Die Rote Armee

Die alte russische Armee ist als eine der gewaltigsten Massenformationen in den Weltkrieg hineingegangen. Sie war, aus allen Teilen des Zarenreiches zusammengezogen, eine Maschine von vielleicht fünfzehn Millionen Mann, schwerfällig, aber furchtbar in ihrem Gewicht zusammengehalten von einem Geiste, der durch den mandschurischen Krieg zwar einmal der Erschütterung ausgesetzt gewesen, aber scheinbar nicht gebrochen worden war. Wer jemals die Garnisonen dieser Armee und ihre Kasernen im Frieden gesehen hat, der kannte den Riesenmaßstab dieses Heeres, dessen Disziplin bei aller autokratischen Rauheit ihrer Handhabung doch in ihrem psychologischen Zuschnitt und in der Einfachheit der Didaktik dem Massencharakter des russischen Soldaten in einer bewundernswerten Weise Rechnung trug. Der bureaukratische Drill des Offizierkorps und die Vorzugsstellung gewisser Divisionen gab diesem Zusammenhalt eine scheinbare große Festigkeit. Die jähe und vollständige Zersetzung dieser Armee gehört zu den ergreifendsten Erscheinungen der Zeit des Weltkrieges und der Revolutionen. Aber auch die ersten Anzeichen des Wiederaufbaues dieser Armee gehören zu dem Interessanten. Die freiwilligen russischen Heeresabteilungen, die gegenwärtig unter den mit der internationalen Konterrevolution verbündeten Generälen Denikin, Krasnow, Judenitsch gegen die Sowjetrepublik kämpfen, gehören zu der wiedererstehenden russischen Armee ebenso wie die Rote Armee des Kriegskommissars Trotzki, die zwar ein Kind des neuen Geistes, aber doch von demselben Blute ist.

Die Agitatoren, die einst an der Auflösung arbeiteten, behaupten, die Armee sei für das Bürgertum ein Mittel des Kampfes für die Teilung der Welt und zugleich ein Mittel des Kampfes gegen die arbeitenden Klassen. Die Macht des Bürgertums über sie beruhe auf dem aus Adligen und Bürgerlichen bestehenden Offizierkorps und auf der geistigen Abstumpfung des Soldaten in der Kaserne. Jede Armee sei eigentlich zwei Armeen, eine weiße und eine rote, sie enthalte, vermischt mit den Waffenträgern des Bürgertums, die Waffenträger des Proletariats. Sobald der politische Gedanke in die Armeen eindringe, vollziehe sich die Trennung zwischen beiden wie nach einem chemischen Gesetz.


Die Agitation im russischen Heer fiel auf einen Boden, wie er in keiner anderen Nation der Welt vorhanden war. Das zeigte sich an den viehischen Offiziersmorden in Helsingfors, Petersburg und Sebastopol. Bereits in den ersten Wochen der Revolution trat in den Hauptstädten eine aus wildernden Soldaten und bewaffneten Fabrikarbeitern gemischte Rote Garde hervor, die die Städte zu verprügeln begann. Weder die heroischen Anstrengungen der unter Kerenski aufgestellten Frauenbataillone und der sogenannten Todesbataillone noch auch der berühmte Marsch der von Kornilow befehligten Georgsritter und Frontregimenter nach Petersburg, und das von Kaledin geführte Aufgebot der Kosaken hemmte die Ausbreitung der Roten Garde und den rapiden Zerfall der alten Verbände. Der Krieg wurde durch den Zusammenbruch der Armee beendet, und selbst jene auserwählten patriotischen Formationen bestanden bald nicht mehr. Sibirien und die Ukraine haben sich gegen die Sowjetrepublik abgesperrt, aber selbst in Sibirien mußten die alten Mannschaften radikal durch frisch mobilisierte ersetzt werden; in der Ukraine, im Dongebiet und in der Krim blieben eine Zeitlang nur Regimenter von Offizieren übrig. Die Auflösung war besiegelt, nachdem einmal die Losungen des Klassenkampfes und der Selbständigkeit der Nationalitäten Fuß gefaßt hatten. Die älteren Jahrgänge verließen die Truppe, die jüngeren führten den kleinen Krieg gegen die Konterrevolution. Es schien undenkbar, daß aus diesem Chaos von fliegenden Abteilungen, von lettischen, polnischen, ukrainischen, weißrussischen und mohammedanischen Einheiten, die sich auf dem Boden Russlands umhertrieben, jemals wieder etwas wie eine einheitliche russische Armee entstehen könne. Dennoch macht sich bereits ein Regenerationsprozess bemerkbar. Und daß das rascher geschieht als es selbst kühne Propheten vorhergesagt haben würden, liegt wohl gerade in den Ursachen, die anfangs den Zerfall der alten Armee beschleunigten, nämlich in dem fortschreitenden Zerfall des Wirtschaftslebens, im Stillstehen der Fabriken, in der Arbeitslosigkeit, in den Folgen des Raubbaues, der allerwärts in Russland mit den Gütern des Nationalreichtums getrieben wird, und schließlich in den unhaltbaren politischen Gesamtverhältnissen des Landes, das nach der Form des Bundesstaates hinstrebt, aber zu dieser Form offenbar nur durch die Gewalt der Waffen um geschliffen werden kann. Ltl)t die Rote Armee von dein Ideal der Weltrevolution, so die Weiße Armee von der Idee der Einheit Russlands. Beide Ideen drücken im Grunde dasselbe aus und dienen bereits der Regeneration.

In der Zeit von anderthalb Jahren ist die russische Armee aus den Händen bureaukratischer Kriegsminister in die Hände des industriellen Organisators und Industriellen Gutschkow, des Advokaten Kerenski, des Intriganten Sawinkow, des aufgeklärten Offiziers Werchowski, des pazifistischen Fähnrichs Krylenko und schließlich in die Hände des Agitators Trotzki übergegangen. Über die Größe und die Zusammensetzung der eigentlichen Roten Armee hatte vielleicht im Anfang selbst der damalige Kriegskommissar nur eine ungefähre Vorstellung. Genug, daß Soldaten, Abenteurer immer vorhanden waren, daß sie marschierte, bald den Deutschen, bald den „Weißen“ Gefechte lieferte, Städte, Dörfer und Demarkationslinien besetzte, Kontributionen einzog und die Fronten hielt, die allmählich um das Gebiet der Räterepublik den Gürtel bildeten. An der Wolga und im Murmangebiet, am Don, in Astrachan, im Kaukasus und in Turkestan schützte allmählich eine Rote Armee die Interessen der Räterepublik gegen einen an Zahl ständig wachsenden Gegner, wobei es natürlich ohne Rückzüge und andere kleine Katastrophen nicht abging. Aber dieser große elastische Bogen wurde nirgends vom Feinde durchstoßen. Eine Zeitlang bildeten lettische und internationale, aus Kriegsgefangenen bestehende Freiwilligenregimenter den Kern der Roten Armee, Sogar einige hundert von jenen chinesischen Kulis, die die russische Regierung zu den Zeiten Chwostows nach Russland kommen ließ, um sie bei Bahnbauten und Festungsanlagen in Finnland, in den Gruben des Ural und auf den großen Gütern in Süd-Russland zu beschäftigen, haben unter der kommunistischen Fahne Dienst genommen und bilden die Leibwache Lenins im Kreml. Die Anführer der Fronttruppen waren Condottieri wie der „blutige“ Murawjew, ein ehemaliger Gendarmerieoffizier, der im vorigen Juli bei dem Versuch, mit seinen Leuten zum Feinde überzugehen, niedergeschossen wurde, oder wie die von gemeinen Soldaten zu Obersten aufgestiegenen Lettenführer Lazis und Wazeitis. Ehemalige Journalisten, Kontorangestellte oder Unteroffiziere führten Divisionen, daneben gab es viele Kriegskommissare und eine Menge von sogenannten Spezialisten, einstige Offiziere, die unter einer peinlichen Kontrolle der Frontpolizei als Instruktoren der Kavallerie, als Artilleristen, Ingenieure oder in den Stäben ihrem gewohnten Soldatenhandwerk nachgingen, weil sie einfach zu nichts anderem tauglich waren. Neben den geschlossenen Regimentern der Letten, den Bataillonen der polnischen Kommunisten, den aus Deutschen, Österreichern, Ungarn, Finnen, Koreanern und Chinesen bestehenden Fremdenregimentern gab es junge Regimenter von Fabrikarbeitern aus Petersburg, Moskau oder Iwanowo-Wosnessensk, fliegende Matrosenabteilungen, Banden von „Barfüßern“, die aus Lust am Morden und Plündern mitzogen und die ihnen übertragenen Frontabschnitte nur halten konnten, weil es auf der Seite des Gegners nicht besser aussah als bei ihnen selber.

Es ist ein starker Beweis für den staatsmännischen Weitblick Lenins, daß er nach dem Abschluß des Brester Friedens keinen anderen als den von seinen Gegnern als unfruchtbaren Rabulisten verschrienen Trotzki die Leitung des Kriegskommissariates übernehmen ließ. Dieser Mann war freilich nie Soldat gewesen, seine Begeisterung für das militärische Fach war vielleicht nicht älteren Datums als seine Bekanntschaft mit den Generalen des siegreichen Gegners auf dem Boden von Brest-Litowsk; seine Kenntnis von militärischen Dingen beschränkte sich anfangs auf gewisse Schriften von Rüstow, Engels und Jaurès. Aber Trotzki hat Ideen, darunter offenbar die ehrgeizigste, der Scharnhorst des russischen Heeres zu werden. Noch auf dem Rätekongress im Juli dieses Jahres erklärte Lenin in einer Rede, mit der er dem Kriegseifer der Sozialrevolutionäre scharf entgegentrat und die Welt über seine wahren Absichten vorzüglich zu täuschen verstand: „Gegen die imperialistischen Feinde will und wird unser Volk nicht kämpfen. Neunundneunzig von hundert russischen Soldaten wissen, welche unerhörten Leiden ein Krieg kostet. Sie wissen, daß unerhörtem Anstrengungen nötig wären, um den Krieg auf eine neue Grundlage zu stellen.“ Die Berichte aber, die Trotzki bereits damals dem Zentralen Vollzugsausschuss und den Rätekongressen vorgelegt hatte, atmen einen anderen Geist. Sie verschleiern keineswegs die Schwierigkeiten des Wiederaufbaues einer Armee, die dieser Agitator nicht müde wurde, als die dringendste Frage des Augenblicks hinzustellen. Aber auch jeder dieser Berichte ist geladen mit neuen Vorschlägen, neuen Feststellungen erreichter Fortschritte, neuen Energien eines unbezähmbaren Optimismus. Trotzki verschwand eine Zeitlang aus dem aktuellen politischen Leben; nur noch selten sah man ihn seinem Auto vor dem Kriegskommissariat entsteigen, die ewige Mappe unterm Arm, ein grünes Plüschhütchen auf dem Kopf, das an Sozialistenkongresse und Kaffeehausdiskussionen in der Schweiz erinnerte. Er lernte fliegen, was ihm von den in Moskau verbreiteten mündlichen Zeitungen selbstverständlich als ein Versuch ausgelegt wurde, sich auf die Flucht vor dem sicheren Galgen vorzubereiten, reiste wochenlang an den Fronten umher, unterzeichnete in seinem Eisenbahnzug die terroristischen Dekrete des Kriegs-Revolutionstribunals, hetzte seine Meute von Detektiven auf alle Symptome von Sabotage, Meuterei und Verrat an der Front. Seine Hauptsorge galt der Reorganisation des Mobilmachungswesens, der Aufstellung eines gut funktionierenden Verpflegungsapparates, der Beschaffung von Munition, vor allem aber der Agitation, die nicht nur in den Kasernen den öden Drill des alten Systems ersetzen, sondern den Rätetruppen auch im Felde neben Flinten und Kanonen als Waffe dienen mußte, um den Feind zu lähmen. Die Kasernen und die mobilen Truppenteile bekamen ihre Klubs mit politischen Vorträgen und Unterhaltungen; die Zentralen in Moskau und Petersburg druckten Aufrufe und Handzettel in Menge, die von Fliegern über die feindlichen Stellungen hinabgeworfen, von Patrouillen an die Bäume vor den Schützengräben des Gegners angeheftet wurden. Daneben arbeitete Trotzki, zuerst vorsichtig, schließlich immer offener und in Übereinstimmung mit den Wünschen der Soldaten, gegen die Alleinherrschaft demagogischer Frontkommissare, die in ihrer Eifersucht den „Spezialisten“ die Arbeit unmöglich zu machen drohten. Er schritt zugleich zur Bildung eines neuen, proletarischen Offizierstandes, eröffnete vor allem militärische Ausbildungskurse für intelligente Arbeiter, die er als die gegebenen Führer der aus Bauern bestehenden Soldatenmassen bezeichnete; auch scheute ersieh gar nicht, die abgeschaffte Sitte der Verleihung von Ehrenzeichen wieder einzuführen. Nachdem eine Zeitlang in der offiziellen Presse unverfänglich auf die Nützlichkeit der Gründung eines revolutionären Ordens hingewiesen worden war, ließ er dem Zentralen Vollzugsausschuss die Gründung des „Ordens der Roten Fahne“ vorschlagen, und dieser Vorschlag wurde ebenso einstimmig angenommen, wie die Verleihung des ersten Exemplars dieser Auszeichnung an einen bolschewistischen Führer, der sich mit seiner fast waffenlosen Truppe von Turkestan mitten durch die Reihen des Gegners bis an die Wolga durchgeschlagen hatte. Der Träger dieser ersten Auszeichnung der Sowjetrepublik ist übrigens ein früherer einfacher Soldat und führt den Namen Blücher.

Die Zweckmäßigkeit aller dieser Maßnahmen erwies sich am Erfolg. Seit Trotzki gibt es wieder etwas wie eine reguläre russische Armee. Ihr Bestand wird zurzeit niedrig auf 300.000 Mann beziffert. Einige 100.000 Mann „Irreguläre“ kommen hinzu. Diese Armee hat immerhin Leistungen zu verzeichnen, wie die Wiedereinnahme der ganzen Wolgalinie, den Vormarsch durch Astrachan, den Widerstand der Rätetruppen gegen die „Truppen der Londoner und Pariser Börse“ im Murmangebiet (mit der Gefangennahme von einigen Dutzend Engländern, die seitdem in Wologda zu Agitatoren ausgebildet werden), den jetzigen Aufmarsch der regulären Truppen gegen die Ostseeprovinzen, gegen Polen und die Ukraine. Im Innern des Landes bekämpften die örtlichen Kriegskommissariate eine Reihe kleiner Aufstände; in den Städten bildeten sie die Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen mit der Waffe aus. Die Diplomatie des Rates der Volkskommissare verlängerte unterdessen die „Atempause“ der Republik durch ihre eigentümliche Doppelpolitik der Herausforderung und der Nachgiebigkeit gegen Deutschland sowohl wie gegen die Entente. Hierzu gehörten allerlei geheime Versuche, die darauf zielten, den sinkenden Kriegswillen der beiden feindlichen Koalitionen wieder anzufeuern, beispielsweise bald England zum Vormarsch gegen die Türken, die damals Baku bedrohten, zu ermutigen, bald der deutschen Heeresleitung die Vorteile eines immer tieferen Vormarsches gegen die Engländer in Zentralasien mundgerecht zu machen, eine Methode, die dem Ausbruch der Weltrevolution zustatten kommen mußte.

Trotzki erstattete am 3. Oktober dem Zentralvollzugsausschuss einen Bericht, der den Plan enthielt, die Rote Armee durch Einziehung einer Reihe jüngerer Jahresklassen bis zum Frühjahr 1919 auf einen Bestand von einer Million Mann zu bringen. Gerade am 3. Oktober kam die erste Nachricht über den Zusammenbruch des bulgarischen Heeres und über den Ausbruch der Revolution in Österreich-Ungarn nach Moskau. Lenin richtete sofort an dieselbe Versammlung des Zentralvollzugsausschusses ein Schreiben, in dem er forderte, die Rote Armee sobald wie möglich auf die Stärke von nicht weniger als drei Millionen Mann zu bringen, um dann gemeinsam mit den revolutionären Arbeitern der mitteleuropäischen Länder den imperialistischen Heeren der Entente entgegen zu treten.

Moskau bekam zum erstenmal in der Roten Woche anfangs November die neuen Regimenter der Roten Armee zu sehen; geschlossene wohlgeordnete Formationen in sauberen Mänteln und neuen Pelzmützen oder Käppis mit dem roten fünfzackigen Stern; Reiterei in den alten, bunten, durch rote Bänder geschmückten Husarenuniformen auf tadellosen Pferden, Abteilungen von Offizierschülern mit Musikkapelle und Fahne an der Spitze. Es lohnte sich, diesen Denkmalsenthüllungen und militärischen Schauspielen beizuwohnen, besonders der Eidesleistung der Offizierschüler und jungen Maschinengewehrführer am 9. November vor dem Großen Theater, wo alte Obersten mit gesenktem Degen, das Georgsbändchen auf der Brust, vor ihren Truppen an dem jüdischen Kriegskommissar im Zeremonialmarsch vorbeidefilierten. Trotzki hielt eine Ansprache, die mit einem Hoch auf die Offiziere endete; er selber stand, im langen erdbraunen Soldatenmantel, mit schwarzer Ledermütze und hohen Stiefeln, aufrecht und gebietend da wie ein General, hinter ihm die roten Fahnen. Unmittelbar nach dieser Parade begab sich Trotzki auf die Tribüne des Rätekongresses und hielt eine Rede, die bejubelt wurde, weil in ihr der Satz vorkam: „Während die deutsche Armee täglich schlechter wird, wird die Rote Armee, die noch vor einem halben Jahr nur aus Banden von Parteiläufern bestand, täglich besser.“ In dem Budget der Republik für das Halbjahr 1918/19, das dann Mitte November aufgestellt wurde, stehen die Ausgaben des Kriegskommissariats an erster Stelle mit neuneinhalb Milliarden Rubel gegen 3,7 Milliarden im vorhergehenden Halbjahr.

Die Ablenkung alles öffentlichen Interesses auf die Armee und der Gedanke, tatsächlich bis zum Frühjahr eine Heeresmacht aufzustellen, die an die Zeiten des alten Militarismus erinnert, mag unter den augenblicklichen schweren wirtschaftlichen und politischen Nöten der Sowjetrepublik als der letzte Ausweg erscheinen. Freilich stehen einer allgemeinen Wehrpflicht, die das Recht, die Revolution mit der Waffe zu verteidigen, nur den Proletariern zuerkennt, die Bürgerlichen dagegen nur als Soldaten zweiter Klasse in Arbeitsbataillonen verwenden will, große praktische Hindernisse entgegen. Als das schwierigste Problem erscheint daneben die Munitionsversorgung und die Wiederherstellung der Verkehrsmittel nach strategischen Erfordernissen. Andererseits gibt es im Gebiet der Sowjetrepublik noch mindestens 30.000 Offiziere des früheren Heeres, denen der Eintritt in die Rote Armee nun befohlen wird, nachdem die Offiziersfrage grundsätzlich entschieden worden ist. Moskauer Zeitungen veröffentlichten dieser Tage Inserate, worin ehemalige Offiziere, denen der Wiederaufbau der Kavallerie am Herzen liege, gebeten werden, sich zu melden. Je mehr indessen die Rote Armee sich vergrößert, desto mehr konterrevolutionäre Elemente muss sie in sich aufnehmen, desto geringer wird auch die Gewähr, daß die in der Zahl wachsende Rote Armee nicht eine in ihr latent stets vorhandene „Weiße Garde“ großzieht, jenes schweigende Kontingent von Patrioten, die darauf warten, im Ernstfalle mit den Gegnern der Sowjetrepublik gemeinsame Sache zu machen. Viele von ihnen haben schon bei ihrem Eintritt in die roten Regimenter nichts anderes im Auge. Zweifellos wird sich die Haltung der Roten Armee immer nach den Aufgaben richten, die ihr von Fall zu Fall gesetzt werden.

Es ist nicht besonders wahrscheinlich, daß die drei Millionen Lenins bis zum Frühjahr 1919 zusammenkommen. Auch ist damit zu rechnen, daß eine rote Millionenarmee, selbst wenn es gelänge, sie aufzustellen, entweder bald aufs neue und von innen heraus beginnen müsste sich aufzulösen, oder daß sie, wegen technischer Mängel und fehlender innerer Einheitlichkeit, von einem besser ausgerüsteten, wenn auch an Zahl schwächeren Gegner geschlagen werde. Aber es kann auch anders kommen. Und vielleicht beruhen auf dieser Möglichkeit die Berechnungen Trotzkis. Die russischen Heere fechten im eigenen Lande. Vielleicht werden die Regierungen der Entente, so dringend sie auch wünschen mögen, den Quell der Weltrevolution zu verstopfen und nebenbei ihre sehr beträchtlichen ökonomischen Forderungen an Russland sicherzustellen, durch Gründe ihrer inneren Politik genötigt sein, fürs erste auf militärische Eingriffe in Russland zu verzichten. Dann hat die Rote Armee allerdings Zeit, sich zu festigen und in den Händen der russischen Räteregierung eine ganz andere Waffe zu werden als ein paar tausend Agitatoren, die bisher nach Polen, in die Ukraine, in die Ostseeprovinzen, nach Österreich, Deutschland oder auch nach Zentralasien entsandt wurden. Diese Rote Armee, die Hoffnung der von der Entente Unterdrückten, würde sich zweifellos durch fremde Elemente auch weiterhin nicht unerheblich verstärken. Sie würde versuchen, den revolutionären Minderheiten außerhalb Russlands zu Hilfe zu kommen und endlich am Rhein oder auch am Ärmelkanal, in den Alpen oder auch am Mittelmeer, mit den von einer kosakischen Diktatur des Proletariats überzogenen Ländern hinter sich, den Heeren des Weltkapitalismus die Zähne zeigen. Auf die Gefahr hin, die Revolution im eigenen Lande herauszufordern, wird die Entente allerdings einer solchen Entwickelung der Dinge zuvorzukommen trachten.

In gewissem Sinne ist das Schicksal der russischen Armee das Schicksal aller Armeen der alten imperialistischen Großmächte. Der Einwand, daß die krankhafte Umwandlung großer Armeen in solchem Maßstabe nur die Folge der militärischen Niederlage sein könne, hat keine unbedingte Gültigkeit. Denn es handelt sich bei der Zersetzung nicht allein um die psychologischen Rückwirkungen des überlangen Krieges. In den siegreichen Ländern, und gerade in diesen besteht die \'ahrscheinlichkeit, daß sich die Entlassung der Mannschaften immer wieder hinausziehe, da immer neue Besetzungen nötig werden, um sogenannte Pfänder festzuhalten und den Gefahren neuer Feldzüge vorzubeugen. Da alle alten Regierungen ihren Völkern Siegesfrüchte versprochen haben, die sie nicht ernten können und Schwierigkeiten verschwiegen haben, die sich nur durch immer neue Opfer überwinden lassen, so wirkt neben der Zahl der Toten und Verstümmelten, in denen sich die unwiederbringlichen Verluste ausdrücken, die Zahl der Mannschaften, die nicht heimkehren dürfen, mit steigendem Druck auf schließliche Veränderungen in den Völkern.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau