Die Höhe des Kampfes

In dem Moskauer Großen Theater hat dieser Tage ein Konzertmeeting stattgefunden. Das Konzertmeeting ist eine, ich weiß nicht seit wann, von dem revolutionären Russland eingeführte Verbindung von Symphoniekonzert und politischer Versammlung, philosophisch gesprochen, der Versuch einer Durchdringung der Politik mit dem Geiste der Musik, Den Versuch in der vorigen Woche unternahm Lunatscharski, der vor der Revolution als begabter Schriftsteller bekannt war und Volkskommissar für das Bildungswesen geworden ist. Derselbe, der seit dem Ausbruch des roten Schreckens in Russland, wenn auch nicht immer mit vollem Erfolge, sein Bestes tut, um schöne alte Kirchen, Palastgebäude und Museen vor pockenartigen und leprösen Entstellungen durch die Kugeln der Kanonen und Maschinengewehre des Bürgerkrieges zu schützen. Das Konzertmeeting, von dem die Rede ist, war nicht sonderlich gut besucht. Das große Publikum fehlte. Etwa 300 Personen verloren sich in dem weiten Parkett und in den Rängen, die vor zwei Monaten die stürmische Massendramatik des fünften Allrussischen Rätekongresses erlebten. Die Zuhörer des Konzertes waren fast ausschließlich Bolschewiki. Das ehemals kaiserliche Orchester spielte Beethovens fünfte Symphonie, wie es dieser Korporation von Musikern würdig ist. Es spielte die „Tannhäuser“-Ouvertüre und die Ouvertüre zu „Faust“. Dann traten Lunatscharski und ein anderer Kommissar als „ Redneragitatoren“ auf die vom Proletariat eroberte Bühne. Lunatscharski sprach von den Übergängen zwischen Musik und Revolution und von einem schönen, freien Leben der Zukunft.

Draußen in den Straßen der Stadt Moskau ist allerdings gegenwärtig das Leben weder schön noch frei. Die kleine Schar der Führer, die das bewaffnete Volk der Arbeiter, Soldaten und Bauern durch die grauen Nöte des Klassenkampfes führt, weiß es selber am besten. Die Aktion der Tschecho-Slowaken an der Wolga, die militärische und finanzpolitische Unternehmung der Anglofranzosen in Nord-Russland hat die Räterepublik vom sibirischen Getreide, von den Erzen des Urals, von den holzreichen Wäldern und fischreichen Flüssen abgeschnitten. In dem einst so üppigen Moskau herrscht Hungersnot. Die Menschen gehen blass, abgemagert, scheu und stumm ihres Weges. Sie warten auf einen langen Winter ohne Brot, ohne Heizung. Denen, die Kleider und Pelze haben, droht man, sie zu nehmen. In den Arbeitermassen steckt Erbitterung, daß sie bei den ewigen Spannungen der äußeren Lage, bei der unerhörten Teuerung, die Früchte ihrer hohen Löhne und ihres Triumphes über die Bourgeoisie nicht ernten. In den verödeten Wohnungen der Reichen, in den überfüllten Wohnungen des Kleinbürgertums, liegt der Alpdruck des Terrors. Die Haussuchungen, Verhaftungen und Erschießungen, die gewaltsame Räumung von Wohnungen, bald in diesem, bald in jenem Stadtviertel, die Requisitionen in den wenigen Läden, die noch offen sind, nehmen kein Ende. Die Tschecho-Slowaken, in Sibirien schwer bedroht, an der Wolgafront durch Kriegsmüdigkeit, durch Mangel an Munition und an Geschützen geschwächt, kommen nicht vorwärts. Allerdings lauten auch die Kriegsberichte der Roten Truppen von der Wolgafront in den letzten Tagen weniger zuversichtlich. Man beginnt mit der Räumung des verödeten Nishnij -Nowgorod. Man will die aus Petersburg nach Pensa verlegte , »Expedition zur Herstellung der Staatspapiere“ in diesen Tagen nach Moskau verschieben, und der bisher in Petersburg verbliebene Teil der Staatsdruckerei soll folgen. Das würde für die Hauptstadt einen Zuwachs von über 40.000 Menschen bedeuten, Arbeitern und Beamten, mit ihren Familien. Die allgemeine Not greift an die Wurzeln des Volkes, ebensosehr wie der Kampf der „Außerordentlichen Kommission“ gegen die Gegenrevolution an den Nerven aller zerrt. Bruder gegen Bruder, Vater gegen Sohn; dieser biblische Augenblick ist gekommen; der Riss geht mitten durch unzählige Familien. Die russische Kirche mit ihren goldenen Bildern, mit ihren Glocken und Kuppeln über der Stadt, ist innerlich ihrer alten Macht und ihres Glanzes ganz entkleidet; sie ist schwach wie ein Rohr im Winde, ihre Priester seufzen unter dem Hohn der Verfolger. Aber niemals war das Fragen im Volke so groß, das geistige Leben auch in der Öffentlichkeit so rege. Seit einigen Wochen finden Sonntags in einem Saale der technischen Hochschule große öffentliche Diskussionen über das Thema „Christentum und Sozialismus“ statt. Der Schriftsteller Posse, ein Schüler Tolstojs, der Bildungskommissar Lunatscharski, der Anarchist Gordon treten hier gegen die kirchliche Rechtgläubigkeit in die Schranken. Als Verteidiger der Kirche spricht der mutige Geistliche Agajew, ein Bauer nach seiner Herkunft, und der jüngere Solowjew, ein Neffe und leidenschaftlicher Jünger des berühmten Philosophen. Dem Rechtsgelehrten und sophistischen Apologeten des Kommunismus Reisner tritt der Dichter G. I. Tschulkow, ein Schüler Dostojewskis, als Verkünder einer urchristlichen Orthodoxie gegenüber. Dem Futuristen antwortet der Apokalyptiker.


Man kann den Russen vieles nachsagen, nur Philister sind sie nicht. Sowohl der Glaube, wie der Aberglaube, wie der Unglaube sind in Russland immer groß gewesen. Ein Dämmern zwischen diesen dreien, wie es für den Westen Europas so charakteristisch ist, gibt es in Russland selbst unter den Intelligenten selten. Man beschäftigt sich in Moskau jetzt sehr viel mit dem Spiritismus. Niemals hatten die Wahrsagerinnen größeren Zulauf. Niemals war der Drang zum Orakel, niemals das Klopfen an den Pforten des Übersinnlichen so ungeduldig, so stark, so verzweifelt wie gegenwärtig. Ich habe in meinem Taschenbuch eine Aufzeichnung vom 27. Juli, eine kurze Notiz über ein Gespräch mit einer Dame, in deren Haus zuweilen spiritistische Sitzungen stattfinden. Der Merkwürdigkeit halber hatte ich mir die Äußerung aufgeschrieben, daß sich am 17. August in Moskau etwas ganz Besonderes ereignen werde. Etwas ganz Besonderes ist nun auch geschehen. Am 30. August, dem 17. alten Stils, fand ein Attentat auf Lenin statt. Am 29. das Attentat auf Uritzki in Petersburg, am 30. August die Revolverschüsse auf Lenin.

Seit den beiden Attentaten sind jetzt mehrere Tage vergangen. Die Verwundung Lenins ist derart, daß mit einer persönlichen Teilnahme des Oberhauptes der Räteregierung an den Geschäften des Rates der Volkskommissare für mehrere Wochen nicht zu rechnen ist. In dieser Zeit wird die feste Hand des überragenden Führers fehlen. Es ist schon um Trotzki seit mehreren Wochen merkwürdig still geworden; Gerüchte wussten von geheimnisvollen Unfällen, die dem Kriegskommissar an der Tschecho-Slowaken-Front zugestoßen seien. Aber in der gestrigen Sitzung des Zentralexekutivausschusses, die den Zusatzvertrag zum Brester Frieden ratifizierte, hielt Trotzki eine lange Rede und wurde dann zum Vorsitzenden des Obersten Kriegsrates ernannt. Neben dem ewig unruhigen, flammenden, mephistophelischen Temperament des großen Agitators Trotzki fehlt trotzdem in den gegenwärtigen kritischen Tagen der klare nüchterne Tatsachensinn Lenins. Auch die Gegner anerkennen die Kraft dieser Persönlichkeit, die Weite ihres Horizontes. In Lenin vereinen sich der unbestechliche Fanatismus des Ideologen, die praktische Schulung des Staatsmannes und eine typisch provinzielle Form tatarisch-russischer Bauernschlauheit zu einer eigentümlichen Mischung von demagogischer Sprengkraft. Gewiss, die politischen Richtlinien der Räteregierung sind für die nächste Zukunft festgelegt. Im Innern der Kampf des „Roten Bundes“ der Arbeiter und Bauern gegen den „Weißen Block“ der Gegenrevolution. Nach außen der Kampf gegen die gigantischen Gewalten des internationalen Kapitalismus. Die Partei der Bolschewiki hat sich durch Usurpation auf die Höhe ihrer jetzigen Macht geschwungen, um sofort den Kampf auf Leben und Tod aufzunehmen. Der ermordete Uritzki war im Januar 1918 Kommissar für die Wahlen zur gesetzgebenden Nationalversammlung; in seinen Händen lagen die Lose. Und als keine noch so kühne Schiebung verhehlen konnte, daß in der Petersburger Konstituante Sozialrevolutionäre plus Kadetten die Mehrheit erlangen würden, löste Lenin durch seine Matrosen die übernächtigte Versammlung auf und schickte sie samt ihrem Vorsitzenden Tschernow nach Hause. Seitdem hat sich in Samara, unmittelbar hinter der Tschecho-Slowaken-Front, eine neue Sozialrevolutionäre Konstituante gebildet. Ihr erstes Lebenszeichen war ein Konflikt mit der aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzten Omsker sibirischen Regierung. Ihr zweites war ihre Rache an Uritzki und an Lenin. Die Bolschewiki kämpften in den Monaten ihrer Herrschaft einen von Woche zu Woche härteren und grausameren Kampf gegen ihre Feinde. Sie sind dabei in ihren Mitteln gewiss nicht wählerisch gewesen. Werden sie von ihren unsichtbaren revolutionären Parteigegnern geschlagen, so rächen sie sich durch Massenterror an der Bourgeoisie. Immerhin können sie von sich sagen, daß sie niemals die Führer ihrer Gegner hinterrücks ermordet haben. Vielleicht bereuen sie es gegenwärtig, daß sie im Anfang sogar darauf verzichteten, ihre hervorragendsten Gegner unschädlich zu machen. Man muss ferner den führenden Männern der Sowjetregierung nachsagen, daß jeder einzelne von ihnen wie ein Löwe kämpft und unermüdlich arbeitet. Mit ihrem entschlossenen Versuch, die Theorien ihrer marxistischen Überzeugung in die Wirklichkeit eines modernen, komplizierten Staatsorganismus umzusetzen, haben sie eine Leistung vollbracht, die einer späteren Geschichtsschreibung reichlichen Stoff geben wird. Die schmale, jüdische Frau im russischen Kopftuch, die auf Lenin schoss, war freilich, ebenso wie der jüdische Student, der Uritzki ums Leben brachte, aufrichtig davon überzeugt, daß Lenin Russlands Verderben sei. Diese Überzeugung lebt ja nicht nur in denen, die die Pistole erheben.

Die Überzeugung, daß Russland verdirbt, daß aus den jetzigen Todesqualen Russlands noch keine Sonne neuen Lebens emporsteigt, ist freilich, trotz musikalischer Stunden im Großen Theater, allgemein. Krieg und Revolution üben noch immer an Russland ihre volle ätzende Wirkung. Brot, Freiheit und Frieden waren die drei Worte, mit denen Lenin die Regierung antrat. Und diese Regierung sieht sich jetzt, nach zehn Monaten ihrer Existenz, genötigt, um den phantastischen Preis der Lebensmittel in ihrer Hauptstadt auch nur um ein Geringes herabzusetzen, zu dekretieren, daß es dem einzelnen erlaubt sei, ungestraft 1 ½ Pud Lebensmittel von außerhalb in die Stadt Moskau hereinzubringen. Trotz des Dekrets beschlagnahmen die Rotgardisten diese 1 ½ Pud Mehl oder Kartoffeln oder Rüben der armen Leute auf den Bahnhöfen. Die Regierung versprach Freiheit, und der Druck der Obrigkeiten in Moskau ist jetzt schwerer als er jemals unter den Zaren war. Die bekannten alten „intelligenten“ Zeitungen sind unterdrückt. Das Telephon hat sechs Wochen lang nicht gearbeitet. Wegen des Zustandes der Verkehrsmittel ist eine Reise von einem Ende der Stadt zum anderen nur in Stunden möglich. Und statt des Friedens herrscht Aufstand, Blutvergießen, bittere Fehde in Stadt und Land. Ich ging gestern, am Sonntagnachmittag, an der Erlöserkirche vorbei. Die Kirchentür stand offen, die Glocken läuteten, und in unmittelbarer Nähe der Kirche, an beiden Ufern des Moskauflusses, auf dem die stillen Kähne der Fischer lagen, knallten Gewehrschüsse. Die Leute auf der Straße traten, ohne viel zu sagen, an die Böschungsmauern des Kirchenhügels in Deckung und warteten, ein wenig verstört, bis dieser Platzregen vorüber war. Dann ging man wieder, ohne sich umzusehen, seiner Wege.

Eine Frage nach dem berühmten Lebensmitteldekret war es ja, mit der die beiden Frauen Lenin beim Fabrikausgang aufhielten; Lenin antwortete, daß die Rotgardisten kein Recht haben, den Leuten ihre 1 ½ Pud wegzunehmen. Trotzdem krachten die Schüsse aus nächster Nähe; Frau Kaplan schoss vom Knie aus und zielte auf Lenins Herz. Die gesamte Anlage des Attentats verrät die Schule Sawinkows, des Arrangeurs von Attentaten aus Sport. Wehe der Welt, wenn einmal Russland auf diesem Gebiet weiter Schule macht.

Lunatscharski, der Schöpfer des russischen „Proletkult“, fast des einzigen innerpolitischen Gegenstandes, dessen sich die bescheidenen Witzblätter des gegenwärtigen Russlands schüchtern zu bemächtigen wagten, sprach auf der Bühne des Großen Theaters noch ein anderes gewichtiges Wort. Er sprach von dem Titanenkampf des Proletariats. „Vielleicht werden wir eines Tages verschwinden müssen. Vielleicht werden unsere Feinde uns eines Tages doch erwürgen. Aber dann wissen wir felsenfest, daß wir wiederkommen werden.“

Angesichts der heute in den Blättern mit großen Lettern verkündeten Aufdeckung einer weitverzweigten von den offiziellen Vertretern Englands und Frankreichs in Moskau eingeleiteten Verschwörung zum Sturz der Räteregierung und zur Verhaftung des gesamten Zentralexekutivausschusses, die am 10. September stattfinden sollte, ist es jetzt freilich überflüssig, abermals auf Aussprüche moskowitischer Sibyllen zu verweisen. Aber es gibt auch bei dem Ausspruche Lunatscharskis nichts zu lächeln, einerlei, ob sich nur die erste Hälfte dieses Ausspruchs oder auch der ganze verwirklichen sollte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau