich die Streuung der Maschinengewehre, die milde Durchschlagskraft leichter Artilleriegeschosse, die Laune der Flintenkugeln an Haustüren und Dachkändeln, an Zierfiguren und Fenstersimsen verewigte. Die ganze Breite einstiger Staatsgebäude, die im Giebelfeld noch den kaiserlichen Adler tragen, ist in der Höhe der Augen mit Plakaten, Aufrufen, Dekreten, beschriebenen, halb abgerissenen und mit Kot bespritzten Papieren dick beklebt. In Spiegelscheiben sitzen runde Löcher, umstrahlt von Sprüngen. An den Boulevards stehen geschwärzte Hausruinen. Nur die vielen kleinen Kirchen mit ihren längst schadhaft gewesenen pagodenförmigen Türmen stehen unberührt; in ihre engen Gitter zurückgezogen. Über der weit sichtbaren goldenen Kuppel der Erlöserkirche funkeln herrlich wie je in tiefen Nächten die Sternbilder.

Noch hängen die Firmentafeln an den Läden; sie zeigen gemalte Zuckerhüte, Käse und Geflügel, aber die Gewölbe sind mit Brettern zugemacht. Verhärmte Frauen verkaufen Zeitungen, klägliche Männer Gurken und Apfel an der Straßenecke. Die Wirtshäuser sind geschlossen, wo einst die Arbeiter von ihren Baustellen, die Fuhrleute von ihren Gäulen, die Bauern vom Lärm der Märkte bei heißem Tee und kräftigen Fleischsuppen auszuruhen pflegten. Hölzerne Attrappen von Schinken, in Silberpapier gewickelten Würsten und in runde Porzellandosen gepresstem Kaviar verhöhnen den ewigen gedämpften Hunger, der durch diese Straßen wandert. In den Wohnungen isst man das mit Sand und Stroh vermischte Brot der Armut, dünne Kartoffelsuppen und rohe Rüben; nur noch Bündel von verstaubtem Knoblauch, von dürrem Stockfisch, bittere Preiselbeeren, gipserne Pasteten, armselige gebratene Hühnchen füllen die Schaufenster. Papyros gibt's nicht mehr. Nur Haarwasser oder Maschinenteile, Reisigbürsten und Antiquitäten erscheinen noch vollzählig, aber auch die verblichenen Waren der Buchhandlungen oder der Wäschegeschäfte sind unzugänglich, nationalisiert, hinter geschlossenen Eingängen.


Durch die Straßen Moskaus trotten noch immer die kleinen, blaugepolsterten Droschken. Ihr ärmsten, braven, abgemagerten Pferdchen! Auf die Kadaver der Pferde, die am Wege liegen bleiben, stürzen nachts die Krähen oder die Scharen wildernder Hunde, die sich wie einst die Hunde von Konstantinopel, feig und räudig wie Hyänen in den Straßen Moskaus umhertreiben. Oft aber jagen Reiter mit dem Säbel an der Seite und der Flinte auf dem Rücken mit stiebenden Hufen über das harte Pflaster; Motorräder stürmen unbekümmert daher, und in rasender Fahrt die Automobile der Revolution; Kraftwagen des Feldheeres oder enteignete Fahrzeuge geflüchteter Millionäre, auch Lastautomobile, hochbeladen mit requirierten Mehlsäcken oder Kohlköpfen, oder ledernen Stiefeln, Soldaten obendrauf, deren Gewehre wie aus einem Nadelkissen herausragen. Schwarze Automobile mit nass aufgepinselten roten Buchstaben trillern vorüber; Automobilskelette, an denen über den Rädern nur der tropfenspeiende Motor geblieben ist, der Rest sind Holzbretter. Noch donnern zu gewissen Stunden die Elektrischen, starke, braunlackierte Wagen, mit Eisenbahngeschwindigkeit auf ihren Schienen. Die Entfernungen der Stadt sind groß, das Schuhwerk ist teuer, darum sind diese Wagen immer vollgestopft mit Menschen, die einander an den Haltestellen Gefechte liefern und roh hineindrängen in den sich immer wieder erneuernden furchtbaren Dunst, in dies grimmige, stumme Gezänk, in dies Unbehagen einer eklen Gefangenschaft. Zarte Frauen, erdhafte Bauern, Soldaten mit ihren Krücken, schwarzäugige fingernde Taschendiebe bilden Knäuel, die traubengleich mit Körben und Schirmen noch in voller Fahrt über die Trittbretter hinaushängen.

Moskau ist durchströmt von Proletariat. Niemand ahnte früher, daß das Proletariat in Russland so zahlreich sei. Revolutionen aber scheinen Proletariat förmlich zu erzeugen. Auch Großkaufleute, Grafen, Offiziere, Staatsräte nämlich werden Proletarier; sie verarmen oder treiben Mimikry, tragen die Bauernmütze und das blaue Kragenhemd, gehen im rauen Soldatenmantel mit bärtigen fahlen Gesichtern; alle sind einander erschreckend gleich. Aber ist Moskau jemals so schön gewesen wie in dieser Verwilderung ? Es ist, als kehre alles zum Naturzustand zurück, als sei mit einem Male eine ungeheure Ebbe jenes anmaßenden menschlichen Verstandes eingetreten, der einst den Dingen ihren Rang anwies. Nur was Stein an den Straßen ist, verwittert langsamer. Alles verwittert. Jetzt lagern unter festlich strahlenden Kronleuchtern in einstigen Adelshäusern, vor kostbaren Bildern, die in goldenen Rahmen brokatene Wände zieren, mitten in der drückenden Pracht schwergetäfelter Billardzimmer proletarische Lebensmittelkomitees und schreiben hieroglyphische Befehle. In vermauerten, aufgebrochenen Kellern ergötzen sich ungetreue Hausverwalter, wildgewordene einst mohammedanische Kaukasier, närrische Rotgardisten mit Handgranaten im Gürtel, an schwerflüssigem, uraltem Benediktiner, an Moucon Rothschild, an gelbem Burgunder, an rosinfarbenem Sekt, der einst der Stolz auf den Tischen zarischer Minister war. Noch arbeiten in den modernen Mietshäusern die mechanischen Aufzüge, aber in den höchsten Stockwerken, die sehr rasch geräumt werden mußten, hausen Soldaten. Der Minenwerfer steht auf dem Balkon neben der zierlichsten silbernen Teemaschine, und die Teetrinker hier schauen faul vor sich hinsingend über die mit Wipfeln untermischten grünen Eisendächer der Stadt. Tief da unten fahren Droschken, Elektrische, Lastwagenkarawanen auf den breiten Straßen; der Kamerad, die braune Sportmütze auf dem Kopf, schreitet da unten über die grasbewachsenen Ruinen der alten Zivilisation, mit der Flinte auf dem Rücken wie der Jäger, der seine Nahrung sucht.

Alle Menschen in Moskau haben Tollkraut gegessen. Nur die Priester in ihren weibischen Gewändern, nur die Kutscher in ihren dicken, faltig blauen Kaftanen und den drolligen kleinen Zylinderhüten, und nur die alten wohlgeschulten Glockenläuter auf ihren Türmen sind sie selbst geblieben und hüten zäh entschlossen die Pflichten ihres Standes. Die Kerzen der Kirchen brennen dunkler, aber noch immer lauscht das Volk dem kunstvollen Singen der langhaarigen Männer vor den goldenen Kirchenwänden. Noch immer spricht der Fahrgast mit dem Kutscher wie mit einem alt vertrauten, wenn auch misslaunig gewordenen Freund. Und noch immer lauschen die Christenmenschen heute, in diesem unbegreiflichen paralytischen Zustand, in dem das Geld und die Nahrung alle Kraft verloren haben, dem Läuten der Kirchenglocken mit dankbarer Vergesslichkeit. Plötzlich klingen sie von Türmen herab, zart und fest wie die Stahlharfe, in einem launisch gebündelten Rhythmus. Stille, und abermals klirrt wie ein umgestürzter Instrumentenkasten dieses Läuten, das eigensinnig Dissonanzen festhält, so gewillt es auch scheinen mag, sich in gütige Harmonien aufzulösen. Diese Glocken, die mitten im Werktagsnachmittag erwachen, sind Herolde mythischer Festzeiten. Sie singen am Sabbathabend und am Auferstehungsmorgen, sie rufen zur Messe, sie fegen mit ihrem stolzen, zeremoniellen Dahineilen die staubigen Pfade. Sie richten mit donnernden, groben Paukenschlägen Altäre auf, sie stocken, um mit reichen Klaviaturen Heiligenbilder in die Luft zu malen. Wiesen, Urwälder, Vogelschwärme von Glockentönen sind in der Luft, ein Schnattern, Zirpen, Prasseln, ein monotones, durch Entfernungen gedämpftes Sprudeln der Töne, das Losrennen wilder Steppenpferde mit allen Glöckchen der Troika, Ein beharrliches, schroffes Schmiedehämmern, ein kapriziöses Sichausphantasieren, ein blechernes Dengeln, ein brummendes Behaupten dunkler Worte, ein frommes Verstummen. Der düstere Tonbaldachin der Domglocken von Naumburg, das süße Klimpern englischer Landkirchen aus Efeu und wilden Rosen, die den aus Indien Heimgekehrten unwahre Märchen aus der Jugend erzählen, die klugen Rufgespräche der Glocken am Comersee, — das alles lässt sich mit diesen unbezähmbaren Glocken nicht vergleichen. In einer künftigen russischen Musik wird noch das alte Moskau läuten, werden diese Noten, die von einsamen Turmheiligen in Rostow oder Solowjezk erfunden sind, gespielt werden und die Menschen mit ihren unerschöpf hohen Kindereien, mit ihrem herzzerreißenden Humor, mit ihrem mönchischen Eifer, mit ihrem samtenen Ernst durchwühlen.

Diese gefesselte Stadt, die keinen Handel mehr treibt, die müßig geht und sich entvölkert, hat kaum noch anderes zu sein als eine Sonnenuhr der Jahreszeiten. Sie ist schön im Sommer mit seiner frühen starken Morgensonne, mit seinen tiefgoldenen Abenden, mit dem Dschungel aus Laub und ungemähtem Grase vor den Mauern des Kreml, die den Feuerschein ewiger Lampen wiedergeben. Schön sind die stillen, verlassenen Straßen mit den einzelnen schweren Wipfeln gekrümmter Bäume, schön ist die spiegelnde Heiterkeit des Flusses, der mit rauschendem Wehr, im Bogen hingelegt, zwischen schrägen Wiesenstreifen mit grasenden Pferden und Kühen, zu Füßen der weißen Zarenburg dahinzieht. Badende tummeln sich schamlos, rosigsilbern, in diesem kühlen Wasser. Angler, von nichts Irdischem berührt, liegen mit ihren Kähnen quer im Flusse. Es ist schön, in der Abendkühle auf einem kleinen Balkon zu stehen, zerzauste Erlen und Gartentannen zu deinen Füßen. Vor dir, nicht fern, nicht nah, auf sanften Hügel hingebaut, leuchten bunte Spielzeugpaläste mit dem weißen, breiten, gekrönten Schloss in der Mitte, umgeben von rötelfarbenen Türmen mit steifen, eckigen Windfahnen, eine Summe von einigen dreißig Türmen und Türmchen, braunes Gemäuer und fleischrote Wände von Zwergkirchen, schlanke, freistehende Türme mit bronzenen Helmen, steinerne Baldachine, lanzenähnliche Spitzen, untermischt mit dem dunkeln Grün der Baumgruppen und der Wälle.

In diesem stolzen Schloss liegt Lenin auf dem Krankenbett, aus dem Tumult des Fabrikhofes hierhergetragen. Du sähest ihn oft auf dichtbevölkerter Bühne, den kleingewachsenen Mann mit dem lächelnd nüchternen, beredten Munde, die Hände in den Hosentaschen, die listigen Augen in die Ferne gerichtet, den Tamerlan des neuen Weltgerichts. Seine Getreuen hausen um ihn her in den Wohnungen der einstigen Kavaliere und der Hofbeamten; sie sitzen vielleicht in diesem Augenblick, schmutzig, übernächtig, in ihren schwarzen Lederkleidern, mit Pistolen im Gürtel, in heißer Beratung an den silbernen Tischen, vor kristallenen Spiegeln. Es wird Nacht, draußen um das weiße Schloss beginnen die Bogenlampen zu knistern und aufzustrahlen. Dekrete werden fertig, die am nächsten Morgen in der Zeitung stehen und mit einem Schlage diese sommerliche Stadt noch stiller machen.

Drüben am anderen Ufer starren klobige Silhouetten von Fabriken mit dicken Schornsteinen, mit breit herrollenden Glaswölbungen, mit niederen Eisendächern, mit mäßig hohen Kirchentürmen von rohem Aufbau in die halbhelle Nacht, holzschnitthaft, mit Glocken, die in den Türmen ruhen wie Erbsen in der Schote.

In den Herbsttagen stehen Knaben, die Astern verkaufen, in den blaugrauen Taubenschwärmen vor dem roten Strastnoikloster am Ende der Boulevards. Die Boulevards ziehen scheckige Bänder durch die Stadt. Auf den Stühlen unter dem Laubdach sitzen blasse, stille Leute und sehen, ohne zu lächeln, von Tagesgerüchten matt bewegt, in den Schwärm der jugendlichen Menschen, die sorgenlos vorübergehen. Regen verdüstert die Fabrikviertel, denen sich ohne Übergang die Wälder und Bäche des Landes anschließen. Im Namen des Proletariats sind Häuserblocks mit Hunderten von Wohnungen mit Bad und Speisekammern in der Mitte der Stadt diktatorisch geräumt worden, aber die Arbeiter wollen ihre engen, dunkeln Löcher, die Nähe der Fabriken nicht verlassen. Fahrten auf das Land in überfüllten Eisenbahnwagen, Regentag und Bad am kleinen Fluss im Grünen, Radfahrer auf schlammigen Landwegen. Mahlzeit im Tannengarten vor der hölzernen Sommerhütte, Heimkehr des Volks mit Säcken voll Kartoffeln und voll Pilzen auf dem Rücken. Rauschendes Hinwehen der Blätter in der niegefegten Allee, Schwärme von Zugvögeln, die den Himmel verdunkeln, tiefes Erschauern der Abende, kaltes Nachtwerden.

Mit einem Male gehen die Menschen durch herbe Morgennebel, in dicken Mänteln und ausgetretenen Galoschen, schwerfälliger. Aber die Stadt feiert nun, mit gründlicher Ironie gegen den grauen Himmel, das Jahresfest der Revolution, lärmend und freigebig. Handwerker klettern, knallige Transparente emporhebend, in den roten Fensterbogen des Stadtgebäudes. Großen Leinenwänden sind liegende Gestalten aufgemalt in rubenscher Fülle, mit Fruchtzweigen überschattet, mit Ähre, Sichel und Hammer in der muskeligen Hand des Mannes, grelle Lichter in düsterroten Rahmen. Allegorien von grünlicher Zersetztheit sind futuristisch an Säulenhallen aufgehängt. Blutrote Schürzen schweben über den dicken Säulen des einstigen Kaiserlichen Theaters am weiten Platz, Die Bäumchen in den Gartenanlagen davor sind kugelig beschnitten und mit silberigem Flor umhüllt; die Sträucher mit ihren nackten Gerten und den dürren Blättern, die der Herbst noch übrig ließ, sind blau gefärbt. Frech und witzig schufen Künstler mit diesen Silberbäumchen und mit diesen ultramarinblauen Büschen einen hektischen Frühling, sie verwandelten durch Schnörkel aus dicken, bunten Flüssigkeiten die winterlichen, kahlen Beete in sonderbare Torten, stellten dem Volk auf phantastischen Gerüsten riesengroße Sonnenblumen auf die Straße. Hauswände sind freimaurerisch mit neuen, uralten Symbolen, mit Schwarz, mit Dunkelblau, mit Siebengestirnen, mit aufgehenden Sonnen verhangen. Mitten auf den Plätzen stehen Tribünen, verkleidet in Pierrotstoffen, in ekstatischen Blättermustern. Man hat mit Seilen und mit Äxten vor dem ehemaligen Palast des Generalgouverneurs das Denkmal des Generals Skobelew samt allen seinen vorwärtsstürmenden eisernen Soldatenfiguren niedergerissen und aus Zement einen noch feuchten Obelisk errichtet, der eine Rednerkanzel trägt. Die Balkone des Gouverneurpalastes tragen wehende, rote Fahnen; von allen Fenstersimsen hängt in ewiger Wiederholung das unheraldische Wappen der wildesten Republik: die von der Sichel gefasste Ähre auf runden, mennigroten, karmesinfarbenen und weißen Skythenschildern. Der Bauzaun eines unvollendeten großen Eckgebäudes nicht weit davon bietet eine Bretterfläche, die sich bis in die Nebenstraße fortsetzt; Kandinski mit seinen Schülern hat diese Fläche entdeckt und in Beschlag genommen. Die Maler haben Kübel voll Farbe an ihr leergemacht, sie führten ihre Pinsd und Besen mit orgiastischer Armbewegung, malten Jünglingsgestalten von elegant verschrobener Magerkeit, marschierende Gestalten, wirbelnde Räder, sprühende Kanonenschlünde, prismatisch auseinandergerissene Lichter, und über einem schwarzen Eisenleib mit glühenden Laternenaugen die Inschrift: Die Revolution ist die Lokomotive der Geschichte.

An der Ecke der breiten, kurzen Marktstraße des Ochotnij Rjad und der Großen Dmitrowka steht das Säulengebäude des einstigen Adelsklubs, rot wie ein Metzgerladen mit seinen Fahnen, Rosetten und Transparenten; abends glüht die gläserne Kuppel feuerrot auf diesem Gebäude, und die Säulenreihen strahlen blutig von unzähligen Glühbirnen. Die alten Marktbuden dieser Straße mußten herhalten; man hat ihre Rückseiten mit Spielkartenmustern bemalt, mit welligen Farbenbändern, mit japanischen Würfeln, mit strotzenden Tulpensträußen, mit Mustern weiß und gelb, grün und zinnoberrot, dunkelblau, hellblau und violett, so daß sie aussehen wie die Arbeiten einer kunstgewerblichen Kinderklasse. Auch die alten bescheidenen Fassaden der Kleinbürgerhäuser dahinter mit ihren verlassenen Fischhandlungen gerieten unter diese Despotie der Farben; sie sind gelb gestrichen wie Postkutschen, rotbraun, schwarz und grün. Die niederen Häuser und Hoftore der gegenüberliegenden Straßenseite sind mit Tannenreisig verkleidet. Nur die schmale, drei Stock hohe weiße Kirche steht an der Seite des Fahrdammes ungeschmückt.

Und am siebenten November, dem Hochzeitstag der Idee und des Chaos, marschieren die Massen auf den historischen Roten Platz vor dem Kreml. Sie kommen aus allen Gegenden der Stadt in roher Ordnung. Sie kommen mit scharlachroten Kattunfahnen, auf denen weiße Buchstaben den Gruß der Revolution wiederholen, mit gestickten Bannern aus dunkelrotem Sammet, mit hölzernen Tafeln, mit papierenen Emblemen. Sie umringen Lastwagen, deren Pferde von struppigen Gestalten geführt werden, die wie die Würdenträger einer noch nicht vergessenen Zeit in echte Generalsuniformen, in grüne goldgestickte Diplomatenfräcke und weiße Hosen gekleidet sind. Auf diesen Lastwagen stehen Weiber in köstlichen uralten Nationaltrachten aus den Moskauer Museen, kauern Soldaten schauspielerisch mit gefälltem Gewehr. Frauenvereine und Fabrikpersonale marschieren, dazwischen Truppen in ihren erdbraunen Mänteln, mit zottigen Pudelmützen und blinkenden Bajonetten. Panzerautos, eckig geschnitten, hoch und schmal, von verschiedenster Konstruktion, in braungrüner Kriegsbemalung, violette Maschinengewehre. Singend strömen die Massen zusammen; der immerwährende Posaunenton der Musikkapellen von allen Seiten klebt in die Ohren die Melodie der Internationale, feierlicher Liebesgesang, näherkommend bedrückender Choral. Ozeanisches Murmeln der Zehntausende, die sich zum Hunderttausend vereinen; gurgelnde, wimmelnde, in sich bewegte Masse, über der plötzlich mit rauschenden Motoren weiße Flugzeuge erscheinen, die tief herniedertauchen und jäh in das türkisfarbene Blau zurückstreben. Man sieht Menschen in diesen Flugzeugen schlank aufgerichtet, weiße Blätter schneien hernieder. Tausend Hände zappeln in die Höhe, um diese Blätter aufzufangen, die, vom Windschlag der Hände getroffen, nochmals emporschweben ehe sie im Gewühl zerknittert und verschlungen werden. In schmalem Zuge kommen Matrosen daher in schwarzen Uniformen, mit goldenen Namen verlorener Schiffe auf der Mütze, kommen die Mannschaften und die Weiber der gefürchteten Außerordentlichen Kommission in neuen Paradeanzügen aus schwarzglänzendem Leder, begleitet von Automobilen, die zu Booten umgebaut und mit buntem Musikantenvolk besetzt sind. Zwischen den Zinnen des Kreml stehen Zuschauer, Zuschauer wiegen sich auf den Baugerüsten, die die angeschossene Kirche, das von Kugelspuren zerschundene Senatsgebäude umgeben. Zu Füßen der Mauer liegt, von Stacheldrähten eingefasst, ein schmales Rasenbeet, das Massengrab der Revolutionsopfer vor einem Jahre, mit Kränzen im Grase. Vor dem Turm hier in dieser alten Mauer fielen bei den Unruhen im vorigen Oktober Hunderte von Menschen. Er ist derselbe, vor dem einst Peter der Große stand und der Hinrichtung seiner Strelitzen zusah. Er trägt jetzt auf seinem ziegelroten Gemäuer eine Allegorie der Freiheitsgöttin, buntes, wie Porzellan glänzendes Halbrelief, und an seinen Kanten schmale Streifen aus schwarzem Tuch. Auf beiden Seiten aber, wie Flügel bis zu den Zinnen emporschlagend, sind goldene Sonnenflammen auf die Mauer hingemalt. Es scheint, als müsse sich der Turm, phantastischer Pegasus, augenblicklich gen Himmel heben. Vor ihm steht wie ein Schemel die mit rotem Tuch behangene Treppe der Redner. Von hier aus schallt die belegte, starke Stimme über die in sich bewegte, immer noch vom fernen Gesang erfüllte Masse.

Durch die Straßen sausen Lastautos mit begeistert spazierenfahrenden Menschen, die rote Fähnchen schwingen. Truppen, untermischt mit weit ausschreitenden Frauen, marschieren den Kasernen zu. Man hat die steinernen Throne vor dem Kreml, die kubischen rotbraunen Marmorsockel vor der weißgoldenen Kathedrale von ihren ehern sitzenden Zaren leergemacht. Aber eine Schar von Genien und Verbrechern hat diese Stadt erobert; ihr plötzliches Dasein durchzittert die Atmosphäre. Die hagere Greisengestalt Tolstois erhebt sich über herbstlichen Gärten, das durchfurchte Antlitz Dostojewskis, die dicke, dunkle Büste von Jaurès, das kalkweiße Zwillingsdenkmal von Marx und Engels. Robespierre, Figur aus kupferig bemaltem Zement, steht dozierend zwischen Bäumen vor den alten Wehrmauern des Kreml; unweit von ihm, aus steinernem Gestrüpp hervorbrechend, mit geschwungener Hand, Abbild des Mannes, der nahe dieser Stelle im Jahre 1905 den Großfürsten Sergej erlegte. Bürger machen feindselige Umwege um die vom Triumph der Plebejer erfüllten Straßen. Alle Läden sind geschlossen.

In diesen Nächten sind die Theater freigegeben. Sie spielen dem Volk phantastische Aufruhrszenen Verhaerenscher Gedichte, spielen, jäh aus dem Dunkel mit hysterischen Schreien und wildem Tücherschwenken gespenstischer Amoretten ins grelle Licht gezaubert, vor Kulissen aus schlichtem Pappdeckel und in simplen Kostümen aus Sackleinen, die nur in flüchtig aufgemalten Schnörkeln die Andeutung historischer Trachten geben, Momente der französischen Revolution. Barfußtänzerinnen, zwischen Kübelpalmen hervorhuschend, gaukeln einem Parkett von proletarisch in wollenes Wams und Lederjacke gekleideten Männern ihre magere slawische Grazie vor zu den Tönen Chopinscher Musik, zu Wiener Walzerklängen.

Stiller Heimgang durch die Straßen der tiefen Nacht, durch den Park, wo Dohlenschwärme laut krächzend vor dir her von Wipfel zu Wipfel flüchten. Du suchst, mein Freund, verstört und zweifelnd Robespierre unter den schwarzen, russischen Bäumen. Was ist geschehen? Die Rächer leben noch! Geisterhände haben ihn, der schon drei Tage stand, von seinem Sockel herabgestürzt, in kleine Stücke zerschlagen. Du gehst, als sammeltest du auf diesem nächtlichen Weg die Pfeile des Daseins in deinem Herzen. Vielleicht beginnt der große, erste Karneval der Weltgeschichte, vielleicht der letzte. Jubel des Unterganges, Totentanz der Anmut, anarchische Geburt eines neuen Wesens. Das Sterben alter Dinge bewegt dich grausam mit düsterem Mitleid, mit titanischen Hoffnungen. Über die Schatten des Alten ergießt sich die Orgie einer rasenden Kunst, märchenhafter Triumph der Anilinfarben. Aber das Leben, fragwürdig in jedem Schritt, ist wieder ein Dasein geworden ! Das verhasste Zeitalter der Geschäfte ist wahrhaftig hingemordet, das alte, feige Philisterium, jenes alleswissende Bürgertum von früher, ist von seinen eigenen Knechten erschlagen. Roh und gespenstisch bauen sich größte Entwürfe, unsichtbare Türme eines entfesselten idealen Willens in das geräumige Nichts, Das Volk taumelt, es flüchtet, um aufzuschreien, in die Kirchen, und es stürzt, im noch unvollendeten Gebet, davon, den roten Fahnen nach. Aus sausenden Automobilen grüßen Hände gen Himmel: auch der alte Herr da oben ist Bolschewik geworden.

Du nimmst Abschied an einem Abend, wo der erste schwere Schnee diese Stadt mit weißem Pelz bedeckt. Die Fahrt zum Bahnhof wirst du nicht vergessen, den Händedruck eines jener Männer, die dort im Osten bleich lächelnd wie Mondsüchtige den Kampf Europas um sich selbst entfesselt haben, diesen Händedruck des Mannes, der derb und warm ist wie der Händedruck seines Kameraden, des Chauffeurs. Der Zug steht noch ohne Maschine in dem vom feuchten Nachtwind durchheulten Bahnhof; er gleitet erst am nächsten Morgen durch graue Landschaften, die von Schüssen widerhallen. Er kommt auf halb verlassene Stationen und wagt nicht zu halten, aus Angst, von den bei ihren Feuern im kalten Winterwetter lagernden Männern gestürmt zu werden. Es sind einstige Soldaten, die gewohnt sind, in Erdhöhlen zu leben, Männer, die vier Jahre im fremden Deutschland kriegsgefangen waren, die unter starken Generalen in Reih und Glied einst auszogen und nun in Schwärmen Tag und Nacht zu dieser Stadt hinstreben in endloser, sehnsüchtiger Wanderung.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau