Das Schicksal der russischen Kirche

Schon lange vor dem Ausbruch der zweiten Revolution sind in Moskau, dem Hauptsitz der kirchlichen Rechtgläubigkeit, bedeutsame Stimmen für die Trennung der Kirche vom zaristischen Staat laut geworden. Diese Stimmen waren damals ein Beweis dafür, daß einzelne führende Männer die Unhaltbarkeit der alten Ordnung begriffen hatten und sich anschickten, für das Unausbleibliche die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Jetzt ist die Trennung zwischen der russischen Kirche und dem Staat vollzogen. Aber sie geht im Bereiche der Sowjetrepublik tiefer, als es sich die Anhänger einer freieren kirchlichen Richtung einst vorstellten. Sie sieht viel eher einem Kriegszustand zwischen Staat und Kirche ähnlich, der für Russland völlig neu, wenn auch die Folge einer längst zur Krisis treibenden Entwicklung ist.

Das allrussische Kirchenkonzil in Moskau, das seit Wochen in dem mit Goldwänden und großen Heiligenbildern geschmückten Saal des Eparchialgebäudes unter dem Vorsitz des ehrwürdigen blühenden Greises Tychon und des klugen Metropoliten Anastasi von Nishnij Nowgorod seine Versammlungen abhält, beschäftigt sich naturgemäß mit dem künftigen Schicksal der russischen Kirche. Im August verhandelte das Konzil über zwei große Fragen, die beide mit den allgemeinen politischen Problemen der Gegenwart in Verbindung stehen: Die erste, die Frage nach der Wiedervereinigung der Kirchen, hat sich bisher trotz mancher Versuche, die von den gelehrten Mitgliedern der religiös-philosophischen Gesellschaft eifrig gefördert werden, noch, nicht als zur konkreten Behandlung reif erwiesen. Er kam auch diesmal nur zur Aufstellung einiger allgemein gehaltener Thesen. Soweit diese Frage in den früheren Kriegsjahren von einzelnen Geistlichen der anglikanischen Hochkirche und von gewissen französischen Kreisen, denen eine gallikanische Sonderkirche vorschwebt, aufgenommen worden war, erschien sie als das Mittel einer unter dem Einfluss des Weltkrieges gegen Rom wie gegen Wittenberg gerichteten Weltpolitik, die die Gelegenheit wahrnahm, dem russischen Volke gegenüber ein neues propagandistisches Mittel anzuwenden. Man würde in den Kabinetten von London nichts dagegen haben, durch diese kirchliche Form der anglorussischen Verbrüderung eine kirchenpolitische Gleichstellung des Erzbischofs von Canterbury mit den Patriarchen von Moskau und dem Ökumenen von Konstantinopel zu erreichen, die später einmal in Alexandrien, Jerusalem und auf dem Balkan ihre Wirkungen zeigen muss. Nichts zeigt deutlicher als dieser Stand der Frage, wie sehr sich das Problem der Wiedervereinigung der Kirche aus der von den Slavophilen erstrebten Absorbierung der westlichen Kirche durch die östliche in ihr Gegenteil verwandelt hat, ja in etwas Schlimmeres als ihr Gegenteil, da die westliche Kirche bei ihren offiziellen Vertretern ihren Charakter als das Mittel einer imperialistischen Politik nicht im geringsten verhüllt.


Die andere Frage des Konzils kam zu einer vorläufigen Lösung. Sie betraf die Regelung des künftigen Verhältnisses der Häupter der autonom gewordenen orthodoxen Kirchen im Gebiet des einstigen russischen Reiches zum Primat des Moskauer Patriarchen. Diese Frage hat durch die entgegenkommende Haltung des Kiewer Metropoliten eine gewisse Klärung gefunden. Die Ordnung des Verhältnisses zur ukrainischen Kirche, die ihre Verwaltungsangelegenheiten selbständig regelt, deren Bischöfe jedoch vom Moskauer Patriarchen geweiht und deren Konzile durch den Moskauer Patriarchat bestätigt werden, dürfte auch für die übrigen selbständig gewordenen Gebiete das Vorbild sein. Nur der grusinische Patriarch hat das Moskauer Sendschreiben nicht beantwortet. Er ist inzwischen ermordet worden. Immerhin hat sich der Zentralisationsgedanke auf kirchlichem Gebiete bisher noch als lebendig erwiesen. In dem Moskauer Patriarchen haben noch heute alle kirchlichen Organisationen des ehemaligen russischen Reiches von Wilna bis Wladiwostok, von Archangelsk bis Tiflis, ihr gemeinsames sichtbares Oberhaupt. Sein Reich ist größer als Lenins Reich.

Selten hat ein großes Konzil so hohe Erwartungen wachgerufen, wie die jetzt vor ihrem Abschluß stehende Versammlung. Sie ist in der Geschichte der russischen Kirche seit zwei Jahrhunderten die erste, die wieder unter dem Vorsitz eines rein geistlichen Oberhirten zusammentrat. Selten aber stand auch die Kirche derart unter dem Eindruck einer ungewissen Zukunft wie zur Zeit des Moskauer Konzils von 1918. Unter seinen Teilnehmern traten zwei Strömungen hervor, die beide der Räteherrschaft feindlich sind. Die eine ist für eine aktive Einmischung in die Staatspolitik, die andere fordert von der Kirche, daß sie sich der Einmischung enthalte, daß sie sich dem Bösen nicht entgegenstelle und nur die Herzen wecke. Von den zweihundert Vertretern der hohen und niederen Geistlichkeit und der Laien sind in den letzten Sitzungen, nachdem schließlich die Truppen der Räteregierung die Teilnehmer des Konzils aus ihren Wohnungen in den Zellen des Strasnoiklosters ausgewiesen haben, kaum noch einige Dutzend übriggeblieben. Und die Meinungsverschiedenheiten zwischen Geistlichen und Laien, die ebenfalls nicht fehlten, führten schließlich dahin, daß auch eine Reihe dringlicher kleinerer Fragen nicht erledigt werden konnte. So der alte Kompetenzstreit zwischen Kirchenältesten und Gemeinderäten, und die Frage der Liturgien. Die letztere Frage, die entstanden ist, weil der Mangel des zur Herstellung der Weihbrote vorgeschriebenen Weizenmehles in vielen Landkirchen die Einstellung der Liturgien zur Folge hatte, blieb in der Schwebe, da das Konzil nicht den Mut fand zu entscheiden, dass in Notzeiten auch schwarzes Mehl für das vorgeschriebene Weihbrot anwendbar sei.

Nun veröffentlichte auch noch in diesen Tagen die „Außerordentliche Kommission“ Enthüllungen über eine von dem englischen Konsul Lockhart finanzierte, gegen die Räteregierung gerichtete Verschwörung und machte Andeutungen, daß die Spitzen des Moskauer Klerus, darunter der Patriarch selber, in diese Pläne verwickelt seien. Beweise hierfür sind bis jetzt vor der Öffentlichkeit nicht erbracht worden. Aber schon die Beschuldigung ist für das zwischen den Gewalten der Sowjets und der Kirche bestehende Verhältnis bezeichnend. Sie verstärkte die auf dem Konzil bereits hervorgerufene Panik. In Nishnij Nowgorod hat man dieser Tage einen Archimandriten, der zusammen mit vierzig Offizieren und anderen Parteigängern wegen Teilnahme an einem Aufstandsversuch verhaftet worden war, erschossen. In Smolensk ist der Bischof Makari und der Sekretär des dortigen Konsistoriums erschossen worden. Trotz dem Verbot der Räteregierung haben an einem am 2. September in Mohilew veranstalteten weißrussischen Eparchialkongress auch Geistliche aus dem nicht besetzten Teil des Gouvernements teilgenommen, denen nun die Sowjetbehörden im Falle ihrer Rückkehr nach Russland Repressalien androhen. Mit offenem Hohn gegen das Konzil veröffentlichte die „Iswestija“ dann noch die Aussagen eines kürzlich zusammen mit dem Geistlichen Wostorgow verhafteten Erzbischofs Barnabas, der aus Angst um sein Leben vor den Bolschewiki zu Kreuze gekrochen sei und ihnen seine Dienste angeboten habe, um gemeinsam mit dem exkommunizierten Erzbischof Wladimir eine Neuordnung des orthodoxen Kirchenwesens auf kommunistischer Grundlage durchzuführen.

Bekanntlich ist das Amt des Prokurators des heiligen Synods erst durch die Räteregierung aufgehoben worden. Die kirchlichen Angelegenheiten unterstehen jetzt, wie auch das gesamte Schul- und Bildungswesen, dem Volkskommissar Lunatscharski. Bei den öffentlichen Diskussionen, die in den letzten Wochen über die Frage „Sozialismus und Christentum“ in Moskau unter ungeheurem Andrang stattfanden, erklärte Lunatscharski offen, daß der Kampf des neuen Geistes in Russland keineswegs nur den Pfaffen innerhalb der Kirche gelte, die sich selber längst um ihren Kredit gebracht haben, sondern auch den wirklich Gläubigen. Denn in den jetzigen Zeiten sei nicht das Schild der Demut nötig, sondern das Schwert. Die jetzige Regierung rufe zur Auflehnung. Selbst Christus wäre jetzt auf selten des Bolschewismus. Die Befreiung der Armen, die einst im geknechteten Judäa nicht gelang, werde jetzt zur Tatsache werden. Weder die christliche Demut noch die Lehre Tolstois vom Nichtwiderstehen könne die Losung einer Regierung sein, die sich vorgenommen habe, dieses revolutionäre Programm durchzuführen.

In diesen Worten liegt zunächst der offene Widerruf des Wortes, das die bolschewistische Partei zur Zeit ihres Emporkommens in Russland und ihrer Agitation für den Frieden um jeden Preis verkündete, nämlich der Losung vom Nichtwiderstehen. Sodann liegt in ihnen die offene Kriegserklärung der Sowjetregierung gegen die gesamten bisherigen Formen und Institutionen der russischen Kirche. Die Enteignung des Klosterbesitzes, die Vertreibung der Klosterinsassen, das Vorgehen gegen Geistliche, die konterrevolutionärer Bestrebungen verdächtig sind, war nur der Anfang. Nach einer am 24. August veröffentlichten Verfügung des Justizkommissars Kurski verlieren alle Kirchen und religiösen Genossenschaften ihre Rechte als juristische Personen. Nur noch Einzelmitgliedern der Gemeinden wird das Recht eingeräumt Sammlungen „für die Beschaffung von Gegenständen für religiöse Zwecke“ zu veranstalten. Das Eigentum aller Kirchen und religiösen Genossenschaften an Kultusgegenständen geht in die Verwaltung der örtlichen Räte über, die es ihrerseits den Angehörigen der betreffenden Religionsgemeinschaft nur zur kostenlosen Nutzung überlassen. Alles Kircheneigentum, das nicht ausdrücklich für gottesdienstliche Zwecke bestimmt ist, wird nationalisiert. Die Kirchenbücher sind den Standesämtern de örtlichen Räte zu übergeben. Die Abhaltung irgendwelcher religiöser Handlungen und Zeremonien und die Anbringung religiöser Abzeichen in den Räumen staatlicher oder öffentlicher Verwaltungen ist verboten. Religiöse Umzüge sind nur mit schriftlicher Erlaubnis der Ratsbehörden erlaubt. Aus den Kirchen sind alle Gegenstände, „die das revolutionäre Gefühl beleidigen können“, wie Inschriften zum Gedächtnis von Mitgliedern der Dynastie und ihrer Diener, zu entfernen. In allen Schulen, außer den theologischen Seminaren, wird der Religionsunterricht abgeschafft. Alle Gehälter für Religionslehrer werden gestrichen. Die Kirchenschulen gehen in die Verwaltung der örtlichen Räte oder des Volksbildungskommissariates über.

Die Kirche muss diesen schweren Schlag gegen ihre bisherige, allzu stark im Irdischen verankerte Machtstellung ohne eine Möglichkeit des Widerstandes hinnehmen. Es ist kein Wunder, daß sich viele Geistliche gegenwärtig in großer Not befinden. Manche sind genötigt, ein Handwerk zu ergreifen, anderen sichern nur die Geldsammlungen der neugegründeten „Brüderschaften“ einen Unterhalt. In der Requisition von Wohnungen, in der Konfiskation von Eigentum machen die Sowjetbehörden für die Geistlichen keine Ausnahme. Die in Russland so zahlreichen Privatkirchen und Kapellen in Privatgebäuden, Schulen und Krankenhäusern sind bereits geschlossen worden. Es kann geschehen, daß eines Tages auch die großen Kirchen geschlossen werden, trotz des Zulaufes, den sie aus den Kreisen des bedrückten Bürgertums heute finden. Vielleicht gerade deswegen. Die Dinge nähern sich von Monat zu Monat den Zuständen in Frankreich an einem gewissen Zeitpunkte der Revolution. Dort wurden ja damals eine Zeitlang Kirchen als Ställe und Vorratsspeicher benutzt, und in Notre-Dame zu Paris krönte man die Göttin der Vernunft.

Es mag paradox erscheinen, angesichts des Sturmes von Leiden, der das russische Volk in der Gegenwart durchrüttelt, sozusagen vom Standpunkt des unbeteiligten Zuschauers, zu äußern, daß auch diese Zeit der Prüfungen einmal vorübergehen und das religiöse Leben in Russland nur zu einer neuen reicheren Entfaltung führen wird. Aber wer könnte ohne einen solchen optimistischen Glauben die viel größeren Stürme der jetzigen Kriegszeit überhaupt noch ertragen. Seit Jahren kämpfen die besten Männer Russlands für die Befreiung der Kirche aus dem Banne des Zarentums und aus dem Gefängnis seiner im Formenwesen erstarrten byzantinischen Überlieferung. Wladimir Solowjew, dessen Einfluss in Russland im Wachsen ist, hat in seinen philosophisch-theologischen Schriften versucht, auf die reichen Traditionen der altchristlichen östlichen Kirche zurückzugreifen und dieses Element einer im Westen fast verschwundenen Überlieferung auch in den Vorstellungskreis der westeuropäischen Gedankenwelt wieder einzuführen. Durch ihn ist das alle Problem der Wiedervereinigung der Kirchen wieder aufgeworfen worden. Unter den führenden Vertretern einer modernen freiheitlichen Richtung in der russischen Kirche nennt man die beiden früheren Prokurore Samarin und Kartaschow, die beide unter der Regierung Kerenskis hervortraten, beide allerdings nach kurzer Wirksamkeit ihren Posten wieder verließen. Kartaschow, der viele Monate in der Peter-Pauls-Festung gefangensaß, übte durch seinen 1916 gehaltenen Vortrag über „Reform, Reformation und Erfüllung der Kirche“ einen tiefen Einfluss besonders auf weite gebildete Kreise. „Von Bedeutung für die Steigerung des allgemeinen Interesses an kirchlichen Fragen erwiesen sich auch die billigen Schriften der während des Krieges von Nowoselow begründeten religiös-philosophischen Bibliothek.

In der jetzigen russischen Kirche, mindestens in der höheren Geistlichkeit, leben noch immer die Programme Pobjedonoszews. Aber diese Programme sind bereits ebenso undurchführbar geworden, wie die mit der Mystik der kirchlichen Rechtgläubigkeit gesättigten Träume des politischen Panslawismus. Die Worte Pobjedonoszews über die Schönheit der mütterlichen russischen Kirche und über ihre tiefe Verankerung im Volke werden sich vielleicht später einmal als wahr erweisen, wenn jene prophetische Beflügelung der kirchlichen Frömmigkeit gekommen sein wird, von der Kartaschow träumt. Zunächst hat nichts so sehr dazu beigetragen, das morsche Gebäude der alten russischen Kirchenautorität zu unterhöhlen wie die Traktate Leo Tolstois. Der Kampf des großen Dichters gegen die Kirche scheint den Prozess der Umwandlung ungemein beschleunigt zu haben. Die Masse der Arbeiter und Bauern, die bis zum Ausbruch der Revolution noch am meisten unter der verdummenden Herrschaft des ungebildeten niederen Klerus stand, bleibt jetzt der Kirche entschieden fern, vielleicht in dem instinktiven Gefühl, dass sich der große Reinigungsprozess in ihr noch keineswegs vollendet hat. Die bürgerliche Klasse will die Renaissance. Gewisse Reformen der Kirche vollziehen sich gegenwärtig in einer gemäßigten Richtung, die an westliche Einrichtungen erinnert. Sie zielen auf Verdrängung der überlangen Messe durch die Predigt, auf die Einführung des Gemeindegesanges, auf eine tätigere Mitwirkung des Laienelements in der Gemeindeverwaltung, unter anderem auch durch eine wachsende Teilnahme der Frauen an den Aufgaben der sozialen Fürsorge, Tatsächlich lockert sich durch einen starken Druck von innen wie von außen die starre Macht der mönchischen Hierarchie, die bisher die Kirche beherrschte und stellenweise noch mit verzweifelter Anstrengung um ihre alte Herrschaft kämpft. Der demokratische Gedanke übernimmt unwiderstehlich das Erbe der Vergangenheit. In einem künftigen Russland, das die blutige Krisis der Gegenwart überwunden haben wird, wird die wiedergeborene Kirche als eine an Haupt und Gliedern verjüngte und vielgestaltigere Organisation des religiösen Lebens in Erscheinung treten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau