Im Walde.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 6. 1871
Autor: Theodor Flamming, Erscheinungsjahr: 1871

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wald, Fost, Bäume, Laub, Zweige, Äste, Blätter, Vögel, Käfer, Moos, Bären, Wölfe, Drachen, Eichen, Jagd, Gesträuch, Quellen, Bäche, Kobolde, Rübezahl, Frau Holle,
Ein Gefühl der Ehrfurcht, der Scheu und doch des Friedens und des Heimischseins erfasst mich noch heute, wenn ich einen Wald betrete. Unser deutsches Gemüt ist aufs innigste verwachsen mit den dunkeln Forsten und weithin ausgedehnten Wäldern unseres Vaterlandes. Im Schatten uralt heiliger Bäume wohnten unsere Götter; unter dem Laubdach riesiger Eichen berieten unsere Ahnen über Krieg und Frieden, hielten die Gaugrafen das öffentliche Gericht; die Jungfrauen weissagten dort im Halbdunkel den Helden die künftigen Siege; der raue edle Germane übte sich durch die Jagd im Wald auf den Kampf; Bären, Wölfe und Drachen suchte er in ihren Höhlen unerschrocken auf und blieb gesund an Seele und Leib, wetterfest und stark und frei wie der Wald.

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An all' dieses dachte ich, wenn ich mit Gespielen oder allein in den Wald zog; oft legte ich mich an den moosbewachsenen Fuß eines Baumes und starrte hinauf in das Chaos der Äste und Zweige und Blätter, die geheimnisvoll im Winde rauschten. Die Vögel sangen, die Käfer spielten und die Strahlen der Sonne huschten über das metallgrüne Moos und versteckten sich dann in der Finsternis, aus der in nebelhaften Umrissen die seltsamen Gestalten der riesigen Bäume und Gesträuche halb drohend, halb lockend hervorspähten. Da schloss ich oft die Augen und tauschte was im heiligen Geflüster sich der Wald erzählt. Frau Holle, Rübezahl, Kobolde und Gnomen schritten seht wohl über die dürren Ästlein und das gefallene Laub, Elfen tanzten den lustigen Reigen, die Nymphe der Quelle badete im kristallenen Wasser. So schwirrte es bunt und reichgestaltig durch die jugendliche Phantasie; „das Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt,“ bin ich oft suchen gegangen, habe es leider nie gefunden, wie gar Vieles nicht, was im Frühling des Lebens so begehrenswert erscheint. Den Wald aber habe ich lieb behalten, den deutschen Wald, den das herrliche Lied lobpreist:

„Wer hat dich, du schöner Wald
Aufgebaut so hoch da droben!“ —

Das Leben, das uns klug macht, die Aufklärung wollte den Wald entvölkern von seinen Geistern; doch sie haben sich nicht ganz vertreiben lassen, und wer schlechten Gewissens Nachts durch den Wald geht, der empfindet ihre ewige Macht. Heiterkeit, stille Lust und Freude schenkt aber der grüne Tempel voll ungezählter Herrlichkeit Allen, die reines Herzens sind — darum gehen die Kinder so gern in den Wald, wo die rote Erdbeere zum Naschen einladet, der Schmetterling als neckender Wegweiser voraufliegt; wo es so viel zu pflücken und zu sehen gibt. Und wie ruht sich's dann so behaglich im kühlen Schatten auf weichem Moospolster; man betrachte unser Bild auf S. 321 und man wird mit uns einstimmen: da lässt sich's noch einmal so gut spielen und schwatzen; erzählt dann hin und wieder der Vater oder die Mutter ein Märchen, da steigt im Wald vor den jungen Herzen eine neue Welt, das unendliche Reich der deutschen Poesie, empor.

Kinder im Wald

Kinder im Wald