Die Handelspolitik der Volkskommissare

Nach der kommunistischen Theorie, die, solange die gegenwärtigen Machthaber am Ruder sind, in Russland die Gesetze schreibt, ist das Ziel der Revolution die Verwandlung des Staates in eine bloße Verwaltung der Produktion. Neben der Überleitung des Handels aus den Händen der Privatunternehmer in die Hände staatlicher Zentralverwaltungen bildet die durch alle Schrecken des Klassenkrieges beschleunigte Vernichtung der oberen Klassen und des Mittelstandes, denen man ihre Reichtümer entreißt, deren Ansprüche aufgehoben und deren bisherige Einnahmequellen abgeschnürt werden, das Gewaltmittel dieses großen sozialen Umschichtungsprozesses. Die Intensität dieses Prozesses kann in Russland kaum übertroffen werden. Seine Dauer wird in der Hauptsache durch die außenpolitische Lage bestimmt. Davon hängt es ab, ob schließlich wirklich das Verschwinden der Klassengegensätze als revolutionäres Ziel erreicht wird, oder ob ein neuer, aus wohlhabenden und bessergebildeten Arbeitern und Bauern bestehender Mittelstand emporsteigt, dem das proletarisierte Bürgertum von gestern die Straßen kehrt. Der Entwicklungsgedanke ist das Neue in der gegenwärtigen russischen Revolution, die sich vielleicht weniger in ihrem typischen Verlauf als in ihren Grundanschauungen von der naturromantisch inspirierten französischen Revolution unterscheidet. Auch die Bolschewiki geben zu, daß die an Blutopfern und Zerstörungen unerhörte gegenwärtige Umwälzungsepoche nur dann einen Sinn habe, wenn sie in einer allgemeinen Befreiung der Produktivkräfte, einer Weckung neuer und lebensfähiger sozialer Organisationen und in einer besseren bürgerlichen Gesellschaft als der bisherigen ende. Die Form der Sowjets bildet nach der neuen russischen Verfassung die Urzelle des neuen gesellschaftlich organisierten Russland. Sie ist von keinem Theoretiker erfunden worden, sondern sie ist schon im November 1905 gleichsam von selbst entstanden, als es sich darum handelte, die Mitbestimmung der Arbeitermasse überall und mit einem Male in die Praxis des alltäglichen Berufsund Verwaltungslebens einzuführen. Die Bewegung, die zur Einsetzung der Räte führte, hat natürlich ihre Ausartungen; grundsätzlich aber bot sie Russland, wo schon längst der genossenschaftliche Gedanke tiefere Wurzel geschlagen hat als in irgendeinem anderen Lande, die Lösung der Frage, wie Lokalverwaltung und Zentralverwaltung auf gleicher Ebene, ohne Wiederkehr der alten obrigkeitlichen Schichtung, miteinander zu verknüpfen seien. Jeder Tag der Herrschaft der Räte im jetzigen Russland ist indessen nicht nur ein Schritt näher zum Grabe der tief versündigten und verweichlichten russischen Gesellschaft des alten Regimes, er bedeutet daneben auch den sichtbaren Untergang unwiederbringlicher materieller Werte, nützlicher Kenntnisse, bewährter Einrichtungen, die erst von künftigen Generationen neu hervorgebracht werden müssen.

Der Handel und Wandel in Russland beschränkt sich zurzeit auf das Mindestmaß. Vielfach gleichen die Zustände mit ihrem Kampf aller gegen alle denen des Dreißigjährigen Krieges. Moskau ist zurzeit von allem Verkehr mit den entlegeneren Gebieten des ehemaligen Reiches abgeschnitten. An die Stelle des ganz unregelmäßig funktionierenden Postverkehrs treten mittelalterliche Organisationen von Privatkurieren, die die Übermittlung von Zeitungen, von Geschäftsund Familiennachrichten übernehmen. Die Banken, die alten Handelshäuser, die Speicher, die Schreibstuben der Kommissionäre sind geschlossen. Viele Firmen haben die Mehrzahl ihrer Angestellten entlassen und liquidieren ihre Geschäfte unter der Kontrolle bewaffneter Ratssoldaten. Petersburg ist nur noch die Leiche einer Stadt. Das Moskauer Börsenviertel mit seinen geschlossenen Kontoren, den durch Bretterwände geschützten Gewölben und Schaufenstern und seinen kaum noch von Fuhrwerken befahrenen Gassen und Höfen bietet ein melancholisches Bild. Zwar haben sich die herkömmlichen großen Montagsmärkte des Kleinhandels am Smolensker und Sucharewsker Boulevard mit ihrem dichtgedrängten Publikum erhalten, man findet dort alle erdenklichen Waren, billigste Besatzartikel und chinesische Altertümer, Gurken, Schaftstiefel und von Gewehrkugeln durchlöcherte Pelzmäntel nebeneinander. Auch diese Märkte werden nicht selten von Razzias der Miliztruppen aufgescheucht, aber das Publikum kümmert sich um diese Einschüchterungsversuche wenig. Die Handelsherren und Fabrikbesitzer stehen unter der doppelten Aufsicht der „Außerordentlichen Kommission gegen Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“ und der Arbeiterausschüsse. Geschäftsleute, die auf Spekulationsgeschäften ertappt werden, werden erschossen, Ingenieure, Fabrikdirektoren, die ihren Betrieben fernbleiben, wegen Sabotage verhaftet. Viele sind in die Ukraine abgereist. Eine große Zahl von Industrieunternehmen ist auf diese Weise herrenlos geworden. Sie sind in den öffentlichen Besitz übergegangen, d. h. sie werden von den örtlichen Räten oder Arbeiterorganisationen geleitet und betrieben. Daneben ist die Zentralisierung der Industrieunternehmen nach Branchen in Angriff genommen worden. Bei den Zucker-, Tabak- und Papierfabriken wurde sie schon durchgeführt. Auch der Handel jeder Branche geschieht durch eine neugegründete Zentralstelle, die ihrerseits wieder mit den Zentralen der anderen Branchen in Austausch tritt. Es gibt also russische Zentralbehörden für den Handel mit Wolle (Zentroscherstj), Papier (Zentrobumaga), Tee (Zentrotschai), Tabak (Zentrotabak), Webwaren (Zentrotextil) usw. Diese fungieren passiv als Abrechnungsstellen, aktiv als Auftraggeber an die Industrien. Allerdings bieten gewisse Branchen der Zentralisierung Hindernisse, so die Manufakturindustrie. Die Arbeiterschaft einzelner Zeugwebereien, wie der von Prochorow in Moskau, widersetzt sich entschieden der Nationalisierung. Überhaupt ist eine Anzahl Fabriken bis jetzt im Privatbesitz verblieben. Viele von ihnen haben die Arbeit ganz oder teilweise eingestellt, zahlen aber den Arbeitern die Löhne weiter. Es ist klar, daß unter solchen Umständen von Dividenden auf den Aktienbesitz nicht mehr die Rede sein kann. Solche Firmen leben aus ihren Reserven, offenbar in der Erwartung, daß es gelingen werde, die Betriebe wenigstens in ihrem Rohzustand in eine andere Zukunft hinüberzuretten. Die Voraussetzung zu dieser Zukunft ist ein politischer Umschwung, der die Privatwirtschaft wieder herstellt. Aber das Schicksal der jetzt von ihrem Kapital zehrenden, gleichsam bilanzlos existierenden Privatunternehmungen ist besiegelt, wenn dieser Umschwung nicht in absehbarer Zeit eintritt.


In der gegenwärtigen Zeit der Wirren fehlt es sowohl an dem materiellen Faktor der Produktion wie an dem psychologischen: es fehlen die Rohstoffe, wie Kohle, Metalle, Getreide, Baumwolle, und den Arbeitermassen, von den technisch geschulten Leitern nicht zu reden, fehlt die Arbeitsfreudigkeit, die Stimmung für eine geordnete Arbeit. Die Sowjetregierung hat allmählich selbst begonnen, dafür zu sorgen, daß auf den Fabriken während der achtstündigen Arbeitszeit auch wirklich gearbeitet wird; die Anfangsperiode der Revolution, wo es taktischer Grundsatz der Führer war, die Arbeit durch Veranstaltung von Fabrikversammlungen zu stören, ist vorüber. Aber die Gesamtfrage ist noch unentschieden. Ein großer Teil der Arbeiter steht jetzt den organisatorischen Experimenten der Räteregierung ungläubig und ungeduldig gegenüber. Gegen die außerordentliche Teuerung der Lebensmittel und Bedarfsartikel bringen auch die hohen Löhne und die vom Staate ausgezahlten Arbeitslosenunterstützungen wenig Abhilfe. Zwar herrscht in Russland wie in anderen kriegführenden Ländern Geldüberfluss, aber dieser wird aufgehoben durch die allgemeine Entwertung des Geldes. Dabei sind die Fabrikarbeiter auf dem Gebiete der Versorgung noch bedeutend besser gestellt als die übrigen Klassen, besonders der Beamtenstand. Denn die Fabrikausschüsse machen nicht nur von ihrem Recht, sich auf eigene Faust bei den Bauern zu verproviantieren, erfolgreichen Gebrauch, sondern die Arbeiter erhalten ohnehin Zusatzrationen. Die gegenwärtige außenpolitische Lage Russlands, die Mobilmachung der Arbeiter gegen Tschecho-Slowaken, Anglofranzosen und Konterrevolutionäre trägt neue Unruhen in die Arbeitermassen. Vielleicht ist der Lähmungszustand auf allen Gebieten der Industrie und des Handels nur vorübergehend, aber er dauert schon zu lange, um nicht auch unter den Theoretikern der neuen Wirtschaft zuweilen Mutlosigkeit hervorzurufen. Gelegentlich sind es die Arbeiter selbst, die von der Regierung die Freilassung ihrer verhafteten Direktoren und Betriebsleiter fordern. Es kommt vor, daß die Arbeiter, wie bei den Eisenbahn Werkstätten „Sormowo“ in Nishnij Nowgorod, deren Leistung sich in den letzten Monaten gebessert hat, freiwillig auf ihre Majorität in der Fabrikleitung verzichten und so die Verantwortung an die frühere Geschäftsleitung zurückgeben. Doch dies sind bis jetzt nur vereinzelte Reaktionserscheinungen.

Seit dem Brester Frieden ist bereits mehr als ein halbes Jahr vergangen. Das dem Artikel II des Friedensvertrages angehängte deutschrussische Wirtschaftsabkommen zeigt, wie sehr das Hauptgewicht des Vertrages auf der sofortigen Wiederherstellung friedensmäßiger Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern liegt. Beide Länder haben denn auch einander seit Monaten Kommissionen und Sachverständige zugesandt, die den Handelsverkehr in die Wege leiten sollten. Aber von einem regelrechten Handelsverkehr zwischen Deutschland und Russland ist noch immer nicht die Rede. Anders als auf dem Wege des Schmuggels sind bisher noch so gut wie keine deutschen Waren nach Russland oder russischen Waren nach Deutschland gekommen.

Zwischenstaatliche Handelsbeziehungen hängen von dem guten Willen der Nationen ab. Der gute Wille, den Handel wieder aufzunehmen, ist in deutschen wie in russischen Handelskreisen vorhanden. Aber die Dekrete der Räteregierung über die Regelung des Handelsverkehrs innerhalb Russlands und mit dem Auslande beruhen auf Grundsätzen, die, wenn sie durchgeführt werden sollen, eine weitgehende Anpassung der übrigen Staaten an den neuen Wirtschaftszustand in Russland und damit zum mindesten eine Reihe ebenso schwieriger wie interessanter Verhandlungen zur Voraussetzung haben. Das sozialistische Räte-Russland mit seinen neugeschaffenen Handelsorganisationen und seiner von marxistischen Faktoren bestimmten Preispolitik sieht sich einer Reihe von bürgerlichen Staaten gegenüber, deren Handel und Industrie im wesentlichen noch privatwirtschaftlich organisiert ist. Nicht nur in deutschen Kreisen herrscht über die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten, den Handelsverkehr mit Russland wieder in Gang zu bringen, Enttäuschung. Die Enttäuschung ist fast noch größer in einigen neutralen Ländern, die sich von Russland nach dem Brester Frieden eine besonders günstige Konjunktur versprochen hatten.

In skandinavischen, in holländischen und in schweizerischen Handelskreisen scheint man teilweise noch nicht verstanden zu haben, daß die Sachlage heute, wo der russische Staat, beziehungsweise die Sowjetregierung selber als Exporteur und Importeur auftritt, eine gänzlich andere ist als vor dem Kriege. Man schiebt die Schuld auf Machenschaften der deutschen oder auch der japanischen und amerikanischen Großindustrie in Russland. Die einfache Wahrheit aber ist, daß die kleinen Handelsstaaten ebenso wie die großen Zeit brauchen, um sich mit der neuen Sachlage abzufinden. Wenn in Russland die alten Verhältnisse noch weiter bestünden, so müsste es beispielsweise schwedischen Kaufleuten jetzt, wo der Schiffsverkehr zwischen Stockholm und Petersburg wiederaufgenommen wurde, ein leichtes sein, russische Pelzwaren nach Schweden einzuführen. Heute bedarf es dazu umständlicher Schritte: zunächst eines Gesuches an das Handelskommissariat in Moskau um die Lizenz mit der Anfrage, zu welchen Preisen die Regierung die Ausfuhr freigibt. Die Handelskommission ihrerseits hat die Tendenz, den Verkaufspreis für Pelze nicht nach dem russischen, sondern nach dem augenblicklichen schwedischen Marktpreise festzusetzen, ohne Rücksicht darauf, wie weit dieser Preis durch Spekulation während des Krieges in die Höhe getrieben wurde. Gesetzt, daß schließlich eine Einigung über den Preis zustande kommt, muss aber auch noch gleichzeitig über Kompensationen durch schwedische Waren verhandelt werden. Das Gold als Tauscheinheit hat in dieser neuen zwischenstaatlichen Kriegshandelspolitik seine Bedeutung von früher völlig verloren. Der einst verhältnismäßig einfache Prozess der Ausfuhr und Einfuhr auf Grund von Krediten und Devisen ist also jetzt zu einem äußerst komplizierten geworden. Der Handelsgewinn des ausländischen Kaufmanns sinkt bei dem neuen System auf ein Minimum herab, und damit auch zugleich der Anreiz, das Geschäft überhaupt in Angriff zu nehmen.

Über die Lage des Warenaustausches mit den einzelnen Ländern machte kürzlich der Handelskommissar Bronski einige Mitteilungen, die zwar in einem optimistischen Tone gehalten waren, aber den dürftigen Tatbestand nicht verhehlten. Mit Schweden, als mit einem neutralen und geographisch naheliegenden Lande, sei der Warenaustausch zuerst geregelt worden. Schweden biete landwirtschaftliche Apparate, Maschinenersatzteile für die Papierindustrie, Telephonmaterial und Stahlwaren, Russland könne dafür Schmieröle, Flachs und Hanf geben. Leider habe Schweden eine Taktlosigkeit begangen, als es leere Schiffe zwecks Ausfuhr russischer Waren nach Petersburg schickte. Wenn Moskau jetzt ohne Telephon sitze, so falle die Schuld dafür auf die schwedischen Exporteure, die das Misstrauen des Petersburger Proletariats wachgerufen hätten. Inzwischen sei die erste Partie schwedischer Telephonschnüre eingetroffen; zwei Schiffsladungen Sensen, die gegen Schmieröle und Hanf ausgetauscht werden, seien unterwegs. Ein Handelsabkommen mit Schweden sei in Vorbereitung.

Was den Warenaustausch mit Deutschland anbetrifft, so sei in den letzten Wochen für die Petersburger Industrie deutsche Kohle angekommen, welche durch Metalle, Asbest, Schmieröle, Flachs, Hanf und Textilware kompensiert werde. Selbstverständlich seien diese Kohlen nicht billig, ebensowenig aber auch die nach Deutschland gehenden russischen Waren. Außer Kohlen könne Russland auch Arzneimittel, Farbstoffe und Maschinenteile aus Deutschland erhalten.

Über die Handelsbeziehungen mit England hätten kürzlich in Moskau Besprechungen zwischen der Räteregierung und einer Delegation des englischen Handelsministeriums stattgefunden. Russland habe darauf hingewiesen, daß es die in England und Amerika bestellten und bezahlten Waren, wie landwirtschaftliche Maschinen, Lokomotiven und Transportmittel, dringend benötige und ihre Ablieferung zunächst verlange. Dem englischen Vertreter sei der Wunsch ausgesprochen worden, Russland mit Schiffsraum zu versehen, in erster Linie aber die Unantastbarkeit der russischen Handelsflotte zu garantieren. Handelsbeziehungen mit England werden aber erst dann möglich sein, wenn die englische Regierung die Räteregierung anerkenne und darauf verzichte, mit verschiedenen Gebieten Russlands unter dem Vorwande, daß in Archangelsk, auf Murman usw. neue Staaten in Bildung begriffen seien, Sonderverhandlungen anzuknüpfen.

Die in diesen Strichen geschilderte Lage der Handelsbeziehungen Russlands zu Schweden, dem Deutschen Reiche und England ist jedenfalls ebenso typisch für die politische Lage Russlands diesen einzelnen Mächten gegenüber wie für seine Handelsbeziehungen zu den übrigen neutralen oder kriegführenden Staaten überhaupt. Sie zeigt, daß es in jedem Falle erst der Regelung durch grundsätzliche neue Verträge bedarf. Was nun Deutschland anbelangt, so werden die sogenannten Ausführungsverträge zum Brester Frieden, wie in Sowjetkreisen verlautet, eine Reihe wichtiger gegenseitiger Zugeständnisse enthalten. Das wäre sehr zu begrüßen. Der amtliche Verkehr zwischen der deutschen Vertretung und der Räteregierung ist schon seit langem durch die Verschleppungstaktik, mit der diese selbst die Erledigung nebensächlichster Geschäfte erschwert, zu einem recht unbefriedigenden geworden. Kuriere werden auf russischem Boden angehalten, das Eigentum von Deutschen wird beschlagnahmt, deutsche Unternehmen verfallen der Nationalisierung, für Diebstähle und andere Gewalttaten wird kein Ersatz geleistet. Deutsche Wirtschaftskommissionen, die sich nach Moskau, begeben, stoßen auf verschlossene Türen, auf neue, über Nacht erlassene Dekrete, auf beschlagnahmte Bestände, auf einen völlig zerrütteten Handel, auf Schwierigkeiten, Schikanen jeder Art. Anordnungen des Obersten Rates für Volkswirtschaft werden von den örtlichen ausführenden Organen einfach nicht eingehalten. Anerkannte Ansprüche auf Schadenersatz werden auf die große endgültige Gesamtabrechnung verwiesen. Tatsächlich führen in Moskau weder Noten noch persönliche Besprechungen zu einem positiven Ziel. Man hat den Eindruck, als ob die eine Partei Chinesisch spreche und die andere mit ihrem Latein zu Ende sei. Von deutscher Seite enthält nun der neue Vertrag angeblich die Anerkennung des Dekrets der Räteregierung vom 28. Juni 1918 über die Nationalisierung der Industrien. Alle früheren deutschen Beteiligungen an russischen Industrieunternehmungen werden dadurch mit einem Federzuge liquidiert und durch Auszahlungen aus der Pauschalentschädigung abgefunden.

Zweifellos haben diese Abmachungen etwas Einleuchtendes; sie bedeuten für Deutschland und die deutschen Gläubiger eine schätzenswerte Vereinfachung. Aber auch die Räteregierung verzeichnet sie als einen Erfolg von großer Tragweite. Durch diese Vereinbarung falle nämlich für Deutschland der Anlass fort, sich dem von verschiedenen neutralen Staaten gemeinsam geführten Protest gegen die Nationalisierung der Industrien anzuschließen. Ferner werde durch die summarische Abfindung der deutschen Gläubiger künftig auch der versteckte Schutz russischer Privatunternehmungen, in denen durch die Maßnahme der Räteregierung deutsches Kapital mitbetroffen würde, nicht mehr möglich sein. Auf die Haltung der russischen Bourgeoisie muss die neue deutsch-russische Vereinbarung jedenfalls in einem gewissen Sinne zurückwirken. Diese russische Bourgeoisie ist allerdings unter Miljukow und Gutschkow ein treibendes Element des Krieges gewesen. Das ist weltbekannt. Sie hat auf Schonung gewiss wenig Anspruch.

Mit besonderem Nachdruck wird von russischer Seite immer wieder darauf hingewiesen, daß die Grundvoraussetzung aller zukünftigen russischen Handelspolitik in einer endgültigen Regelung des Verhältnisses der Räterepublik zur Ukraine zu erblicken sei. Bei den sich hinziehenden Friedensverhandlungen in Kiew haben die beiderseitigen Kommissionen für den Warenaustausch ein vorläufiges Abkommen vereinbart, wonach die Ukraine verspricht, Russland je zwei Millionen Pud Kohle und Koks, daneben große Mengen Gusseisen und Eisenbahnschienen zu liefern, wogegen sich Russland zur Lieferung von Naphthaprodukten, Schmierölen, Papier, Zement, Grubenholz, elektrischen Artikeln und Webstoffen verpflichtet. Außerdem wurde ein Austausch ukrainischer Lebensmittel, vor allem Getreide, gegen Manufakturwaren und sonstige Kurzwaren vorgesehen. Dieses Abkommen betrifft aber, soweit sich beurteilen lässt, nur den Bedarf der nächsten Monate. Ohne die Kohle des Donezgebietes, die Erze des Ural und die Erdölprodukte des Nordkaukasus kann die Sowjetrepublik auf die Dauer ihre Fabriken und ihren Handel, der zur Zeit nur aus aufgestapelten beschlagnahmten Vorraten schöpft, nicht im Gang halten. Die Entscheidung über diese Zukunftsfragen gehört in den Bereich der endgültigen Regelung des Gesamtverhältnisses zwischen Deutschland und dem Osten. Auch die Unterschrift unter den Ausführungsvertrag zum Brester Frieden wird somit die versperrten Schleusen des deutsch-russischen Handelsverkehrs nicht endgültig öffnen. Gewisse Vorwände werden wegfallen, mit denen die Räteregierung bisher diesen Handelsverkehr in der Praxis verhindern und alle einzelnen Anknüpfungsversuche nach Russland gereister wirtschaftlicher Sachverwalter auf die in Aussicht stehende Gesamtabrechnung verweisen konnte; aber andere Vorwände, vielleicht auch wirkliche Hindernisse, werden in Menge übrigbleiben. Dann aber wird es sofort fraglich, ob die Zusatzverträge einen anderen Zweck hatten, als ihren bureaukratischen Urhebern eine Stunde der Selbstzufriedenheit zu bereiten.

Den Bevollmächtigten der einzelnen deutschen wirtschaftlichen Stellen hat sich nun zuletzt, und ohne auf die Wirkung der neuen Verträge zu warten, die militärische Verwaltung von Oberost angeschlossen. Wie eine selbständige Firma, die ihre eigenen Musterkoffer hinausschickt und für prompte Lieferung Garantien bietet, hinter denen jede Konkurrenz zurückstehen muss, so kam ein kaufmännischer Bevollmächtigter von Oberost mit festen Angeboten nach Moskau. Oberost erklärte sich bereit, an die Räteregierung in kürzester Zeit jede gewünschte Art von Maschinen, Stahlwaren, chemischen Produkten, eventuell auch Kohlen zu liefern, wenn Russland in der Lage sei, seinerseits mit der Lieferung bestimmter Waren ebenso unmittelbar zu beginnen. Auf die verwunderte Frage, wie eine Militärverwaltung denn imstande sei, solche Handelsgeschäfte durchzuführen, antwortete der Vertreter mit dem Hinweis, daß seine Behörde in der Lage sei, aus den Vorräten der deutschen Industrie zu requirieren, was sie brauche. Die Räteregierung zeigt Neigung, ohne weiteres auf diesen Vorschlag einzugehen, zumal ihr zugesichert wurde, daß alle Waren, die von Russland an Oberost geliefert werden, an das Reich nicht geliefert zu werden brauchen, d. h. von den durch die Handelskommissionen in Berlin und Moskau zum Austausch bestimmten Warenmengen abgezogen werden dürfen.

Dieser überraschende Eingriff der Militärverwaltung Oberost in die Angelegenheiten des deutsch-russischen Handelsaustausches mit seinen Aussichten auf Erfolg ist für die Verhältnisse in beiden Ländern bezeichnend. Vielleicht wäre es richtig gewesen, schon längst diese summarische Methode des nachbarlichen Austausches anzuwenden, die sich über die privatwirtschaftlichen Organisationen auf deutscher Seite ebenso hinwegsetzt, wie sie den sozialwirtschaftlichen der anderen Seite Toleranz entgegenbringt. Den russischen Handelspolitikern, die sie als eine Art Bolschewismus von oben bezeichnen, ist sie unleugbar sympathisch.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau