Blockade

Durch das Darniederliegen des Handels und den Mangel fast allen geregelten Verkehrs mit dem Auslande befindet sich die russische Räterepublik seit ihrem Bestehen in einem Zustand der Selbstblockade, den die Moskauer Gewalthaber bisher noch niemals geneigt waren aufzuheben, so dringlich auch gewisse Staaten ihren Wunsch nach einer Wiederanknüpfung der alten friedlichen Beziehungen mit Russland zu erkennen gaben. Diese bewusste Sabotage der Warenkäufer und Lieferanten des alten Russland, die den Prozess der Reduktion und der Kommunisierung des Welthandels fördern und den gemeinsamen Interessen des internationalen Proletariates nützen sollte, hat im Auslande viel böses Blut gemacht. Ob er am Ende wirklich dazu beitragen wird, die von Lenin und seinen Jüngern gewollte Zersetzung des kapitalistischen Wirtschaftsgefüges der ganzen Welt herbeizuführen, ist eine offene Frage. Zu dieser Selbstblockade kommt aber seit dem Sommer dieses Jahres die Sperrung der gesamten nördlichen und östlichen Grenzstrecken Räte- Russlands durch das kriegerische Verhältnis zu den Ententemächten, die im Norden die Murmanfront, im Osten die Wolgafront geschaffen, den Vormarsch der Rätetruppen nach Turkestan abermals zum Stillstand gebracht haben und jetzt im Begriffe sind, mit ihren durch Rumänien und das Schwarze Meer vorgeschobenen Streitkräften an die Stelle der mit den gegenrevolutionären Generalen Denikin und Krasnow verbündet gewesenen deutschen Heeresabteilungen zu treten. Ende Oktober hat Holland die Aufnahme des zum Vertreter der Sowjetregierung im Haag bestimmten lettischen Parteiführers Rosin verweigert; die Schweiz hat kurzerhand die gesamte diplomatische Mission der Moskauer Räteregierung in Bern ausgewiesen. Außer den niederländischen und schweizerischen Staatsangehörigen haben auch die Schweden begonnen, das Gebiet der Räteregierung zu verlassen; die diplomatischen Beziehungen zu den skandinavischen Staaten sind zwar nicht offiziell abgebrochen, sind aber gegenwärtig in Anbetracht der Verkehrsschwierigkeiten praktisch beinahe wertlos. Die Ausweisung Joffes und seines nach mehreren hundert Personen zählenden Gesandtschaftsstabes am 6. November vervollständigte inzwischen die Weltblockade des moskowitischen Staates. Was die Aufhebung der Berliner russischen Gesandtschaft zu bedeuten hat, die fast ein Jahr lang als wichtigster Vorposten der Räteregierung in Mitteleuropa durch ihren technisch vorzüglichen Nachrichtendienst die Moskauer Regierung auf dem laufenden gehalten und die außerhalb Russlands tätigen revolutionären Sekten stets reichlich mit Geldmitteln und Propagandaliteratur versorgt hatte, ist jedem klar, der sich erinnert, daß das Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten in Moskau über politische Vorgänge in Deutschland weit besser unterrichtet zu sein pflegte als selbst die in Moskau anwesenden, auf dienstliche Telegramme und unregelmäßig eintreffende Zeitungen angewiesenen amtlichen Vertreter. Die Aufhebung der Berliner Gesandtschaft war für die Sowjetregierung, die ja auch für ihre Verbindungen mit der Schweiz, mit Holland und Skandinavien auf den Weg über Deutschland angewiesen war, ein ganz empfindlicher Schlag. Sie befand sich plötzlich wie in einem Zimmer, in dem das Licht ausgeht.

Man kann unter diesen Umständen begreifen, daß die Sowjetregierung kein Mittel unversucht ließ, um die isolierende Mauer zu sprengen, die von allen Staaten der Erde wie auf Verabredung errichtet schien, um den Grubenbrand der Weltrevolution in seinem Herde zu ersticken. Die Zustände in Russland haben sich seit dem Anfang des Winters nicht gebessert. Im Gegenteil. Die Lebensmittelverhältnisse und die Wohnungsnot sind so schwierig geworden, daß große Teile des Bürgertums notgedrungen begonnen haben, in den Sowjetbehörden Dienst zu nehmen, nur um auf diese Weise in den noch einigermaßen geheizten Schreibstuben Beschäftigung, Geldverdienst, gemeinschaftliches Mittagessen zu erhalten und ihre Wohnungen vor der Requisition zu schützen. Die Versorgung Moskaus ist immer kläglicher geworden. Die Hauptstadt ist von einem Kranz aufständischer Gouvernements umgeben, deren Bauern sich weigern, Getreide, Steuern und Rekruten abzuliefern; nur durch wochenlange rücksichtslose Kämpfe zwingen die Truppen der Räteregierung die Bauern zur Unterwerfung. Ein neues Dekret befiehlt die Festnahme aller Personen, die sich seit weniger als zwei Monaten auf dem Lande aufhalten. Diese Maßnahme richtet sich gegen eine Menge von Bürgern, die vor dem „roten Terror“ seit September auf das Land geflohen sind und sich dort bei den Bauern verborgen hielten. Viele dieser Unglücklichen sind seitdem verhaftet und ohne Prozess erschossen worden. Jeder Versuch einer Beseitigung dieser blutigen Diktatur des Proletariats von innen heraus erscheint als gänzlich aussichtslos, trotz aller Symptome, die die tiefe Unzufriedenheit sogar der Arbeitermassen mit diesem Zustand zu erkennen geben. Noch niemals befand sich die Sowjetregierung so unumstritten im Besitz der gefestigten Macht im Lande wie gegenwärtig. Den Jahrestag der vorigjährigen Oktoberrevolution feierten die Hauptstädte durch eine Rote Woche voll von Denkmalsenthüllungen, Truppenschauen, festlichen Theatervorstellungen, Konzerten, Massenumzügen und einer futuristischen Ausschmückung der Straßen, die an den Karneval am Rhein erinnerte. Keiner der bisherigen großen Rätekongresse verlief so geordnet, so geschlossen und in so einheitlicher Stimmung wie der am 6. November im Moskauer Großen Theater eröffnete Sechste allrussische außerordentliche Rätekongress mit seinen nahezu 700 Teilnehmern, unter denen die Kommunisten mit 640 die erdrückende Mehrheit bildeten. Die Opposition der übrigen revolutionären Parteien, wie der Menschewiki und der linken Sozialrevolutionäre und Anarchisten, ist erstickt. Dan und Martow, die Führer der einst mächtigen Minimalistenpartei, die noch bis vor kurzem in Haft gehalten worden waren, sind aus dem Gefängnis entlassen. Sie erklärten sich auf Grund der neuen außenpolitischen Sachlage, die den Zusammenschluss aller revolutionären Volkskräfte erfordere, bereit, die Sowjetregierung zu stützen. Eine ähnliche Erklärung gaben die bisher intransigenten Anhänger der Sozialrevolutionären Linken, die noch am 24. Oktober in Moskau einen Parteitag abgehalten hatte, der an dem alten Standpunkt festhielt. Infolgedessen wurden auch die Spiridonowa nebst anderen Führern der linken S.-R., die seit dem Attentat auf den Grafen Mirbach verhaftet gewesen waren, in Freiheit gesetzt. Bei der Eröffnung des sechsten Rätekongresses verlas Swerdlow Begrüßungsschreiben Liebknechts und der Spartakusgruppe. Sowohl diese Briefe, wie auch die Ansprachen des schwedischen Jungsozialisten Carlesson und des Dänen Christiansen bei der Eröffnung des Kongresses wurden mit tobendem Beifall aufgenommen. Zwar waren diese Kundgebungen im Original weit vorsichtiger und gemäßigter als sie in der Übersetzung der temperamentvollen Dame Kollontai herauskamen, aber sie gaben nun einmal auch diesem Kongress die internationale Würze, die seinen Teilnehmern unentbehrlich schien. Denn das Gefühl, an der Spitze der Weltrevolution zu marschieren, ist vielen ein vortrefflicher Ersatz für den Chauvinismus früherer Tage.


Der im Innern gefestigten Lage der Sowjetregierung entspricht ihr Auftreten nach außen. Die Ereignisse in Bulgarien, Österreich, Ungarn und Deutschland bestätigten ja alle ihre längst gemachten Voraussagen. Anfang November ist in Moskau eine Abordnung indischer Mohammedaner aus Delhi eingetroffen. Trotz aller Schwierigkeiten ist es dieser Mission gelungen, ihre Reise auf dem Umweg über Japan in acht Monaten zurückzulegen und ausführliche Mitteilungen über den Stand der revolutionären Bewegung in Indien nach Moskau zu überbringen. Trotz der Besetzung Sibiriens durch die Entente sind auch die Verbindungen zwischen Moskau und Korea, Südchina und sogar Nordamerika ebensowenig abgebrochen wie die Verbindung zu den Jungbucharen und den Persern. Auf die Nachricht von der Verhaftung des Konsuls der Sowjetrepublik in Persien durch die Engländer wurde sofort der in Moskau befindliche persische Vertreter im Kreml gefangengesetzt. Man unterschätzt nicht im geringsten die Gefahren, welche die Sowjetrepublik durch das Vorgehen der Entente in Süd-Russland und im Norden bedrohen. Man setzt indessen seine Hoffnungen auf den wachsenden Widerstand, den die Arbeitermassen dieser Länder jeder gegen die Arbeiter- und Bauernrepublik gerichteten Unternehmung bereiten werden, ist aber dabei auch selbst nicht müßig. Unmittelbar nach der Rückkehr des nach langen Verhandlungen aus England freigelassenen Litwinow, der dort Monate lang gefangen gewesen war, entschloss man sich, diesen eben erst dem zähen Gegner abgetrotzten Mann nach Skandinavien zu entsenden. Er soll von dort aus den englischen Handelskreisen die Wiederaufnahme des Handelsverkehrs in Aussicht stellen. Durch das Auswerfen dieses Köders, der sich in vergangenen Monaten den deutschen Wirtschaftskreisen gegenüber so vortrefflich bewährt hat, rechnet man bestimmt darauf, eine Verlängerung der Atempause und neue Möglichkeiten zur Entfaltung einer bolschewistischen Agitation in England zu gewinnen. Diese Atempause erschien um so notwendiger, als die aus Österreich und Deutschland eintreffenden Nachrichten bald erkennen ließen, daß mit einer unmittelbaren Verwirklichung des Gedankens eines Bündnisses der russischen, deutschen und österreichischen Räterepublik gegen die kapitalistischen Mächte der Entente nicht zu rechnen sei. Der von Radek im Rätekongress am 8. November erstattete Bericht über die äußere Lage wurde eingeleitet durch die Mitteilung von der Ausweisung Joffes aus Berlin. Diesem Bericht ging eine sehr bemerkenswerte Rede Lenins voraus. Lenin konnte darauf hinweisen, daß die Bolschewiki mit ihrer Voraussage, der Krieg werde nicht ohne Revolutionen enden, Recht behalten haben. „Wir haben ferner Recht gehabt,“ fuhr Lenin unter donnerndem Beifall fort, „den soeben von uns feierlich aufgelösten Brester Frieden seinerzeit so abzuschließen wie er war; die Bedingungen, die jetzt der triumphierende angloamerikanische und anglofranzösische Imperialismus den Völkern Deutschlands und Österreichs auferlegt hat, sind noch weit schlimmer als die deutschen Bedingungen von Brest-Litowsk, aber sie werden in ähnlicher Weise zuschanden werden. In Frankreich, Italien, England, Amerika ist die Revolution auf dem Marsche; der Bazillus des Bolschewismus dringt durch jede Mauer. Noch nie war die Weltrevolution, der Sieg des Bolschewismus näher als jetzt, aber auch noch nie war unsere Lage so gefährdet wie in diesem Augenblick.“

Wer die Ereignisse und Stimmungen in Moskau von jenem Tage an bis Ende November miterlebt hat, der findet in diesen Worten Lenins die psychologische Erklärung für ein Verhalten der Räteregierung, das unter anderen Umständen unverständlich geblieben wäre. Nach den ersten Radiomeldungen über den Umsturz in den deutschen Hafenstädten flatterten plötzlich wie aus einem Füllhorn die unsinnigsten und übertriebensten Nachrichten über die Art und den Umfang der Ereignisse in Deutschland und Österreich auf die Köpfe nieder: Erschießung des Deutschen Kronprinzen! Ermordung von Hunderten von Marineoffizieren in Kiel und Reval! Deutsche Offiziere in die Düna geworfen! Verbrüderung deutscher, französischer und englischer Truppen an der Westfront! Die dritte und sechste italienische Armee legen ihre Waffen nieder! Volle Diktatur des Proletariats! — Nachrichten aus Deutschland erschienen in der „Iswestija“ einige Tage lang unter der Rubrik: „Deutsche sozialistische föderative Sowjetrepublik“. Möglich, daß einzelne deutsche Soldaten und Matrosen, die in jenen Tagen in voller Ausrüstung als Abgesandte ihrer Kameraden aus der Ukraine und aus Sewastopol nach Moskau angereist kamen, dort den Eindruck der Ratlosigkeit und des Zusammenbruchs der deutschen Truppen so verstärkten, daß die Sowjetregierung sofort in ihren Noten an den General Hoffmann in Kowno, an den General Falkenhayn in Minsk und an die deutschen Truppen in Reval einen drohenden Ton anschlug. Gleichzeitig stellte sie von Kronstadt aus in Funksprüchen den deutschen Truppen in den Ostseeprovinzen ihre revolutionäre Sachkenntnis zur Verfügung und entsandte Dutzende von Agitatoren nach Minsk, Riga, Wilna, Kowno und Warschau. Diese Agitatoren hatten den Auftrag, örtliche Aufstände hervorzurufen, den Soldatenräten, deren Haltung den Moskauer Sachverständigen noch nicht revolutionär genug erschien, das richtige Feuer einzublasen, den Ankauf von Waffen im großen zu besorgen, deutsche Soldaten zum Übertritt in die russische Rote Armee zu bewegen und nötigenfalls eine Bartholomäusnacht unter den deutschen Offizieren anzustiften. Beinahe gleichzeitig vollzogen sich in den bisherigen österreichischen und deutschen Generalkonsulaten in Petersburg und Moskau sowie bei der Moskauer Vertretung des polnischen Regentschaftsrates internationalistische Putsche. Die bisherigen amtlichen Vertretungen wurden mit Waffengewalt außer Funktion gesetzt. Die Technik dieser Putsche verriet die kundige Anleitung und Mithilfe der Organe der Sowjetregierung, besonders der Außerordentlichen Kommission. Berlin galt in diesen Tagen, als die Nachrichten vom Umsturz eintrafen, bereits als die künftige Hauptstadt des europäischen Kommunismus, der Sitz des Weltzentralsowjets; einige Mitglieder der Räteregierung machten sich in der ersten freudigen Aufregung fertig, schleunigst dorthin abzureisen. In dieser Aufwallung bewilligte der Moskauer Vollzugsausschuss die Absendung von 50.000 Pud Getreide an die deutschen Arbeiter aus den Reserven der Moskauer Lebensmittelversorgung. Man hoffte dafür auf eine Gegenleistung in Munition, Apothekerwaren und Kohlen; am liebsten hätte man es gesehen, wenn sofort eine Anzahl deutscher Ingenieure nach Russland entsandt worden wäre, um die arg verfahrenen Eisenbahnen notdürftig in Ordnung zu bringen. In der Hauptsache aber war dieser Getreidezug als eine Art trojanisches Pferd gedacht. Als dann die Weigerung des Kownoer Soldatenrates und der deutschen Regierung bekannt wurde, diese gutgemeinte Gabe in Empfang zu nehmen, tröstete man sich damit, daß es auch Unterseeboote und Flugzeuge gebe, um den deutschen Hafenstädten und Berlin einen raschen Besuch abzustatten. Die kategorische Forderung der Berliner Regierung nach der sofortigen ungehinderten Rückkehr der deutschen Konsulate und aller in Russland befindlichen Deutschen machte schließlich den Versuchen der Moskauer Rätediplomatie ein Ende, den Abbruch der Beziehungen hinauszuschieben und noch im letzten Augenblick die Rückkehr Joffes nach Berlin durchzusetzen. Am 19. November vollzog sich endlich die Abreise der Deutschen, annähernd 900 Personen, einschließlich einer Menge bis dahin noch in Russland zurückgebliebener Kriegs- und Zivilgefangenen. Diese Reise, ihre Vorgeschichte und ihr Verlauf, ist ein Epos für sich. Am 25. November erreichten die drei Sonderzüge deutschen Boden. Mancher ihrer Insassen hatte die Hoffnung schon aufgegeben, jemals wieder in die Heimat zurückzukehren.

Mit der Abreise der Deutschen und ihrem an der Grenze vollzogenen Austausch gegen die aus Deutschland, Holland und der Schweiz zurückkehrenden Sowjetvertretungen vollendete sich die Blockade der Räterepublik. Für die Nachrichten aus der übrigen Welt ist Moskau gegenwärtig ausschließlich auf den radiographischen Verkehr und auf den immerhin umständlichen und beschwerlichen Schmuggel von Zeitungen angewiesen. Der Generalstreik in der Schweiz und in Holland scheint im selben Augenblick erloschen zu sein, als sich herausstellte, daß die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes entschlossen war, den Bolschewismus abzulehnen. Doch damit ist die Frage der Einwirkungen von Russland her noch keineswegs erledigt. Der Zustand der deutschen Ostgrenzen lässt genug Möglichkeiten offen, daß eines Tages unter den Massen der deutschen Großstädte die geschulten Agitatoren des russischen Kommunismus auftauchen; es brauchen nicht nur radebrechende Russen und Halbrussen zu sein, auch unter den zurückgekehrten deutschen Kriegsgefangenen sind nicht wenige, die von den Einflüssen der kommunistischen Agitation erfasst worden sind, in der Roten Armee Dienst getan und die russische Staatsangehörigkeit angenommen haben. Die Unklarheit der augenblicklichen Verhältnisse in Deutschland und der von Moskau unternommene Versuch, mit England Verhandlungen anzuknüpfen, bedeutet für die Sowjetregierung vielleicht einen abermaligen Aufschub der Krisis, die mit zwingender Notwendigkeit in Petersburg und Moskau eintritt, sobald die Truppen der Entente sich von Norden und Süden gegen diese Zentren in Bewegung setzen. Diese Atempause wird bereits gegenwärtig benutzt, um nach dem Abzug der deutschen Truppen in Finnland, den Ostseeprovinzen, in Litauen, Polen und der Ukraine neue Unruhen hervorgerufen. Schon hat sich die kleine, zum Vormarsch auf Petersburg bestimmte russische freiwillige Nordarmee unter dem Einfluss der an die dortige Front entsandten bolschewistischen Agitatoren aufgelöst, Truppenmengen der Roten Armee haben Pleskau und Narwa eingenommen und sind jetzt im Vormarsch auf Reval und Dorpat. Die nächste Zukunft aller ehemals russischen Grenzländer steht jetzt offenbar im Zeichen einer Reihe von kleinen Kriegen dieser Nationalitäten untereinander. Nur der Mangel an Waffen, der Zustand der Verkehrsmittel und die ungünstige Jahreszeit machen einstweilen das Zustandekommen größerer Aktionen unwahrscheinlich. Über dem gesamten Komplex der tief aufgewühlten Völker des mittleren und östlichen Europa schwebt außerdem noch immer die Frage des gemeinsamen Klassenkampfes, die Frage des künftigen Bündnisses der gesamten proletarischen Massen des einstigen Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland gegen den Weltkapitalismus. Dieser Kampf richtet sich dann gegen alles, was des Kapitalismus und des Imperialismus verdächtig ist: zuerst gegen die Besitzenden im eigenen Lande, dann aber gegen die kapitalistischen und imperialistischen Regierungen der Entente. Die Frage einer solchen Weiterführung oder Wiederaufnahme des Weltkrieges wird nicht mehr in der Wilhelmstraße entschieden. Sie beruht letzten Endes ausschließlich auf dem Maße der wirtschaftlichen und sozialen Zerrüttung, das die Friedensbedingungen der Entente in den Mittelmächten herbeiführen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau