Die Wendung des russischen Imperialismus

In einer im Oktober 1917 in Petersburg erschienenen Broschüre bezeichnet der frühere Gesandte Russlands in Madrid und Tokio, Baron Rosen, Japan als den Hauptfeind Russlands. Er fordert die Aufhebung des russisch-japanischen Vertrages vom 3. Juli 1916, der Russland an das imperialistische Japan binde. In ihrem Vertrage verpflichten sich die beiden Länder, China gegen jedes Attentat einer feindlichen Macht zu schützen. Rosen meint, nur wenn Russland so bald wie möglich Frieden schließe, werde es imstande sein, im nächsten Jahrzehnt seine Besitzungen im Osten gegen Japan zu verteidigen. Die russische Revolution habe Japans Politik Russland gegenüber vollständig verändert.

Wieweit diese Behauptung zutrifft, sei dahingestellt. Dass aber Russlands Politik zunächst China gegenüber und in der Folge auch gegenüber Japan seit dem Auftreten der Bolschewikiregierung grundsätzlich eine andere geworden ist, geht aus der im Januar 1918 in Angriff genommenen Revision des Vertrages von 1898 über die chinesische Ostbahn, hervor. Die Absicht des Rates der Volkskommissare, mit der chinesischen Republik in einer Frage, die bisher als eine rein koloniale galt, auf dem Boden der Gleichberechtigung zu verhandeln, stellt das gesamte Verhältnis Russlands zu dem chinesischen Reiche auf einen neuen Boden und läuft in ihrer letzten Absicht auf eine Vereinigung der beiden „Demokratien“ gegen das monarchische Japan hinaus. Rosen behauptet, das imperialistische Programm, das die japanische Regierung beim Friedensschluss durchzusetzen suchen werde, bedeute für Russland die größte Gefahr. Russland könne nicht den geringsten Vorteil davon haben, den jetzigen Krieg fortzusetzen. Denn wenn es Russland im günstigsten Falle gelingen sollte, Deutschland auf lange Zeit lahmzulegen, so werde es sich selbst dadurch in solchem Maße schwächen, daß es nicht imstande sein werde, den künftigen japanischen Angriff im fernen Osten abzuwehren. Aber die Dinge haben sich heute bereits vollkommen geändert. Nicht mit den Waffen der Heere will das heutige Russland kämpfen, sondern mit den Waffen der sozialen Revolution. Nicht an Besitzungen und Interessengebieten im alten Sinne ist ihm gelegen — größerer Länderausverkauf ist niemals dagewesen — , sondern am Einfluss des „russischen Gedankens“.


Während des ersten Kriegsjahres, als der Feldzug im Westen bereits alle Kräfte Russlands in Anspruch nahm, verfolgten die Gesandten der Zarenregierung in Peking wie in Teheran noch jene Politik der friedlichen Durchdringung ruhig weiter, die den russischen Einfluss wie nach einem physikalischen Gesetz auf immer neue Länderstrecken Asiens ausdehnte. Noch kurz vor seiner Übersiedlung von Peking nach Tokio brachte der Gesandte Knipenski einen russisch-chinesischen Vertrag zustande, der Russland das Recht zugesteht, von zwei Stellen der chinesischen Ostbahn aus neue Zweigbahnen zum Amur zu bauen. Diese sollten gegenüber Blagoweschtschensk zusammentreffen und die Nordmandschurei dem russischen Einflüsse noch mehr als bisher erschließen.

Im Herbst 1915 begannen Konferenzen zwischen den Vertretern der von Russland verwalteten chinesischen Ostbahn und der russischen Freiwilligenflotte einerseits und dem japanischen Verkehrsministerium andererseits, das sich dabei durch die Direktoren der japanischen Staatsbahn, der japanischen Südmandschurei- und Korea-Eisenbahnen sowie der am Schiffsverkehr nach Korea und Dalni j interessierten Osaka Shosen Kaisha vertreten ließ. Zwischen den russischen und japanischen Eisenbahnen im Osten hatte seit 1905 ein ständiger Tarifkrieg stattgefunden. Dieser Streit endete schließlich mit einem Siege der Japaner. Japan übernahm den größten Teil der Kohlenlieferungen für die russischen Eisenbahnen im fernen Osten sowie für die russische Dampfschifffahrt in Chabarowsk und in Wladiwostok, nämlich 43 von 75 Millionen Pud jährlich. Die Japaner erhöhten gleichzeitig den Preis für die Tonne von 19 auf 37 Rubel.

Um ihm den Rückzug leichter zu machen, gab Japan Russland zunächst in der Mongolei freie Hand. Die von Russland angelegte neue Telegraphenlinie von Werchne-Udinsk über Urga nach Kaigan wurde zwar von der angeblich unabhängigen mongolischen Regierung übernommen, aber von Russland verwaltet. Schon seit dem Jahre 1905 hatte die russische Einwanderung in der nördlichen Mongolei stark zugenommen. Noch während der ersten Zeit des europäischen Krieges wurde sie von Russland in jeder Weise gefördert. Der russische diplomatische Agent in Urga, Orlow, war Ratgeber des Oberhauptes der mongolischen Regierung. Die russischen Wollhändler und Viehzüchter, die seit Jahrzehnten in jedem Frühling in die Mongolei zu reisen pflegen und im Herbst nach ihren südsibirischen Heimatsorten zurückkehren, durften sich in den Gegenden von Kobdo und Uljassutai heimischer fühlen als je. Die russischen Veterinärstationen und Handelsniederlassungen in den von Wäldern und fruchtbaren Weidegründen bedeckten Hügellandschaften des nordmongolischen Fürstentums Chalcha wurden zu einer ständigen Einrichtung. Es handelte sich um nichts weniger als um eine versteckte Annexion. Das letztgenannte Gebiet ist wegen seines Viehreichtumes für die Versorgung der sibirischen Städte Irkutsk und Tschita von großer Bedeutung. Japanische Firmen errichteten sofort in Tschita eine Konservenfabrik für die russische Armee.

Die Regierung Nikolais II. hatte schon nach dem japanischen Kriege begonnen, in das von einigen hunderttausend nomadisierender Sojoten bewohnte Gebiet von Urjanchai, das Quellgebiet des Jenisseiflusses, das durch die Selbständigkeitserklärung der Mongolei von China abgeschnitten worden war, einen beträchtlichen, von Kosakenabteilungen unterstützten Beamtenstab vorzuschieben. Die bekannte Revolutionärin Frau Breschko-Breschkowskaja hat die Jahre ihrer sibirischen Verbannung an den Grenzen dieses Gebietes verbracht. Nach einem Bericht, den sie nach ihrer Rückkehr nach Russland auf Wunsch des damaligen Ministers Miljukow an die vorläufige Regierung erstattete, war das vorher friedliche Urjanchaigebiet von den russischen Eindringlingen innerhalb weniger Jahre „völlig zerstört“, das Volk von den russischen Abenteurern in der schamlosesten Weise ausgeplündert worden. Unter den Eingeborenen machte, genau wie unter den Burjäten im benachbarten Gouvernement Irkutsk, die Trunksucht große Fortschritte. Schließlich drohte ein allgemeiner Aufstand. So war die Lage im Jahre 1916.

Nach dem Ausbruch der russischen Revolution im Frühjahr 1917 änderten sich die Verhältnisse in der Mongolei mit einem Schlage. In ihrem erwähnten Bericht schlägt Breschko-Breschkowskaja vor, die Bevölkerung des Urjanchaigebietes durch die Einführung einer humanen Verwaltung zu beruhigen und die russische Einwanderung zu vermindern. Vielleicht war dieser Vorschlag nur eine Umschreibung der Tatsache, daß die russischen Einwanderer bereits von selbst begonnen hatten, dieses Gebiet, ebenso wie die gesamte nördliche Mongolei, wieder zu verlassen. Die in die Nordmongolei entsandten Vermessungsbeamten, die beauftragt waren, den Besitz der dortigen russischen Ansiedler und Pächter festzustellen, stießen im Frühjahr 1917 auf den offenen Widerstand der Mongolen. In Petersburg sprach man plötzlich von den großen Unkosten dieser Expeditionen. Die mongolischen Behörden aber, allem Anscheine nach unterstützt von japanischen Ratgebern, erklärten alle seit 1912 von Russen in ihrem Lande abgeschlossenen Bodenverkäufe für nichtig. Sie beriefen sich auf gewisse Unklarheiten in dem mit Russland abgeschlossenen Vertrag über das Niederlassungsrecht und setzten für die gepachteten Grundstücke so hohe Steuern an, daß sich die Kolonisten gezwungen sahen, das Land zu verlassen. Natürlich spielt bei diesen Vorgängen auch der Niedergang des russischen Geldkurses und der Mangel an allen jenen Waren, die sonst im Tauschhandel der Russen mit der mongolischen Bevölkerung einen Wert hatten, eine Rolle.

Ähnlich wie in den mongolischen Grenzländern liegen die Dinge gegenwärtig in den russischen Einflussgebieten in Mittelasien. In den hauptsächlich von Kirgisen bewohnten Grenzgegenden zwischen Südsibirien und Turkestan setzten die Russen ihre Durchdringungspolitik noch in den Jahren 1915 und 1916 kräftig fort. Dies gilt vor allem für Taschkent und den an der Nordostecke Turkestans gelegenen Kreis Przewalsk, wo russische Ansiedler, vor allem Reservisten, eines Tages die Kirgisen mit Gewalt von ihren Weiden und ihrem gut bewässerten Ackerland vertrieben. Die Kirgisen flohen in Scharen auf chinesisches Gebiet; dort kamen sie allerdings vom Regen in die Traufe. Räuberische Turkmenenstämme nahmen ihnen ihr ganzes Hab und Gut. Viele kamen elend um. Auf die Kunde von der russischen Revolution versuchten die Vertriebenen im Sommer 1917 in ihre Heimat zurückzukehren. Nach einem an den damaligen Kriegsminister Kerenski erstatteten Bericht wurden aber diese Unglücklichen bei dem Versuch, durch die Pässe des Seissangebirges in ihre Heimat zurückzukehren, von Banden russischer Deserteure angefallen, die ihnen nun auch ihr letztes Vieh wegnahmen und angeblich aus Furcht vor den Seuchen, mit denen die Zurückkehrenden die russische Bevölkerung bedrohten, die meisten von ihnen aus dem Hinterhalt niederschössen.

Nichts hat der muselmanischen Bewegung in Turkestan, Chiwa und Buchara eine solche Energie gegeben wie die lange Reihe der russischen Ausschreitungen während des Krieges und die Aussaugungspolitik der russischen Regierung. Während im ersten Kriegsjahr der Generalgouverneur von Turkestan noch fortfuhr, die üblichen „hydrographischen Expeditionen“ zur militärischen Erforschung des als Grenzgebiet nach Indien wichtigen Pamirhochlandes auszusenden, während noch 1915 aus den Steuern des reichen Turkestangebiets beträchtliche Summen für den Ausbau des nur für den Aufmarsch gegen Indien wichtigen strategischen Eisenbahnnetzes verwendet werden konnten, begann im Frühjahr 1916 ein System der schonungslosen Ausbeutung zugunsten der europäischen Kriegskasse. Man hob die unruhigen, weichlichen Sarten als Kriegsarbeiter aus und sandte sie als Industrie- und Landwirtschaftsarbeiter nach Süd-Russland. Der Aufstand der Turkmenen brach aus. Zu seiner Unterdrückung wurde Kuropatkin im August 1916 von der Rigafront nach , Turkestan entsandt. Der im Sommer 1917 von der vorläufigen Petersburger Regierung Kerenskis nach Turkestan entsandte Kommissar aber mußte die aufsässig gewordenen Muselmanen schon durch den Hinweis zu beruhigen suchen, daß das Turkestangebiet nicht nur als russisches, sondern in gewissem Sinne auch als englisches Einflussgebiet zu betrachten sei, so daß ein Aufruhr in Turkestan auch eine englische Einmischung zur Folge haben könne. In den Khanaten Buchara und Chiwa organisierten sich die Turkmenen aufs neue in großen gut bewaffneten Banden, die ungestraft Dörfer und Städte niederbrannten, feudale Grundherren von ihren Gütern vertrieben und triumphierend das in Petersburg verkündete Selbstbestimmungsrecht der Nationen als Bedingung für ihren eigenen freiwilligen Anschluss an den Verband der russischen Republiken aufstellten.

Es gibt anscheinend unter den Muselmanen Zentralasiens zwei zusammenfassende Strömungen, eine konservative und eine radikale. Die erstere hat ihre Vertreter in einem Teil der Geistlichkeit, bei den Grundbesitzern und den eingeborenen Fürsten. Diesen mächtigen Khanen, die auch von der alten Regierung stets mit großer Rücksicht und Auszeichnung behandelt worden waren, sicherte die vorläufige russische Regierung in den ersten Wochen nach der Märzrevolution die Erhaltung ihrer alten Rechte zu. Damit waren aber die Vertreter der radikalen muselmanischen Richtung ebensowenig zufrieden wie die aus Unken Sozialrevolutionären und Bolschewisten bestehende Mehrheit der Russen im Lande. Als besonders unternehmend erscheinen die sogenannten Jungbucharen, die nach dem Vorbild des Salonikier „Komitees für Einheit und Fortschritt“ entschlossen scheinen, mit der alten despotischen Regierungsweise aufzuräumen und sich mit den russischen Sowjets in Turkestan, Buchara und Chiwa verbündeten.

Über den augenblicklichen Stand der Dinge in Turkestan fehlen genaue Nachrichten. In Taschkent und den übrigen Städten Turkestans haben die bolschewistischen Truppen nach ihrem Sieg über die Kosaken und nach einer Bartholomäusnacht unter den Offizieren, die an Scheußlichkeit nicht hinter den Taten von Helsingfors und Sebastopol zurücksteht, die Oberhand. Zwischen diesen russischen Soldaten und den Muselmanen in ihrer Gesamtheit scheint ein Kompromiss geschlossen worden zu sein.

Dass die muselmanische Freiheitsbewegung in Mittelasien nach Ausbruch der russischen Revolution von Turkestan über Chiwa und Buchara auch nach Persien übergriff, kann bei den engen Verkehrsbeziehungen zwischen diesen Gebieten nicht wundernehmen. Eine in Manchester vor dem Kriege erschienene Broschüre schildert die Schreckensherrschaft, die von den Russen im Dezember 1911 und Januar 1912 mit schweigender Duldung Englands in Nordpersien aufgerichtet worden war. Das russische Militär veranstaltete in Täbris und Teheran Massenhinrichtungen unter den persischen Freiwilligen, die es gewagt hatten, den Eindringlingen Widerstand zu bieten. Überall im Lande errichtete man russische Handelsniederlassungen und Konsulate. Den russischen Handelseinfluss über die Südufer des Kaspischen Meeres auszudehnen, war eine der Lieblingsaufgaben der mittelasiatischen Abteilung der Moskauer Ausfuhrkammer. Das Vorgehen Russlands gegen Persien und die von schwedischen Offizieren befehligte persische Gendarmerie während des Weltkrieges ist noch in Erinnerung.

Im Frühjahr 1916 hielten russische Truppen ihren Einzug in Teheran. Ihnen folgten Scharen russischer Händler auf dem Fuße. Die in Russland schon damals eingetretene Warenknappheit schien kein Hindernis zu bilden, daß Zucker, Eisenwaren und Kattune aus Russland in Massen auf dem persischen Markt erschienen. Die „Nowoje Wremja“ verkündete triumphierend „die wohlbegründeten Rechte Russlands“ auf den ganzen Petroleumreichtum in Nordpersien.

Die persische Regierung protestierte vergebens gegen die unaufhörliche Vergewaltigung persischer Hoheitsrechte und namentlich gegen den Ausschluss der persischen Schifffahrt vom Kaspischen Meer. Noch im Sommer und Herbst 1916 begann eine regelrechte Völkerwanderung russischer Bauern über die Grenzen des transkaukasischen Gebietes nach Nordpersien ebenso wie in das von den Russen besetzte Armenien. Der Befehlshaber im Kaukasus, Nikolai Nikolajewitsch, der in Anbetracht der wachsenden Staatsschuld Russlands weder vom Kriegsminister noch vom Finanzminister die von ihm geforderten Millionen zur schleunigen Ansiedelung russischer Bauern in Nordpersien und Armenien erhalten konnte, wandte sich schließlich an das Landwirtschaftsministerium, das im Februar 1917 die geforderten Kredite bewilligte. Den aus Armenien geflohenen Armeniern, Türken und Kurden wurde die Rückkehr in ihre vom Krieg verheerten Dörfer verboten. Aber dann kam auch hier der Umschwung plötzlich und gründlich. Die russische Kaukasusarmee löste sich auf. Der Rat der Volkskommissare vermochte sein Interesse für Armenien nur in revolutionären Aufrufen, nicht aber in effektiven Maßnahmen gegen die Wiedereroberung von Erserum und Trapezunt durch die Türken kundzugeben. Von der Front in Nordpersien strömten die bewaffneten russischen Scharen in ihre Heimat zurück, und selbst die persischen Demokraten, die den russischen Revolutionären noch einige Monate vorher auf einer Konferenz in Aserbeidschan ihre Sympathie ausgesprochen hatten, vermochten die feindselige Haltung der eingeborenen Bevölkerung gegen ihre früheren Peiniger nicht zu mildern. In Transkaukasien hatten Grenzkosaken und eingeborene Muselmanen einen harten Stand gegen die kurdischen und persischen Stämme, die sofort gegen russisches Gebiet vorzurücken begannen, in die fruchtbare Mughanaebene einfielen und selbst Baku mit seinen industriellen Reichtümern bedrohten.

Noch im Herbst 1914 hatte der damalige Ministerpräsident Goremykin die Stirn, zu erklären, daß die Eroberung Galiziens, der Bukowina, Schlesiens und Ostpreußens nur eine notwendige Abrundung des russischen Landbesitzes in Europa bedeuten würde. Der gleiche Hyperimperialismus beseelte die russische Politik in Finnland. Nach der miUtärischen Niederlage Russlands, die dann im März und November 1917 die Staatsumwälzungen hervorrief, ist dieser Geist scheinbar ein anderer geworden. Russland sucht gegenwärtig durch die mit dem ganzen Nachdruck einer offiziellen Staatslehre vorgebrachte Predigt des Kommunismus und der Abschaffung der Klassen- und Rassenunterschiede die militärische Niederlage in einen revolutionären Sieg über seine' Nachbarvölker zu verwandeln. Nach einer kurzen, halb bürgerlichen Übergangszeit hat dieses geschlagene Russland die jetzige Regierung der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrepublik hervorgebracht, die sich mit ihren aus Smolny und Brest-Litowsk bekannten Manifesten an die ausgebeuteten Volksmassen aller Länder wendet und dem diplomatischen und militärischen Imperialismus von ehemals einen Imperialismus der revolutionären Tat hat folgen lassen. An die Stelle des alten, durch den Missionseifer der Orthodoxie getragenen, scholastisch beschränkten Slawianismus ist das Friedensdekret vom 9. November 1917, die Verkündung der neuen Menschenrechte, getreten mit ihrem Versprechen, die ausgebeuteten Massen aller Länder in ihrem Kampf gegen die ausbeutenden Klassen zu unterstützen. Der russische Imperialismus ist proletarisch geworden.

Diese Botschaft ist durchaus geeignet, in Asien die Reste alter und die Ansätze neuer Despotien hinwegzufegen. Russland hat alle Geheimverträge aufgehoben, die die regierenden Klassen der orientalischen Länder, sei es aus eigenem Interesse, sei es aus Furcht vor fremder Gewalt, mit der zarischen Regierung abgeschlossen haben. Die Räteregierung hat in Übereinstimmung damit ihre Truppen und Instrukteure aus den besetzten Teilen Persiens abberufen, sie hat China gegenüber auf die Annexionen in der Mandschurei verzichtet und der chinesischen Regierung die Ablösung der russischen Finanzrechte an die Chinesische Ostbahn freigestellt. Sie hat ferner alle Konsulatswachen abberufen und auf das Recht der Exterritorialität der russischen Bürger in China, in der Mongolei und in Persien verzichtet.

Der Eindruck der Revolution auf die Volksmassen Chinas und Indiens, auf die Bewegungen der Mohammedaner in Persien, Afghanistan und Mittelasien ist nicht ausgeblieben. In China nennt man die Partei, die in Russland den Staatsstreich vollbracht hat, die Partei der größten Menschenfreundlichkeit: huan-i-t'ang. In Persien ist eine demokratische Bewegung gegen die Fremdherrschaft und gegen die Herrschaft der Prinzen entstanden, die mit der russischen Rätebewegung Ähnlichkeiten aufweist. Der Führer der südchinesischen Revolutionäre sandte Lenin aus Kanton eine Botschaft, daß auch im fernen Osten das Volk den Kampf gegen die ihm aufgezwungenen Geheimverträge aufgenommen habe und das Bündnis mit Japan nicht anerkenne. Selbst in Japan beginnt langsam und unter schwierigen Umständen ein Kampf der Arbeitermassen für die Rechte des Volkes; selbst die gemäßigt liberalen Elemente wurden zu Gegnern der Intervention in Sibirien, und Japan scheint jetzt Anstalten zu machen, seine Truppen aus diesem Lande zurückzuziehen. Die Vorgänge in Wladiwostok, Charbin, Taschkent und Baku während der letzten Monate lassen Gärungen erkennen, deren Ursachen letzten Endes sozialer Art sind.

Die Grenzen des ehemaligen russischen Kaiserreiches sind sozusagen aufgeweicht. Das zentralistisch geordnete Imperium der Vergangenheit verwandelte sich zunächst in eine lose Gruppe von Republiken. Aber der revolutionäre Totalismus Lenins sucht bereits zwischen diesen Republiken und den neuen Volksstaaten, die die Petersburger Regierung in ganz Europa und Asien entstehen sehen möchte, den ideologischen Kitt zu bilden. Ein von der Revolution aufs neue geeintes und inniger zusammengeschweißtes russisches Reich würde zweifellos imstande sein, einen gewaltigen Einfluss auf seine asiatischen Nachbarn auszuüben. Schon der alte russische Imperialismus hatte, nach Osten gewendet, zuweilen den Anstrich einer Kulturmission. Wenigstens in technischer und verkehrswirtschaftlicher Beziehung. Der Kommunismus mit seiner Losung der sozialen Abrechnung gibt ihm sicherlich einen neuen Aufschwung, aber das Endergebnis muss, wenn nicht neue geistige Kräfte dieser in einem Übermaß von politischer Ökonomie vertierten und mechanisierten Welt entstehen, nur in anderer Weise, dasselbe sein wie das des alten Imperialismus. Die erst halb kolonisierten, auf den Stufen antiker oder natürlicher Kultur verbliebenen Völker des inneren Asiens bieten einer Durchtränkung mit dem rohen und rachsüchtigen Geiste der russischen Revolution keinen festen Widerstand. Ihr geistiger Anschluss an Russland wird sich vielleicht rasch vollziehen und die großen kulturellen Verwickelungen hervorbringen, die der Geschäftsgeist des alten Imperialismus nur eingeleitet hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau