In einem der letzten Briefe lesen wir: ...

„Fahren Sie nur so fort, nächst Ihrer diätetischen Folgsamkeit, mir in Ihren Briefen Ihre Denkungsweise, Ihr Herz und Gemüth aufzuschließen. Sie haben einen alten Mann vor sich, der ungemein empfänglich für so etwas ist, ungeheuchelten Theil daran nimmt, auch wohl hierin guten Rath zu geben weiß. Erhält, wie bei Ihnen, das geistige Gefühl und die Empfindsamkeit die Oberhand, so wird das körperliche davon übermannt und über die Maße gestört. Da ist es nöthig, auf den rechten Weg einzulenken, wo der Körper neben dem Geiste seine Rechte behaupten könne, da ist es nöthig, solche Beschäftigungen zu wählen, wobei die Phantasie möglichst wenig aufgeregt und mehr das Denken und Beobachten geübt wird .... Nächstdem bitte ich bloß leichte, frohe Lieder (keine andere Poeterey), gute, wahre Reisebeschreibungen, Lebensbeschreibungen und Geschichte zu lesen. Um Ihnen aber etwas und womöglich vielmehr Vergnügen bei Ihren Spaziergängen zu verschaffen, haben Sie in Weimar die beste Gelegenheit, sich einen unpedantischen Lehrer in der Naturgeschichte zu verschaffen, der Ihnen, im Beiseyn Ihrer gnädigen Frau Mama, Kenntnisse beibringen wird, die Ihnen dereinst weit schätzbarer und lieber sein werden, als viele andere weibliche Beschäftigungen. Dann sind Sie auf Ihren Spaziergängen nicht mehr einsam und ohne Unterhaltung. -- --“

Der gute Rat des Seelenarztes mochte dem trauernden Gemüt des jungen Mädchens eine bessere Arznei sein, als seine „Pülverchen“ ihrem Körper. Aber den Rat, der überall zwischen den Zeilen seiner Briefe zu finden und sicherlich von den besorgten Eltern diktiert war: durch die Verbindung mit einem „würdigen Mann“ die erste Leidenschaft zu überwinden, vermochte sie nicht zu befolgen. An Bewerbern fehlte es nicht; ihre Schönheit und noch mehr der Liebreiz ihres Wesens bezauberte alle.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Schatten der Titanen