Die Außerordentliche

In dem großen beschlagnahmten Geschäftshause der Russischen Versicherungsgesellschaft in Moskau, einem Eckhaus der Lubjanka, hinter Fensterscheiben, die seit einem Jahr nicht mehr gereinigt worden sind, befindet sich das Hauptquartier der „Allrussischen Außerordentlichen Kommission für die Bekämpfung der Gegenrevolution, Spekulation und Amtsvergehen“ . Diese berühmte Kommission führt im Volk den Namen „Tschreswytschaika“ — „die Außerordentliche“. Ihre Tätigkeit ist allerdings außerordentlich in vielen Beziehungen, Ihr Quartier in Petersburg ist ein großes Eckgebäude an der Gorochowaja, dessen Eingänge und Treppen inwendig mit Maschinengewehren besetzt sind und dessen Hof von Automobilen und Lastwagen voll steht. Vor der Tür des Moskauer Hauptquartieres halten Tag und Nacht Motorräder und Automobile, bewegen sich immer Menschen in Zivil und Rotgardistenuniform als Wachen, was indessen nicht hindert, daß gelegentlich eines der Automobile von Unbekannten, die es plötzlich und mit vorgehaltenem Revolver besteigen, nach unbekanntem Ort entführt wird. Auf den Treppenabsätzen, vor jeder Biegung der Gänge im Innern dieses Gebäudes, stehen bewaffnete Posten. Arrestlokale voll von Untersuchungsgefangenen befinden sich in den Kellern, die früher einer großen Moskauer Firma als Weinlager dienten; hölzerne Verschlage dienen als Einzelzellen. Räume für Verhöre, für Aktenarbeit, für Sitzungen, für Wartebänke bietet das ganze Haus. Der Chef empfängt Besuche in einem sagenhaften Zimmer, das er durch ein Büfett zu verlassen vermag. In diesem Zimmer ist es durch eine an die Wand geheftete Bekanntmachung verboten, „den Revolver zu berühren“. Sieht man durch die Straßen Moskaus Lastautomobile sausen, in denen eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter, in langen Mänteln steckender Milizen aufrecht steht, so ist es sicherlich eine der f hegenden Abteilungen der „Außerordentlichen“, die sich nach irgendeiner Stelle begibt, wo es gilt, ein Häuserviereck zu umstellen, Wohnungen zu durchsuchen, den Inhalt von Warenspeichern zu beschlagnahmen oder Verhaftungen vorzunehmen. Unter den Mitgliedern der Kommission sind auffallend viele Nichtrussen: internationalistische Letten, Ungarn, Polen, Österreicher, Ukrainer, Juden, Kaukasier. Darunter auch einige Frauen von so paradoxer Verschiedenheit wie die gebildete und persönlich sympathische Frau Irmentraut Petrow, eine geborene Breslauerin, und die ebenso stupide wie blutdürstige Lettin Krause. Dsershinski und Peters sind ihre Leiter, ersterer ein Pole, der andere ein Lette, beides Revolutionäre von Beruf und Erfahrung. Besonders Dsershinski, aus litauischem Kleinadel, ein Fanatiker wie Saint Just, seit 20 Jahren Mitglied der polnischen internationalistischen sozialistischen Sektion, bei der Räumung Warschaus 1915 aus dem Gefängnis nach Moskau überführt und dort freigeworden; ein Mann, der, was viel sagen will, in Russland höchstwahrscheinlich mehr Todesurteile unterzeichnet hat, vor Flüchen und vor Tränen unerbittlicher geblieben ist als irgendein Sterbücher vor ihm; ein Jakobiner, von dem behauptet wird, daß er eher Lenin oder sogar sich selbst verhaften werde, als der „Idee“ einen Augenblick untreu zu werden; ehemaliger politischer Sträfling, durch die Jahre der Einsamkeit in der Zelle in Weltbeglückungsideen von typisch slawischem Mystizismus, in den Erlösungsgedanken, in ästhetische Grübeleien eingesponnen; und der geborene Polizeichef, kaltblütig, wachsam und listig, ein Spezialist in der Kunst, eine Großstadt wie Moskau durch seine Strategie der Häuser und Stadtviertel, durch die Besetzung aller hochgelegenen Stockwerke, durch eine geschickte Verwendung seiner Häscher und Lauscher, durch Verbreitung angsterregender Gerüchte dauernd in Respekt zu halten und diese Stadt auch faktisch zu beherrschen durch die raffinierte Verteilung seiner beweglichen und unbeweglichen Kampfmittel, zu denen Panzerautos, Maschinengewehre, Handgranaten, Gefängnisse und kleine improvisierte Festungen gehören.

Die „Außerordentliche“ machte gewaltig von sich reden, als im Juli dieses Jahres zwei ihrer Unterbeamten den Grafen Mirbach ermordeten und dann durch die Netze ihrer Kameraden in das gelobte Land der Ukraine entschlüpften. Es offenbarte sich da, daß die Kommission Elemente enthielt, die imstande waren, eine Politik der Tat im Dienst gewisser Minderheitsparteien zu treiben. Eine Reinigung wurde vorgenommen. Auch Dsershinski trat von seinem Posten zurück, aber nur auf wenige Wochen. Denn er war unentbehrlich, und bald war alles wieder beim alten. Die Macht der „Außerordentlichen“ stieg. Das Revolutionstribunal und sein von Trotzki eingesetztes besonders für die Angelegenheiten der mobilen Armee bestimmtes „Kriegs-Revolutionstribunal“ stand hinter ihr. Sie begann ihren Kampf gegen die Gegenrevolution auch in den übrigen Städten Russlands zu führen. Sehr bald machte sie durch Verhaftungen und Erschießungen von sich reden. Die Bewachung der Grenzen des Landes wurde ihr ebenso übertragen wie die Niederwerfung aufsässig gewordener Bauern durch die zu diesem Zweck gegründeten „ Komitees der Dorfarmut“. Sie kontrolliert die Bahnhöfe und die fahrenden Züge, die Kasernen und das Straßenleben, sie wacht über die Sicherheit und daneben auch ein wenig über die Gesinnung der Räte und der Volkskommissare. In den Städten bildete sich allmählich eine zwar formlose, aber wohlbekannte, scheinbar niemand verantwortliche Polizei, und sie arbeitete dabei nach all den ewigen Regeln und Methoden aller älteren Polizeiorganisationen der Welt, besonders aber der Ochranka des alten zarischen Regimes mit ihrem interessanten Anhang von Agenten, Spitzeln und Provokateuren. Sie unterrichtet sich durch organisierte Aufklärer über die Stimmung der Massen, sie erfährt durch ihre Zuträger die heimlichen Gedanken, Hoffnungen und Ängste der Bürgerkreise. Auf dem Lande begann sie bald ebenfalls nach bewährtem Muster eine eigene zum Teil berittene Gendarmerie einzurichten, eine Truppe, die ausdrücklich den Befugnissen des Kriegskommissars entzogen war. Die „Tschreswytschaika“ nahm so ganz die Umrisse dessen an, was die bewaffnete Ordnungsmacht im alten Russland in den Händen des Ministers des Innern gewesen war.


Natürlich weiß die Räteregierung den Wert dieses scharfen und raschen Instrumentes in ihren Händen sehr zu schätzen. Jede Regierung in Russland wird noch auf lange Zeit hinaus eine despotische sein und sich despotischer Mittel bedienen müssen. Der Charakter der russischen Masse zwingt sie dazu. Der Außerordentlichen Kommission hat die Sowjetregierung unter anderem die Aufdeckung des großen anglo-französischen Komplotts vom September dieses Jahres zu danken, das die lettischen Regimenter bestechen, die Hauptverkehrsadern des Landes unterbinden und die Sowjetregierung durch einen Handstreich beseitigen wollte. Der Rat der Volkskommissare hat die ganze Meute der „Tschreswytschaika“ losgelassen, als es galt, für die Attentate vom vergangenen Sommer Rache zu nehmen; er hat schließlich, als die Panik unerträglich wurde, und das Entsetzen auch im Ausland Widerhall zu finden begann, eine Zeitlang versucht, den Eifer der Kommissare durch die beschwichtigende Mitarbeit einer Frau, die der Kommission beigeordnet wurde, zu mildern. Die „Außerordentliche“ pocht indessen auf die harte Notwendigkeit ihres rücksichtslosen Vorgehens, einerlei, ob es sich um die Räumung der Wohnungen, um unzählige beklagenswerte Familien, um die Versiegelung von Läden, Speichern und Fabriken, um die Erschießung von wirklich Schuldigen, um das Leben von Greisen oder knabenhaften Jünglingen, um die Verhaftung von ehemaligen Offizieren, Polizeibeamten, Ministern, von Bürgern aller Lebensstellungen als Geiseln handelt. Sie entwickelte sich als Selbstzweck. Angesehene Mitglieder der Sowjetregierung forderten Mäßigung, suchten zu intervenieren, drangen aber nicht durch. Schließlich mußte es der Volkskommissar des Innern selber sein, der hier Zügel anlegte, ehe die Außerordentliche Kommission eines Tages dazu übergehen konnte, einen Konvent für sich zu bilden, der imstande war, die der Humanität verdächtigen Mitglieder der Räteregierung selber vor sein Tribunal zu fordern.

Der Innenkommissar Petrowski hat nunmehr ein Statut veröffentlicht, das die Befugnisse der Außerordentlichen Kommission auf einen gesetzlichen Boden stellen soll. Durch dieses Statut wird die Kommission in Moskau als das Zentralorgan bestätigt, das die Tätigkeit aller örtlichen Außerordentlichen Kommissionen verbindet. Zugleich aber wird sie ausdrücklich als Organ des Rates der Volkskommissare bezeichnet. Nur dieser hat ihre Mitglieder zu ernennen. Ihr Vorsitzender ist Mitglied des Kommissariats des Innern, aber dem jeweiligen Innenkommissar keineswegs unterstellt. Das Justizkommissariat ist in der Leitung der Außerordentlichen Kommission durch einen Delegierten vertreten. Jede örtliche Kommission ist zwar berechtigt, ihre bewaffneten Abteilungen zu organisieren, diese aber unterstehen den Vollzugsausschüssen der örtlichen Räte, die im Einvernehmen mit der Allrussischen Außerordentlichen Kommission auch die Kredite für diese Ortsabteilungen zu gewähren und die ihnen gegebenen Instruktionen zu genehmigen haben. Man glaubt offenbar auf diese Weise einen Ausgleich zwischen Zivilgewalt und bewaffneter Gewalt hergestellt zu haben, obwohl bei den Räten der Arbeiter und Bauern, als den eigentlichen Trägern des revolutionären Gedankens in dem gegenwärtigen, von ewiger Unruhe zerfressenen Russland ein Unterschied zwischen Zivilgewalt und bewaffneter Gewalt kaum noch vorhanden ist.

Das neue Statut beschneidet die bisherigen fast unbegrenzten Vollmachten der Außerordentlichen Kommission, die auf dem Wege ist, einen Staat im Staate zu bilden, eigentlich nur in geringem Maße. In einigen Regierungskreisen führt man gegen die „Außerordentliche“ eine Art Kampagne. Das Ergebnis dieser Kampagne ist aber ganz von dem Ansehen und der Machtstellung der jeweiligen Regierung und ihrer leitenden Mitglieder abhängig. Der bisherige, durch Fanatismus und Schlimmeres bestimmte Charakter dieser Behörde wird sich schwerlich ändern.

Zwar hat der rote Terror, der von den ersten Septembertagen an in rascher Steigerung einige Wochen lang in Russland herrschte, nachgelassen. Man ist an manchen Orten, besonders in Petersburg, allmählich in eine sachliche und beschleunigte Prüfung der Angelegenheit vieler Verhafteten eingetreten, die bisher als Gefangene und Geiseln in Gefängnissen und Arrestlokalen verkamen. Eine gewisse Entspannung ist wahrzunehmen. Aber auf wie lange? Man wünscht in den Jahrestagen der russischen Oktoberrevolution die Volksstimmung nicht durch neue schreckenerregende Maßnahmen zu beunruhigen, aber in der Zwischenzeit hat sich eine straffere Organisation dieser eigentümlichen, in schwarzen Lederanzügen auftretenden Inquisitionstruppe vollzogen, und erst in neuen kritischen Momenten, die nicht ausbleiben werden, wird sich zeigen, ob die Außerordentliche Kommission durch ihr neues Statut zu jenem fügsamen Werkzeug der von den verantwortlichen Volkskommissaren geführten Politik geworden ist, als das sie in ihrer primitiven Anlage gedacht war*)

*) Nach der „Iswestija“ vom 2. Februar 1919 sprach sich die Städtekonferenz der russischen kommunistischen Partei am 30. Januar 191 9 in Moskau dahin aus, daß

1 ) Das Recht, irgendwelche gerichtliche Entscheidungen zu treffen, den Außerordentlichen Kommissionen zu entziehen und den Revolutionstribunalen zu übertragen sei.

2) Die Revolutionstribunale seien unverzüglich zu reformieren, das Gerichtsverfahren sei zu beschleunigen. Die Parteiauswahl der Mitglieder der Revolutionstribunale sei sorgfältiger vorzunehmen.

3) Den Außerordentlichen Kommissionen sei die Rolle von Kampforganisationen zur Verhinderung und Unterdrückung von Verbrechen zu belassen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau