Annäherung

Der Bahnhof von Eydtkuhnen mit seinem schwärzlichgelben Gebäude, noch einmal Zusammenfassung preußischster Nüchternheit, entlässt den Reisenden kasernenmäßig. Wirballen ist überstanden; an der Stelle des russischen Gendarmen stand ein Männlein vom Bodensee; wie geht sie einem hier zu Herzen, die dunkelblaue Dienstmütze mit der schwarzroten württembergischen Kokarde. Das Land beginnt sich aufzutun; unter der Memelbrücke liegt die dörfliche Stadt Kowno: Auf dem von grünen Festungskegeln beherrschten Bahnhof ist feiertägliche Leere. Unter grauen Wolken, die in der Ferne schwärzlich werden und sich regnend ausschütten wie angeschnittene Säcke, wogen litauische Hügel. Ockerbraune hölzerne Stationsgebäude stehen unter hohen zottigen Tannen. Lokalzüge mit Landvolk, offene Güterwagen mit grauen Soldaten halten an, und hellgrüne Birkenzweige an den Geschützen wehen Abschied von den tiefen Wäldern. In Wilna geht ein Alltag zu Ende, voll Gewöhnung an das Leiden, vom Schicksal abseits gestellt zu sein, bis eines Tages das Weitere geschehen wird. Die bronzene Kaiserin Katharina, nach rascher Eroberung einst Herrin dieser Stadt, hat sich nach unbekanntem Ort begeben. Die rötlichen Marmorquadern ihres Denkmalskiaffen, kunstgerecht zerlegt, vor den Laubkulissen der öffentlichen Anlage. Volk ist über, die warmen Straßen ausgeschüttet, bäuerlich langsam geht es einher, oder steht bettlerhaft vor Kircheneingänge hingepflanzt oder kleinhandelsmäßig in Läden beschäftigt. Landsturmleute mit gelben Blasinstrumenten gehen durch Geschäftsstraßen in der Richtung auf das Kasino. Aus oberen Stockwerken bellen Grammophone. Ein ländlich gebogener Fluss in hängenden Ufern umschimmert Flöße, gibt Anglern ihr dunkles Spiegelbild. Die weiße Kathedrale, griechisch und barock, bewacht den weiten Platz vor dunkel dämmernden Bäumen des Stadtgartens, Die Kirchen zeigen viel Eigentümlichkeit des Ortes. Die eine ist von kniendem Volk gefüllt, die Schellen vor dem Altar erklingen, der Weihrauch webt gewaltig duftend über die Köpfe hin, die Herzen werden kindlich in einem schmachtenden, in süße Terzen gefesselten Gesang. Vor den Stufen der anderen Kirche halten Droschken. Roter Laufteppich, offene Tür, elektrische Lichter, verhüllte Fahnen. Die in sich beschäftigte Gruppe einer Trauung: der Priester und das junge Paar, alle ein wenig bohemehaft, von kleinstädtischen Mädchen atemlos umstarrt. Im unsichtbaren Chor von der Orgel herab führt eine Frauenstimme, klar und durchdringend, die frohe altitalienische Melodie immer und immer einen fatalen halben Ton zu hoch.

Aus dem alten Eisenbahnwagen, zwischen eingeschlafenen Offizieren, sehe ich im schwachen Licht der Mitternacht die Stellungen der alten fürchterlichen Front bei Smorgon, wo vor einem Jahr der letzte Ansturm der russischen Massen ankam und zusammenbrach. Zwei Uhr nachts, es ist kühl, auf dem punktweise von starken Laternen beleuchteten Bahnhof von Molodetschno verteilen sich die Ankömmlinge auf Anschlusszüge. Ein langer russischer Zug, ohne Lichter, steht finster da. Wagen werden zusammengeschoben. Man sinkt auf breite, rohe Matratzen, Säbel, Jagdgewehre baumeln an den Wänden. Man spürt im Halbschlaf, daß der Zug nun in Bewegung ist; es ist das gemächliche, unendlich sanft wiegende, fremde Tempo der russischen Züge. Durch die nackten Fenster scheint die Morgensonne in schlafbeschwerte Mienen, wir sind in Minsk, und eine Lokomotive zieht einen alten grünen Wagen, der sich mit Soldaten und Marktweibern gefüllt hat, zum andern Bahnhof hinüber. Neben den Geleisen gehen Arbeiter in österreichischen Feldmützen.


Der Fahrplan herrscht zuverlässig. Es ist nicht nötig, sich hier besonders umzusehen. Das lange, niedere Bahnhofsgebäude aus verwitterten weißen Steinen hat nichts für diese Reise zu bedeuten. Ein Zug von zehn, zwölf grünen russischen Dritter-Klasse-Wagen steht schon da. Er geht nach Orscha, zur Demarkationslinie. Die Wagen sind voll von Soldaten. Dem Feldjäger aus Berlin und ein paar Reisenden, die über Warschau gekommen sind, mit allem ihrem Gepäck, ist einer dieser Wagen frei geblieben, und hier hausen wir nun alle die nächsten acht Stunden. Die Lokomotiven, die Wagen, das Personal des Zuges sind russisch. Die Schaffner tragen ihre Pumphosen, ihre langen Uniformröcke. Ihre Mützen sind ohne Kokarde und ein wenig verschossen; die Nähte ihrer Mäntel sind geplatzt, die Schäfte ihrer stolzen hohen Stiefel sind harmonikamäßig verkürzt und enden in zertretenen Absätzen. Schließlich sind auch die breiten, abgenützten, hölzernen Bänke dieser Wagen, der Schmutz auf dem Boden, die zerbrochenen Fensterscheiben, die Gepäckbretter, denen unbekannte Interessenten kunstvoll die eisernen Stützen entzogen haben, Mahnungen einer strapaziösen Kriegszeit. Wir haben aufgehört, mit der Wimper zu zucken, wir schauspielern Humor. Wir sind in Weiß-Russland. Es wird versichert, daß es hier bereits Bolschewiki gibt. Die deutsche Besetzung ist nicht sehr zahlreich. Sie hält, bewehrt mit dem Stahlhelm, auf den Stationen Ordnung, ändert aber offenbar nicht viel am alltäglichen Lauf der Dinge. Ein deutscher Zugführer mit der bekannten roten Ledertasche an der Seite macht heute zum erstenmal und beinahe als Passagier die Reise mit. Ein Drogist aus Thüringen, seiner Erscheinung nach Unteroffizier, geht öfter durch den Zug, um die Papiere der Reisenden zu betrachten, eine weniger kriegerische als pädagogische Beschäftigung, denn die Bevölkerung des Landes hat noch aus früheren Jahrzehnten, die erst vor einem halben Jahr geendet haben, eine sportsmäßige Gewohnheit, fahrende Züge unterwegs zu besteigen und sich nach Entnahme etlicher Fahrtkilometer auf ebenso anspruchslosem Wege wieder in die Büsche zu entfernen. Die Stationen hier sind fast unverändert geblieben: Holzgebäude mit geschnitzten Fenstersimsen, mit großen, jetzt leeren Laternen und obligater, jetzt verschwundener Glocke. Hinter offenen Fenstern die messingglänzenden Telegraphenapparate, vor der Station der Wasserturm, die hohen Birken in einem Gärtchen von Gras und Farnen, und auf dem Bahnsteig die Stationsbeamten und Streckeningenieure in alten Uniformmützen und weißen Sommerjacken. Am Zaun die barfüßigen Landweiber mit ihren Körben. Es gibt Brote, gekochte Eier, Milch in Flaschen. Zuweilen selbst Butter, gekochte Kalbsknochen, frische grüne Gurken, spärlich und teuer. Droschken halten, ländlich bestaubt, hinter den größeren Stationen. Ein russischer Soldat mit dem Säbel an der Seite steht als Polizeiwacht mitten auf dem Pflaster. Im Wartesaal findet man den Samowar, bekommt zu essen, die Aufenthalte dauern lang genug, um auch für Verhandlungen mit dem Buchhändler über seine Restbestände an russischen Bahnhofsbüchern und Ansichtskarten Zeit zu lassen. Als aktuelle Zugabe findet man neben den altgewordenen russischen Drucksachen die deutschen Armeezeitungen und die polnischen Tagesblätter des Landes Oberost. Alles ist höchst einfach und in Ordnung.

Wir sehen aus dem Fenster. Es scheinen nicht viele Felder bestellt zu sein, die Saat steht ein wenig schäbig. Jenseits der Beresina blinkt das Land sumpfig. Störche fliegen auf. Bei uns im Wagen sitzt jetzt einer jener mittleren Bahnbeamten, die zuweilen eine Strecke mitreisen. Er ist ein jüngerer, bärtiger Mann, Typus Nikolai II. mit melancholischen Zügen und schönen Zähnen. Der lange Uniformmantel über seinen Achseln und der dicke Bambusstab mit der Kapsel aus Elfenbein in seiner Hand verleihen ihm altväterische Gravität. Der Mann gehört offenbar zu denen, die lieber auf dieser Seite der Demarkationslinie ihre alte Arbeit tun, ihr Gehalt beziehen und um das zerstückte Russland trauern, als bei Lenin das neue Russland mit der Seele suchen. Der Text des Tages ist für diesen Beamten, der aus den Gesprächen mit seinen Kollegen hereinkommt, die Erschießung des Admirals Tschasny in Moskau, das Ger?cht von der Ermordung des Zaren in Jekaterinburg. Er erzählt dieses Gerücht, als ob es sich um eine fertige Tatsache handele, und kommt auf die Hungersnot zu sprechen, die „drüben“ herrsche. Der Ausschuss der Eisenbahnangestellten in Moskau habe dieser Tage der Räteregierung mitgeteilt, daß drei Pfund Mehl monatlich für seine Mitglieder nicht ausreichen. Der Ausschuss habe das persönliche Erscheinen Lenins in seiner Sitzung gefordert. Als Antwort habe die Räteregierung eine Anzahl Soldaten ausgeschickt, die kurzerhand achtzig Mann vom Eisenbahnerverband erschossen. Drüben beginne mit dem heutigen Tage der allgemeine Ausstand der Eisenbahner.

Den Zuhörern dieser Erzählung erschien eine gewisse Neugier nicht unberechtigt, wie sich die Reise weiter abwickeln werde. Es war mittags zwei Uhr geworden, der Zug vermied eine durch Drahtverhau und spanische Reiter gesperrte Brücke und lief, von der Hauptstrecke seitwärts gelenkt, auf dem Güterbahnhof von Orscha ein. Ein Waldstreifen auf der einen Seite, ein Lager von Bretterbuden auf der andern, in der Mitte die eherne Fläche der Geleise, stehende Güterzüge, deren ziegelrote Wagen von allen Bahnen Russlands und Sibiriens stammen — sonst nichts. Kein Stationsgebäude, kein Gepäckträger. Aus dem angekommenen Zuge strömten die Soldaten, grau und staubig, zum Durchlass der Drahtumzäunung. Soldaten drängen an Rückwandererfamilien vorüber, die mit Betten, Körben, Flaschen, Sonnenschirmen und Kinderwagen eingelassen werden und im Handumdrehen einen dieser Güterzüge bevölkern. Unser Gepäck bleibt unter freiem Himmel liegen, Bewachung wird zurückgelassen, wir andern wenden uns mit heißem Bestreben der grünen Bodenwelle zu, die von Hütten und Buden wie von einem amerikanischen Dorfe überzogen scheint.

In der Stunde, als der Brester Friede unterzeichnet wurde, befand sich der Güterbahnhof Orscha mit den Zügen, die dort standen und ungeheuer vielem russischem Kriegsmaterial, das teilweise jetzt noch dasteht, in den Händen der Deutschen. Eine deutsche Abteilung war eben zum Sturm auf die Stadt bereitgestellt, die eine Viertelstunde entfernt liegt, die Artillerie hatte ihre Weisungen; da kam das Telegramm, daß der Friede unterzeichnet, der Vormarsch abzubrechen sei, und Orscha mit seinem Personenbahnhof blieb russisch. Orscha, eine kleine Kreisstadt an den Ufern des Dnjepr, ist ein Knotenpunkt an der Moskauer Bahnstrecke. Von hier zweigen Linien ab nach Witebsk und nach Schlobin, Mohilew und Kiew. Zwischen beiden Bahnhöfen verläuft die Demarkationslinie. Die Verbindungen nach dem Gouvernement Mohilew und nach der Ukraine sind jetzt deutsch. Wer die Erlaubnis hat, kann also über Orscha zwischen Süd-Russland, Weiß-Russland, Polen und Litauen hin und her reisen. Rückwanderer, Flüchtlinge, politische Delegationen nehmen über Orscha ihren Weg, aber auch aus Groß-Russland kommen hier die Scharen von Rückwanderern über die Grenze, die jahrelang auf die Möglichkeit der Heimkehr warteten. Quer durch die Wälder und über die Äcker ziehen sich die Sperrdrähte, und an den neu aufgerichteten Schlagbäumen stehen die deutschen Posten und die russischen einander gegenüber.

An dem Drahtgeflecht stehen drüben die Fuhrwerke, das Hausgerät und die Wohnhütten der Rückwanderer, jede einzelne nichts als ein dürftiges Filigran aus Tannenreisern. Dazwischen haben die Bauern der Umgegend Handelsbuden aufgeschlagen. Auf der deutschen Seite aber bewohnt das Volk, so wie es durch das große Sieb dieser Grenze hereingelassen wurde, ein Dorf von Baracken und vor allem jenes merkwürdige Dreieckslager am Rangiergeleise, — eine in die Erde gegrabene Stadt von großen langen Kellerräumen, die durch eine Art Treibhausdächer geschützt sind. Ein aus Lehm gestampfter Wall umschließt diese Siedelungen. Hier im Boden hausen fünf- oder fünfzehntausend Menschen kasernenmäßig wie im Zwischendeck von Ozeandampfern. In den Winkeln vor den niederen Eingängen spielen Kinder auf dem Schoß der Frauen, Männer hocken um den Reisekoffer und dreschen Skat. Den Eingang dieser Stadt mit ihrem Kasernenhof in der Mitte und ihren Latrinen an der Seite, bilden die hölzernen Gebäude der Verwaltung, der Kantine, der ärztlichen Stationen, des Hospitals. Hoch an den Wänden, weit sichtbar, stehen in russischer Sprache Mahnungen zur Reinlichkeit, die nüchternen Bibelsprüche einer rationalistisch verarmten Welt. Hier verbringen die Scharen der neuen Völkerwanderung die Quarantäne. Viele von diesen Vertriebenen und Entwurzelten sind deutschen Stammes. Ihnen schuf ein Federzug Hindenburgs die Aussicht auf eine neue Heimat in Kurland. Andere kehren auf die weiten Ebenen Polens, zu den sanften Hügeln Litauens zurück. Noch sind alle die Einzelschicksale wie in einen einzigen großen Gräserstrauß gebunden. Die schönen Sommertage machen selbst hier das Leben zur Idylle. Draußen auf der Wiese lagern die Gruppen beieinander um die Feuerstelle, hemdsärmelig, ferienmäßig. Wie auf einem Ausflug lagern die Kleinbürger im Grase unter freiem Himmel, Menschen jeden Alters, Männer, Kinder, Greisinnen ruhen des Nachts unter den tiefen Dächern der sonderbaren Stadt im Schutz der deutschen Menschlichkeit, während von der nahen Grenze zuweilen noch russische Flinten knallen, Warnungen für die Leute, die irgendwo heimlich in der Dunkelheit den Übergang versuchen.

Die Anfänge einer militärischen Gastlichkeit in Orscha gestatten es dem Fremden, am Abend seinen Hunger bei einer Kompanieküche zu stillen und in einer geräumten Bauernstube auf einem mit frischen Hobelspänen gefüllten Sack zur Ruhe zu gehen. Irgendwo im Walde ist für Soldaten und für Rückwanderermädchen Tanzmusik; man findet im Dickicht des Waldes Pferdegerippe und begegnet einem Jungen, der seine Kühe heimwärts treibt. Der Hausbesitzer, der seine Einquartierung mürrisch betrachtet, ist ein Bauer, an dem nichts weiter auffällt als der Füllfederhalter in seiner Brusttasche und die neuen Galoschen an seinen Füßen. Im Schuppen steht eine fahrbare Feldküche, die jetzt zum Kochherd der Familie geworden ist. Die Bäuerin verkauft eine Flasche Milch aus dem Stall, und von irgendwo in dem vielräumigen Bauern- und Beamtenhause trällert eine geschulte helle Mädchenstimme ein Lied als Zugabe. Die Sonne geht auf über einem Sommermorgen von tauiger Kälte. Ein paar Reisende fahren in einem offenen Güterwagen hinter der Lokomotive in das russische Orscha hinüber. Der Bahnhof liefet mitten in der Stadt.

Bis hierher also ist das eigentliche Russland zurückgewichen und hat diesen rohen Provinzbahnhof der amputierten großen Warschau — Moskau-Strecke in einen Kopfbahnhof verwandelt. Und schon strömt den fremden Nasen aus allen Winkeln Russlands eigenster Duft entgegen, der alle Bahnhofswände dieses Landes von der westlichen Grenze bis an die Ränder Turkestans und bis nach Wladiwostok durchzieht, dieser Geruch von Juchten, von alten Säcken und Machorka. Vielleicht ist er noch ein wenig gröber geworden als früher. So duftet hier die Menge von Bauernvolk, von Arbeitern, Bettlern und Soldaten. Dienstfertig bemühen sich einige Gestalten, durch keinerlei Blechmarke oder Schürze dazu Ermächtigte, um unser Gepäck und tragen es nach dem Moskauer Zuge, dessen Lokomotive schon Rauch ausstößt. Streiken nicht heute die Eisenbahner? Keine Rede. Der Zug wird gleich abfahren. Lenin hat die Uhren in ganz Russland um zwei Stunden vorgestellt. Drüben in Deutsch-Orscha ist es sechs Uhr, aber hier schon acht. Es heißt, die Züge gehen pünktlich ab. Eine große Menge Volkes ist auf dem Bahnhof. Ich verstehe nicht recht den Sinn. Sie besteht offenbar nicht nur aus Reisenden, offenbar sind viele von ihnen Rückwanderer, auch Kriegsgefangene sind hineingemischt. Man erblickt Reste deutscher und österreichischer Uniformen; hier ist ein Mann mit blondem Vollbart, er trägt einen blauen deutschen Infanterierock, eine österreichische Mütze, russische Schaftschuhe und eine gemusterte Hose. Ein Mann in einer alten, aber sauber gehaltenen hechtgrauen Montur hat einen grünweißroten Lappen an seine Mütze genäht. Entweder ein Ungar oder ein Italiener. Auch ein alter barhäuptiger russischer Bauer mit Wanderstab und blechernem Teekessel trägt einen feldgrauen Soldatenrock, dessen Ärmel freilich fehlen, dessen Schöße noch Litzen und Metallknöpfe tragen. Viele russische Soldaten sind vorhanden, einige davon Kriegsgefangene aus Deutschland, in schwarzen Anzügen mit den braunen Streifen am Ärmel. Andere sehen noch aus wie wirkliche Soldaten, tragen aber weder Abzeichen noch Waffen. Unter diesen Demobilisierten ist ein Husar in roter Hose und gelbverschnürter schwarzer Reit Jacke mit einer Sportmütze auf dem Kopf. Und dann sind da die Soldaten der Roten Armee, manche in sauberen, manche in schmutzigen oder kaum geflickten Sommermonturen, mit Wickelgamaschen und neuen schokoladebraunen Schirmmützen, die die früheren militärischen ersetzen, und Männer, wie Motorfahrer, von Kopf bis zu Fuß in schwarzes Leder gekleidet, lederne Mütze, lederne Jacke, lederne Hosen und Gamaschen. Es sind die leibhaftigen Menschen des Thomas Morus. „Ihre aus Leder gemachten Kleider halten sieben Jahre, auch die anderen Kleider bedürfen wegen ihrer Einfachheit keiner oftmaligen Erneuerung und wegen ihrer Gleichheit keiner großen Vorräte.“ Der militärische Schnitt dieser Kleider stammt noch aus dem Kriege. Es ist die Uniform der Soldaten Trotzkis, und diese tragen auf der Brust oder auch an der Mütze einen fünfzackigen Stern aus roter Emaille, der in roher Arbeit einen Pflug und ein Beil als Emblem aufweist. Die Beamten der Räteregierung tragen an ihren Mützen, wie einst die Ingenieure der alten Regierung, einen Spaten und Anker als Abzeichen oder eine kleine goldene Kornähre in einem silbernen Kranz. Das sind die Wappenzeichen der alten Republik Utopien und der neuen Republik Russland. Nichts mehr von Kokarden, von Epauletten, bunten Schnüren und metallischen Litzen. Das alte Uniformwesen Russlands ist nicht verschwunden, es ist nur abgetakelt und nun erst wirklich gleichförmig geworden; es kennt nur das Khaki der Kriegsjahre als seine Grundfarbe und wirkt auf diese Weise wirklich als äußerste, schmucklose Einfachheit. Die Wachtsoldaten, die unseren Zug begleiten, sind nicht besser gekleidet als die ehemaligen Offiziere, die in der Menge von Soldaten an ihren Gesichtern zu erkennen sind: einer von ihnen trägt dennoch seine schönen Schaftstiefel aus glänzendem Leder und eine Aktenmappe; er trägt zwei schlecht aufgenähte Goldstreifen auf dem Ärmel, und die Zigaretten in seiner mit dem Georgsorden verzierten Brusttasche stehen den Händen der weniger eleganten Genossen, die eine Gruppe um ihn bilden, zur Verfügung. Ein paar junge Männer fallen auf, die nach Herrenrasse aussehen und nachlässig in dieser Menge auf und ab gehen. Sie tragen kurze elegante Mäntel, die offenbar französischer oder englischer Herkunft sind, und darüber schwere Gendarmensäbel aus dem alten Regime. Sie tragen rote Binden um den Arm, und ihr schwarzes, ein wenig wolliges Haar ist nach amerikanischer Mode im Nacken über rasierten Hälsen rund geschnitten. Wie bleich, scheu und altmodisch wirken daneben die kleinen Studenten in ihrer schlechten Haltung, in ihren abgetragenen, zu dicken, schwarzen Uniformen mit dem dicken metallenen kaiserlichen Namenszug auf ihren Achseln, Jünglinge mit Flaumbärten und ungesunden Gesichtern und buntgesticktem Hemd. Und auf dem Bahnsteig, mitten in dieser Menge, trippeln, wie es immer war, die jungen Damen in hellen Sommerkleidern, mit weißen Strümpfen und weißen Schuhen, als ob es keinen Schmutz in der Welt gäbe — die runden Gesichter puppenhaft gepudert, mit eng um die Köpfe gezogenen, langen, im Winde zitternden weißen oder feurig gelben Schleiertüchern.

Plötzlich, ohne die Höflichkeit der drei Glockenschläge, verlässt der Zug diese belebte Station. Überall auf den Trittbrettern des Zuges sitzen Soldaten, spucken Sonnenblumenkerne und empfangen von andern Soldaten, die in den Geleisen umherstehen, lärmende Begrüßungen. Unser Wagen, außen verschmutzt und innen ungereinigt wie die übrigen, gehört sicherlich zu den weniger defekten. Aus dem eichefarbenen Innern des Seitenganges oder aus den grauen Wachstuchwänden des Abteils schaut man auf blumenreiche, ungemähte Wiesen mit zierlichem Gebüsch, silberglänzende Bäume, krause, ferne Wälder unter dem weißen Morgenhimmel, eine Landstraße in fleckenhaftem Sonnenschein, auf der rüstig Soldaten wandern, gruppenweise, ohne Waffen, mit Säcken auf den Schultern. Es hegt etwas Eichendorffisches in dem flüchtigen Bilde einer Flusslandschaft mit den gelben Wiesen und dieser Staffage, eine entspannende Heiterkeit, ein Zug der Freiheit eines Landes, das mit dem Kriege fertig geworden ist und wieder Frieden atmet. Die Acker scheinen ein wenig verwildert, auch auf Bahngleisen wächst Gras. Es ist eigentümlich, diesen Sieg der Natur über Menschenarbeit zu sehen. Noch schuf sie hier mehr Park als Wildnis. Wir dachten einmal, daß Europa erst in fünfhundert Jahren, wenn die Menschen sich mit Pillen nähren und in Federkleidern unter dem Himmel fliegen, diesen ein wenig sich selbst überlassenen Eindruck machen werde.

Unser Zug fährt geschwind, wie es sich gehört, aber er macht auf den Stationen lange Aufenthalte. Im ganzen braucht er nach Moskau achtundzwanzig Stunden. Einer jener Schnellzüge, von denen man vor dem Krieg mit Befriedigung feststellte, daß sie hundert Kilometer die Stunde fahren, würde die Strecke in fünf Stunden zurücklegen. Wir überholen auf den Weichen hellgrau angestrichene Sanitätszüge mit Kranken, die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehren. Auch in unserem Zuge sind Kriegsgefangene, die sich zum erstenmal wieder in ihrer Heimat bewegen, die dem Publikum der überfüllten Eisenbahnwagen oder den Menschenreihen vor den Billettschaltern Erzählungen zum besten geben und zu betteln beginnen. Denn das heilige Brot ist in Russland teuer geworden. Hier auf den Stationen kostet es vier Rubel das Pfund, eine rohe Gurke kostet einen Rubel, ein Ei fünfzig Kopeken. Die Bäuerinnen sitzen wachsam in ihren wie Käfige geschlossenen Buden, wiegen genau, was sie zu verkaufen haben, und lassen nicht mehr mit sich handeln. Einer der Kriegsgefangenen arbeitete in Ostpreußen bei den Bauern, zuletzt an einem Bahnbau bei Berlin. Er hat es gut gehabt, er fährt jetzt nach Petersburg zu seiner Mutter. Früher hatte er das Gymnasium besucht, aber er ist ein einfacher Arbeiter geworden und will nach Deutschland zurückkehren, wenn in Russland nicht zu leben ist. Ein anderer junger Mensch kommt hohlwangig und barfuss aus einem österreichischen Lager. Unter dem flirrenden Laubdach der Gebüsche, auf dem in den Boden getretenen Gras eines ehemaligen Stationsgärtchens steht und liegt Volk gleichgültig umher, Greise, Buben, starke Soldaten, rücklings und bäuchlings hingestreckt — sie liegen einfach da, die Köpfe auf verschränkten Armen und die Augen geschlossen; niemand weiß, auf was sie warten. Auch rastet im Garten eine kleine Schar von Männern, vielleicht ein Gewerke von wandernden Zimmerleuten, mit Sägen und Beilen. Die meisten tragen noch ihre Soldatenkleidung. Und auf dem Bahnsteige beratschlagen breite rotbackige Bauernweiber in geblümten Kopftüchern, in gelbweißen, geräumig und auf Taille geschnittenen schwarz gesäumten Filzjacken. Sie umringten vorhin im Wartesaal einen Kriegsgefangenen, einen untersetzten Kerl mit alter Artilleriemütze und einem blauroten idiotischen Gesicht, der seinen Schilderungen durch ein pathetisches Heben und Schütteln der Arme Nachdruck gab. Nun begeben sich die Frauen zusammen an den Zug, eine Gruppe von Kriegsgefangenen steht auf der Plattform, die Frauen reichen ihnen Krüge und Milchkannen hinauf, sie tränken die heimgekehrten Burschen.

Das Volk ist gleichsam aus den Ufern getreten. Bauern, Rückwanderer, Kriegsgefangene überschwemmen in grauer Menge den Bahnhof von Smolensk. Wir nähern uns dieser großen, hügelig bunten Stadt neben einer breiten Landstraße; in den Zug weht plötzlich heitere Marschmusik, vor dem Waldrand marschiert eine Schar von Schulkindern, alle in Pfadfinderkostümen, schilfgrau, mit kurzem Röckchen und Kniehosen, gelbe Baumwolltücher cowboyhaft um den Hals gebunden, mit amerikanisch zugespitzten Schlapphüten, ein blaues Fähnchen flattert über den Köpfen. Man fühlt plötzlich mit höchstem Interesse ein Russland, das es vor dem Kriege nicht gab, ein Russland, in dem eine neue fremde, internationale Idee, die Pfadfinderbewegung mit ihrem Zug zur Natur und zum Soldatenspiel, sich eingenistet hat, ein jüngstes Russland, das schon hinter dem revolutionären Russland der Erwachsenen von heute wartet und das sich um die rote Fahne auf dem Bahnhofsgebäude und auf den Balkonen früherer Gouverneurspaläste nicht kümmert, um diese rote Fahne, die schon jetzt ein verwaschener und vom Wind zerrissener Fetzen ist.

Im Bahnhofsgedränge von Smolensk begegnet dem Auge auf einen Blick die Gestalt eines Deutschen mit der Binde des Roten Kreuzes am Arm, des Beauftragten einer der siebzehn Kriegsgefangenenkommissionen, die sich über ganz Russland verbreitet haben. Das Volk liegt ungestört in seinem Schmutz umher. Alte Gesichter von Bauersfrauen schauen müde vor sich hin. Bettler im Schafspelz, Bauern und Soldaten, alles lagert auf dem Boden, in allen Wartesälen bis hinaus über die Stufen des Bahnhofsgebäudes auf die hartgepflasterte Straße. Vor den Heiligenbildern brennen Kerzen, doch spärlicher und mit dünneren Flämmchen als früher. Im einstigen Fürstenzimmer der Zarin haust das Bahnhofskommissariat, ein Feldbett steht in der Ecke. An den Wänden hängt in sechs Sprachen der Aufruf an die Proletarier aller Länder. Ohne ihre weißen Mützen und Schürzen stehen die Köche hinter ihren kleinen Bratöfen im großen unsauberen Wartesaal. Man muss nehmen, was es gibt: eine Flasche Kwas, einen Blechteller mit Sauerampfersuppe, eine Portion Nieren. Das kostet acht Rubel, der Kellner setzt es an den mit Wachstuch überzogenen Tisch und behält ohne weiteres zwanzig Prozent vom Betrag der Rechnung für seinen Dienst. Was man zurückerhält, ist ein gehäufter Teller voll schmieriger Briefmarken, zerknitterter und verfetteter Coupons vergangener Kriegs- und Freiheitsanleihen.

In Jarzewo ist es Abend. Auf dem Hügel hinter dem spiegelnden Flusshafen steht das große rote Gebäude einer Zeugweberei mit grünen Eisendächern. Die Schornsteine rauchen nicht. Die Fabrik, heißt es, arbeitet noch, wird aber in einigen Tagen wegen Mangels an Rohstoffen schließen und Tausende von Arbeitern entlassen. Auch hier liegt überall das Volk umher, auf dem Bahnsteige, auf den Rasenflächen, an den Mauern der geschlossenen Eisenbahnwerkstätte. Hier ist ein gewaltiges Lager von Holz und Stahlschienen. Aus Güterwagen wird Brennholz lässig ausgeladen. Drei Arbeiter sind in Tätigkeit, zehn andere liegen faul als Zuschauer daneben. Durch die Menge der Reisenden, die, um Luft zu schöpfen, den Zug verlassen haben, geht mit klirrenden Sporen der Bahnhofskommandant, ein gewöhnlicher Soldat mit rotseidener Armbinde.

Wir schlafen uns in dieser Nacht ein großes Stück näher zu Moskau. Am zweiten Tag sind die Stationen stattlicher, aber auch leerer; die Bauern mit ihren Landesprodukten fehlen. Hier erscheinen zum erstenmal, wie früher, Bahnhofsvorsteher mit roter Tellermütze und weißer Jacke auf der erhöhten Plattform; einige dieser Bahnhöfe haben Matrosen mit umgehängten Gewehren als Wache. Wir nähern uns merkbar der Hauptstadt; wir gelangen in das Gebiet ihrer ländlichen Umgebung mit den reichen Dörfern, prangenden Kirchen, versteckten Sommerhäusern, kleinen Wiesenflüssen mit Badeanstalten. Damen, Kinder mit Feldblumensträußen kommen an den Zug, um mitzufahren. Aber der Zug ist überfüllt, Reisende laufen an den Wagen entlang und bleiben zurück. Viele aber fahren, auf den Trittbrettern sitzend und freischwebend, mit heraushängenden Beinen, Regenschirmen und Koffern, dennoch nach Moskau. Jemand im Zuge spielt auf der Ziehharmonika „Puppchen“ in den Molltönen der russischen Melodik. In der Ferne heben sich schon aus dürren, von Dämmen durchzogenen Feldern die bleichen Hauswände, und unter Rauchwolken blinken weich und golden die Kirchenkuppeln der Millionenstadt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im kommunistischen Russland - Briefe aus Moskau