Die Lage der Sowjetregierung

Zur Aufhellung der rätselvollen Lage, die durch die Abreise der Moskauer deutschen Gesandtschaft nach Petersburg und von dort unerwarteterweise über Finnland nach Reval und Pleskau und durch die gleichzeitige Rückkehr des Berliner Gesandten Joffe nach Moskau entstanden ist, fuhr gestern Abend Radek im Auftrage des Rates der Volkskommissare in einem Sonderzuge nach Berlin; er ist heute, am 14. August, da er unterwegs mit Joffe zusammentraf, wieder nach Moskau zurückgekehrt. Radek hinterließ in der „Iswestija“ einen Leitartikel, in dem er die Abreise der deutschen Mission auf die durch die Attentate von Moskau und Kiew hervorgerufene „nervöse Unruhe untergeordneter Organe“ zurückführt und die Überzeugung ausspricht, daß die deutsche Regierung Maßnahmen ergreifen werde, wodurch schon in nächster Zeit die „normalen Arbeiten wiederaufgenommen werden können“. Eine deutsche Politik des Abrückens von Russland, die höchstens die Politik der sogenannten Kriegspartei sein könne, bedeute für die Absichten der Entente in Russland die beste Hilfe. Sie schwäche notwendigerweise die Kraft der Sowjetregierung im Kampf gegen die Entente, der gerade in diesem Augenblick im Norden gegen die von England unterstützten Truppen und gegen die Tschecho-Slowaken mit aller Kraft aufgenommen werden sollte.

Der Kampf gegen die Tschecho-Slowaken ist in den letzten Tagen allerdings in eine neue Phase getreten. Es handelt sich nach dem Sprachgebrauch der offiziösen Blätter, um einen „psychologischen Durchbruch“ in den Massen des revolutionären Russland, die erst nach den Misserfolgen im Juli die drohende Gefahr ganz begriffen haben. Die Dekrete des Rates der Volkskommissare, die Aufrufe Trotzkis, die in schreienden Farben ausgeführten Affichen an den Straßenecken haben alle dasselbe Ziel: die Aufwühlung der Arbeitermassen zum Kampf gegen den inneren und äußeren Feind. Die Mobilmachung der jüngeren Arbeiterjahrgänge soll im Laufe dieser Woche beendigt werden. Angeblich sind bereits 300.000 Mann Verstärkungen an die östliche Front abgegangen. Trotzki selbst ist am 9. August dorthin abgereist. Dem Kriegsrevolutionstribunal sind außerordentliche Vollmachten für den Schutz der Eisenbahnlinien und zur Sicherung gegen jede Art von Sabotage und Verrat übertragen worden. Die Vertreter der Räteregierung bezeichnen den Verlust von Simbirsk, Jekaterinburg und Kasan nur als einen zeitweiligen. Kasan sei von einer kleinen Abteilung der Tschecho-Slowaken besetzt, aber bereits von den Roten Truppen eingeschlossen, die dieser Stadt das Schicksal von Jaroslawl bereiten werden. Die Wegnahme der wichtigsten Städte zwischen Ural und Wolga und die Besetzung der strategisch wertvollen Kamamündung beweist jedenfalls ein methodisches Vorgehen des Gegners. Durch das zur Zeit in Samara erscheinende Blatt „Semlja i Wolja“ ist bekannt geworden, daß die Räumung von Ufa fast ohne Kampf geschah, da der Führer der Bolschewikitruppen, der frühere Oberstleutnant Machin, mit seinem ganzen Stabe der geheimen militärischen Sektion der rechten Sozialrevolutionäre angehörte, und den ihm bekannten Plan Podwoiskis, die Tschecho-Slowaken an einer Zusammenziehung ihrer Streitkräfte bei Tscheljabinsk und Samara zu hindern und ihnen eine Schlacht zu liefern, durchkreuzte. Auch die Pläne der Bolschewiki, die Eisenbahnlinien hinter der Tschecho-Slowaken-Front zu zerstören, sind missglückt. Eine andere Frage sind allerdings die Zustände in den Reihen der Tschecho-Slowaken selbst und das Verhältnis dieser Truppen zu denen der Omsker Regierung. Die Bolschewiki behaupten, daß sich in den Reihen der Tschecho-Slowaken eine bolschewistische Gärung bemerkbar mache. Angeblich befinden sich jetzt fast sämtliche Mitglieder des Zentralkomitees der rechten S.-R. mit Sawinkow an der Spitze wie auch die Bevollmächtigten der Kadettenpartei jenseits der sogenannten Tschecho-Slowaken-Front. Aus einer Quelle, die Glauben beansprucht, deren Zuverlässigkeit aber nicht nachgeprüft werden kann, verlautet weiter, daß zwischen der Parteileitung der rechten S.-R. und der Kadetten bereits ein Kompromiss über die Zusammensetzung der künftigen Regierung geschlossen sei. Danach sollen die S.-R., obgleich sie über die Mehrheit von Anhängern verfügen, sich bereit erklärt haben, den bürgerlichen Kreisen in der künftigen Regierung die Führung zu überlassen, da sie aus Gründen des Burgfriedens gezwungen seien, fürs erste auf die Durchführung ihres innerpolitischen Reformprogramms zu verzichten. Im übrigen ist jetzt, wo die Räteregierung den Willen zeigt, sich mit kräftigen Schlägen zur Wehr zu setzen, weniger als je der Augenblick, sich mit Erörterungen über die Form einer etwaigen künftigen Regierung abzugeben.


Am vorigen Sonntag hat auf dem Platz vor dem Kreml eine große Truppenschau der Roten Armee stattgefunden. Um die Stimmung zu heben, brachten die offiziösen Blätter am Tage vorher in Fettdruck eine Reihe Meldungen über angebliche Unruhen im deutschen Heere. Alles muss gegenwärtig dazu dienen, um den Glauben an die nahe bevorstehende Weltrevolution, die Hoffnung der revolutionären Machthaber in Russland, am Leben zu halten. Der Nachmittag war regnerisch, und weder das Aufgebot der Truppen noch die Zahl der Zuschauer entsprach hochgespannten Erwartungen. Es mögen etwa 10.000 Mann versammelt gewesen sein, mit roten Fahnen, Automobilen und Rednertribünen in der Mitte. Unter den Rednern befand sich der erst vor einigen Tagen aus seiner Haft in Finnland zurückgekehrte Kamenew, der früher für den Posten eines Gesandten der russischen Republik in Wien ausersehen war, diese Stelle aber neuerdings mit der Tschitscherins vertauschen sollte. An der Parade nahm auch ein Regiment von Eisenbahnarbeitern teil. Später zogen die bewaffneten Abteilungen mit Musik und Ambulanzwagen durch die Straßen heimwärts. Die Kundgebung machte auf die Öffentlichkeit wenig Eindruck.

Die Abreise der deutschen Gesandtschaft aus Petersburg war am Sonntag Nachmittag in Moskau noch nicht bekannt. Doch wurde bereits die Stellung, die Deutschland nach der Abreise Helfferichs gegenüber der Räterepublik einnehmen werde, nicht ohne Besorgnis erörtert. Man bezeichnete es als eine Grundbedingung des Sieges über die Tschecho-Slowaken, die in sechs Wochen über den Ural zurückgeworfen werden müßten, daß Deutschland in dieser Zeit der Räterepublik nicht in den Rücken falle. Trotz der erregten Stimmung der Bevölkerung in den Städten und der aufsässigen Haltung der Bauern hält man es in Sowjetkreisen nicht für schwierig, die Macht in Moskau und in den übrigen Städten in der Hand zu behalten, auch wenn in den nächsten Tagen so gut wie alle Truppen an die Front abgehen sollten. Ernste Aufstandsversuche im Innern erscheinen unmöglich, denn das Bürgertum ist ohne Waffen, auch ist gegen etwaige Überraschungen eine Reihe vorbeugender Maßnahmen getroffen worden und noch weiterhin geplant. Vielleicht wird über Moskau der Belagerungszustand verhängt. Für den Sicherheitsdienst, für die Bewachung der Kommissariate und der Arsenale genügen dann angeblich einige tausend Mann bewaffneter Parteimitglieder. Im Moskauer städtischen Sowjet forderte Kolegajew heute die Errichtung von Konzentrationslagern für die Offiziere und die Geiseln der Bourgeoisie, die erschossen werden sollen, wenn von bürgerlicher Seite ein Aufstand versucht würde. Kolegajew versprach, die Beschlüsse des allrussischen Sowjetkongresses zu unterstützen, forderte aber für die linken Sozialrevolutionäre, die er im Sowjet vertritt, volle Rede- und Handlungsfreiheit. In allen übrigen russischen Städten wurden wie in Moskau alle Offiziere registriert. Die Regierung hat dadurch mit einem Schlage in ganz Russland ungefähr 50.000 Offiziere festgenommen. Von diesen sollen angeblich einige hundert, die auf den Listen der Konterrevolutionäre standen, erschossen werden. Ein Teil von ihnen, soweit sie eine Erklärung abgaben, daß sie aus dem russischen Untertanenverbande austreten und sich mit deutschem oder polnischem Schutzschein in ihre Heimat begeben, wurde auf Verlangen des deutschen Generalkonsulats freigelassen, die übrigen will man in Konzentrationslager bringen. Die Regierung ließ ferner vor einigen Tagen in Moskau eine größere Anzahl Engländer, Franzosen, im ganzen mehrere hundert Geschäftsleute, darunter einige bekannte Mitglieder der sogenannten Großbourgeoisie, festnehmen. Gegen eine Anzahl von ihnen scheinen Beweise für die Teilnahme an konterrevolutionären Organisationen vorzuliegen. Weitere Massenverhaftungen von Vertretern des Moskauer Bürgertums werden angekündigt. Es wird versichert, daß wenn diese Maßnahmen nicht ausreichen sollten, um die äußere Ruhe zu wahren, eine Periode des absoluten Terrors, mit öffentlichen Hinrichtungen und ähnlichem, unvermeidlich sei.

Diese Andeutungen über die Absichten der Räteregierung stammen von einem führenden Mitgliede des Rates der Volkskommissare. Sie sind jedenfalls für die gegenwärtige Krisis bezeichnend. Ob tatsächlich der schon längst bestehende Zustand der Schreckensherrschaft bis zu noch höheren Graden der diktatorischen Gewaltausübung gesteigert werden wird, hängt wohl ausschließlich von den äußeren Ereignissen der nächsten Zukunft ab.

Die verhafteten Offiziere wurden in der Reitbahn der Alexejewschen Kaserne eingeschlossen. Die Kaserne war von Artillerie umzingelt, ihre Ausgänge wurden von einem Chinesenregiment der Roten Armee bewacht. Die Unterkunft und die Verpflegung der Verhafteten, unter denen sich Männer bis zu sechzig Jahren, frühere Generale und Obersten befanden, spottete jeder Beschreibung. In diese Menge von Unglücklichen waren Kranke, Invaliden, sogar eine Anzahl erst dieser Tage aus der deutschen Kriegsgefangenschaft heimgekehrter Offiziere hineingeraten, die hier Schlimmeres erlebten als in den langen Jahren des Krieges und der Kriegsgefangenschaft. Man mag die harte Maßregel der Festnahme von Tausenden von Geiseln unter den Verhältnissen des Klassenkrieges, der gegenwärtig in Russland unendliche Opfer fordert und Jammer ohne Ende hervorruft, noch begreiflich finden. Man mag sogar den Bolschewiki zugeben, daß es menschlicher ist, Leute in Schutzhaft zu setzen, als sie später auf den Straßen durch Maschinengewehre hinzumähen. Aber der Mangel an Vorsorge, den die verantwortlichen Behörden in diesem Fall an den Tag legten, kennzeichnet den chaotischen Charakter aller Ereignisse im gegenwärtigen Russland. Es mag sein, daß es der brutalen Entschlossenheit der revolutionären Führer auch in der jetzigen Lage noch einmal gelingt, ihre Macht zu behaupten. Ihr Ziel ist, Zeit gewinnen. Aber eines ist gewiss: diese Entschlossenheit zum Durchhalten reicht nicht allzu tief hinab in die einzelnen Kommissariate und in die zahllosen Räte. Je tiefer man hinabsteigt, desto häufiger begegnet man krassen Beispielen von Bestechlichkeit, Unzuverlässigkeit, Neigung zur Fahnenflucht. Die Haltung der Arbeitermassen ist eine abwartende. Noch niemals hat sich das hartnäckige Kleben an der Macht als ein sicheres Mittel zur Rettung einer unterhöhlten Position erwiesen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau