Freundschaft und Liebe.

Die Zeit, in die Jennys Jugend fiel, pflegt heute als die des Biedermeiertums bezeichnet zu werden, und der moderne Gebildete, dessen prätentiöser Geisteshochmut jeden Zweifel an seiner tiefgründigen Kenntnis aller Dinge für verdammenswerte Majestätsbeleidigung erklärt, stellt sich darunter eine Periode geruhigen, geistesarmen Philistertums vor, eine ereignislose Pause inmitten der beiden Akte der Welttragödie: Napoleon und 1848. Redselige Gefühlsergüsse, die Pfeife und die geblümte Kaffeetasse sind, so meint er, ihre Symbole. Wer aber unter dem Einfluß dieser allgemein verbreiteten Auffassung in der Geschichte der Menschheitsentwicklung nach dieser Pause sucht -- sehnsüchtig sucht vielleicht, wie der vom Lärm der Großstadt Umtoste nach einem stillen, grünen Winkel -- der mag die Jahresblätter noch so oft hin und her wenden, er findet sie nicht. Und vor dem, was er findet, löst sich das Bild der guten alten Zeit auf wie ein Traum am Morgen.

Nationale Kämpfe erschütterten Europa. Der Freiheitskampf der Griechen begeisterte die Jugend, der der Polen stempelte sie wieder zu bewunderten Märtyrern; die Magyaren und die Italiener rangen um ihr Volkstum. Unterirdisch und doch für alle schon fühlbar grollte der durch die Metternichsche Zuchthauspolitik erregte Zorn des Bürgertums. Politische Attentate in ungewöhnlich großer Zahl wurden zu Verkündern der Revolution der Zukunft. Und die trotz aller Beschränkung der Preßfreiheit sich rasch ausbreitende Tagespresse begann in das stille Heim des Bürgers den Strom des öffentlichen Lebens zu leiten und wurde zum Sprachrohr nicht nur der Unterdrücker, sondern auch der langsam zur Manneskraft reifenden liberalen Ideen. Daneben aber entwickelte sich mit der zunehmenden Zahl der zum Himmel ragenden Fabrikschlote, mit der wachsenden Herrschaft der Maschinen etwas Neues, nie Dagewesenes: das Selbstbewußtsein der in den Höllen der Industriemagnaten zusammengezwängten Massen. In England und Frankreich griffen sie zum erstenmal zur Selbsthilfe der Arbeitseinstellung, und gegenüber dem allgemeinen Elend fingen soziale Ideale an, Hirn und Herz der Denker und Dichter zu erobern. St. Simons Sozialismus ward vielen zur neuen Religion, von der sie die Erlösung der Welt erwarteten.


Doch das wachsende Interesse für politische und soziale Fragen nahm den geistig belebten und empfänglichen Teil der Bevölkerung nicht in dem Maße in Anspruch, daß Kunst und Wissenschaft darüber zu kurz gekommen wären. Die Tatsache, daß deutsche Gelehrte -- Vertreter jenes Typus weltfremder Stubenweisheit -- ihre stille Studierstube verließen und auf die große Bühne des politischen Kampfes traten, trug mit dazu bei, daß auch die Ergebnisse ihrer Forschungen über den engen Kreis der Fachgelehrsamkeit hinaus mehr und mehr in die Köpfe der Laien drangen. Aber von noch größerer Bedeutung als sie war die Kunst für das geistige Leben der Gesellschaft. Je älter der letzte der Klassiker wurde, desto lebendiger wurden er und seine Zeitgenossen, die Schiller, Herder, Wieland, für das gebildete Deutschland. Und die Romantiker mit dem Zauber ihrer weltentrückenden Phantasie, dem funkelnden Glanz ihrer Sprache machten ihnen den Rang vielfach streitig. Mit ihnen wetteiferten um Ruhm und Gunst die glänzenden Sterne am Dichterhimmel des Auslandes -- Scott, Dickens, Shelley, Lamartine, George Sand, Balzac, Hugo -- während die Vertreter des jungen Deutschlands schon anfingen, der Romantik den Krieg zu erklären.

Da das Berufsleben den Bürger noch nicht in jenes Prokrustesbett fesselte, das ihn heute nur zu oft zu geistiger Verkrüppelung zwingt, und seine Frauen und Töchter die Befreiung aus innerer oder äußerer Not noch nicht in der Lohnarbeit zu suchen brauchten, so gab es in ihrem Familienkreise die schöne Ruhe, die geistiges Genießen ermöglicht. Eine andere Voraussetzung mußte allerdings noch hinzukommen, damit dieser kostbare Besitz nicht in gedankenlosem Zeitvertreib verschwendet werde: der Seelenhunger nach intellektueller Speise, die Sehnsucht nach Nahrung für das Gemüt. Hatten die Kämpfe der Zeit die Männer mehr und mehr aus dem lethargischen Schlaf geweckt, in dem ein behaglich-einförmiges Leben so leicht zu versinken vermag, so hatten die Ideen des St. Simonismus, die geistige Vorkämpferschaft einer Staël und einer George Sand in Verbindung mit dem Einfluß der das weibliche Geschlecht auf das Piedestal geistiger Ebenbürtigkeit erhebenden Romantiker, die alte Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frauen in ihren Grundfesten erschüttert und ihnen die Augen geöffnet für die Bedürfnisse ihres eigenen Wesens. Es war nur natürlich, daß ihre plötzliche Befreiung aus den Fesseln alter Sitten und Vorurteile sie auf der einen Seite zu einem Mißbrauch der noch unverstandenen Freiheit, einem kecken Hinwegsetzen über alle Hindernisse führen mußte, und auf der anderen, nach der bisherigen gewaltsamen Unterdrückung, ein überschäumender Ausbruch der Gefühle sich geltend machte. Nachdem die sturmbewegten Wogen sich aber geglättet hatten, blieb als nicht zu überschätzender Gewinn die lebendige Anteilnahme der Frauen am geistigen Leben, die freie Entfaltung ihrer Empfindung und ihrer Fähigkeiten zurück. Der geistige Einfluß einer Rahel, die soziale Wirksamkeit einer Bettina, der erste deutsche Frauenrechtskampf einer Luise Otto-Peters sind demselben Boden entsprungen wie der phantastische Selbstmord einer Charlotte Stieglitz, die Liebesrasereien einer Hahn-Hahn.

„Still und bewegt,“ dieses schöne, von Rahel geprägte Wort war das Motto der Biedermeierzeit: still das tägliche Leben des einzelnen, still das Heim, ruhig das Zimmer mit seinen Mullvorhängen und geradlinigen Möbeln; der Geist aber und das Herz bewegt vom eigenen Denken und Fühlen und von dem der großen Welt.

Weimar war während der zwölf Jahre, die Jenny von Pappenheim als erwachsenes Mädchen dort lebte, wie ein Brennpunkt der Zeit. Hier hatte die Klassik der Romantik in ihren besten Vertretern die Hand gereicht, hier strömte alles zusammen, was geistige Bedeutung besaß, und wer von den Führern intellektuellen und künstlerischen Schaffens nicht persönlich kam, um einmal eine Luft mit dem Größten zu atmen -- als einen Segen fürs Leben --, der wurde doch durch seine Werke den meisten vertraut. Angehörige aller Nationen kamen, brachten ihre Interessen mit und die Kunde von ihrem Heimatland. So waren denn die engeren und weiteren Kreise, die sich um Goethe zogen, in ihrer Mannigfaltigkeit bunt wie ein Regenbogen und vielfach wechselnd wie ein Wellenspiel. Je älter Goethe wurde, desto ausgedehnter wurde die Völkerwanderung. Aus England besonders, wo es damals zum guten Ton gehörte, die Sprache Goethes sprechen zu können, kamen zahlreiche Gäste.

Die jungen Mädchen Weimars sahen sie besonders gern, denn die Fremden waren meist reiche, unabhängige junge Leute, nur gekommen, um Goethe zu sehen, Deutsch zu lernen und sich zu amüsieren. Keinerlei Berufsarbeit zog sie von ihren literarischen und anderen Interessen ab, keinerlei Ermüdung durch des Tages Arbeit hinderte sie am Genuß der Geselligkeit. Zu jeder Zeit konnten sie sich den Damen widmen, der einheimischen männlichen Jugend waren sie daher stets ein Dorn im Auge. Alfred von Pappenheim, der seine Halbschwester Jenny zärtlich liebte und vor seinem Eintritt in russische Kriegsdienste in Weimar lebte, auch auf Urlaub oft dorthin zurückkehrte, konnte selbst in seinen Briefen seinen Ärger über die Engländer, die die „ersten Liebhaberrollen spielen“, nicht unterdrücken, und Karl von Holtei, ein häufiger, beliebter Gast in Weimar, sekundierte ihm dabei, indem er schrieb: „Zum erstenmal in meinem Leben wünsch' ich ein Engländer zu sein, wenigstens immer so lang, als ich in Weimar bin, denn

Weimar an der Ilm ist eine Stadt, Schön, weil sie so viel Schönheiten hat, Alle Fremden sind wohlgelitten, Vorzüglich die Briten.“

Der Einfluß der Engländer, unter denen sich manch einer befand, der später im künstlerischen oder politischen Leben eine Rolle spielen sollte, war unverkennbar: das Interesse für englische Literatur, das sie erregten, stieg bis zur Schwärmerei. In den verschiedenen geselligen Kreisen war die gemeinsame Lektüre interessanter Literaturerscheinungen allgemein üblich. Sie regte zu ernsten Gesprächen an und trug dazu bei, daß zu oberflächlicher Unterhaltung und seichtem Tagesklatsch wenig Neigung blieb. Englische Bücher -- Lord Byron vor allem und Walter Scott, die beide Goethes höchste Anerkennung gefunden hatten -- wurden besonders gern gelesen.

Aber auch die französische Literatur wurde nicht vernachlässigt. Graf Alfred Vaudreuil und seine schöne Frau Luise, der französische Gesandte am Weimarer Hof, und Graf Karl Reinhard, sein Attaché, der Sohn des uns aus Jeromes Geschichte bekannten Reinhard, sorgten dafür, daß sie der Weimarer Gesellschaft vertraut wurde, und Jennys französische Beziehungen, die besonders durch ihre Korrespondenz mit den Türckheims und mit Graf Eduard Waldner aufrechterhalten blieben, machten sie selbst zur geeigneten Mittelsperson für Frankreichs geistiges Leben, das in den Namen eines Chateaubriand, Lamartine, Balzac, George Sand, Victor Hugo kulminierte. Galt das Interesse der Jugend hauptsächlich der schönen Literatur, so wurde durch die häufigen Besuche berühmter Gelehrter in Weimar, durch die von Maria Paulowna eingeführten literarischen Abende am Hof, wo von ihnen oder von den stets geladenen Jenaer Professoren Vorlesungen gehalten wurden, auch für die wissenschaftliche Bildung und Aufklärung gesorgt.

In einem anderen geselligen Zirkel, der sich im Hause Johanna Schopenhauers zusammenfand, waren es die politischen Fragen, die am häufigsten erörtert wurden. „Es wehte eine eigentümliche Luft in diesen Räumen,“ erzählte Jenny von Pappenheim in Erinnerung an sie, „die von der Luft Weimars verschieden war. Man atmete, man bewegte sich freier als bei Hofe, weniger frei als bei Ottilie. Die Interessen, die uns hier zusammenführten, waren mehr geistige als Herzensinteressen; der Kreis, in dem die Unterhaltung sich bewegte, umschloß nicht nur die Literatur, sondern auch jede Art der Wissenschaft; selbst die sonst unter uns verpönte Politik, der wir mit ziemlicher Gleichgültigkeit begegneten, fand hier Beachtung. Johanna Schopenhauer hatte eine unvergleichliche Art, sich selbst in den Hintergrund zu stellen und trotzdem, wie mit unsichtbaren Fäden, die Geister in Bewegung zu erhalten. Oft schien sie selbst kaum an der Unterhaltung teilzunehmen, und doch hatte ein hingeworfenes Wort von ihr sie angeregt; ein ebensolches belebte sie, sobald sie ins Stocken zu geraten schien. Ihre Tochter Adele, meine sehr liebe, wiewohl bedeutend ältere Freundin, war in anderer Art wie die Mutter, aber doch auch ein belebendes Element dieses Kreises. Ihre Leidenschaftlichkeit riß sie oft über die Grenzen der geselligen Unterhaltung hin. Ihre Empfindungen waren von verzehrender Glut und ein Hauptgrund ihrer vielfachen körperlichen Leiden. Von Natur reich begabt, fehlte ihr die Kraft, sich zu beschränken, so daß sie weder ihr poetisches, noch ihr künstlerisches Talent zu Bedeutendem ausbildete. Goethes eindringliches Wort: 'Beschränkung ist überall unser Los' wollte sie nicht verstehen, daher das Gefühl des Unbefriedigtseins dauernd auf ihr lastete. Vollkommen und tadellos war ihre Geschicklichkeit im Silhouettenschneiden. Sie illustrierte einmal ein Märchen, das Tieck vorgelesen hatte, und zwar während er las, mit einer Feinheit und poetischen Auffassung, die deutlich zeigten, was sie hätte leisten können, wenn sie die Ausdauer gehabt hätte, zeichnen und malen zu lernen. Durchaus verschieden von Mutter und Schwester zeigte sich Arthur Schopenhauer, der, so selten er auch in Weimar war, doch oft genug erschien, um sich uns unsympathisch zu machen. Goethe verteidigte seine Persönlichkeit einmal ziemlich lebhaft. Er, der so innigen Anteil an dem Ergehen seiner Freunde nahm, sah ungern, wie das Zerwürfnis zwischen Johanna Schopenhauer und ihrem Sohne ständig zunahm und sein Einfluß machtlos dem gegenüberstand. Die Treue in der Freundschaft, die tätige Liebe zu den Kindern seiner Freunde ist immer einer seiner schönsten Charakterzüge gewesen, von dem die Schopenhauersche Familie das beste Zeugnis ablegen konnte. Er war ein häufiger Gast in deren Hause gewesen; nun, da er nicht mehr ausging, zog er Adele oft in seine Nähe, der Mutter so am besten seine Dankbarkeit für ihre Gastfreundschaft, ihren anregenden Umgang beweisend.

„Ein ständiger Besucher ihrer Teeabende war Dr. Stephan Schütze, eine sehr beliebte, originelle Persönlichkeit. Er hielt sich bescheiden zurück, sprach nicht viel, aber dann mit liebenswürdigem, trockenem Humor, der auch in seinen Gedichten, die er uns häufig vorlas, Ausdruck fand. Vorlesen, Vorsingen, Vorzeigen eigener oder gesammelter Kunstwerke machte überhaupt unsre damalige Geselligkeit zu einer so belebten. Man wetteiferte darin, man hatte einen aufmerksamen, geschärften Blick für alle Vorkommnisse inneren und äußeren Lebens und teilte anderen die eigenen Beobachtungen und Erfahrungen rückhaltlos mit. Daß sie sich nicht auf die engen Grenzen Weimars beschränkten, daß uns auch für das politische Leben der Blick geöffnet wurde, war mit das Verdienst Johanna Schopenhauers.“

Diese vielfachen Anregungen sollten aber auch in verschiedenster Weise fruchtbar werden, zu eigener Fortbildung und selbständiger Tätigkeit anregen, und es war wieder Goethe, der dies Bestreben nach jeder Richtung eifrig unterstützte. An der Zeitschrift „Chaos“, die nur für einen abgegrenzten Teil naher Bekannter erschien, nahm er regen Anteil. Jenny, die sich darin in Versen -- englischen, französischen und deutschen -- und in Prosa oft vernehmen ließ, erzählt von ihr:

„Ihre Gründung war ebenso originell wie sie selbst. Wir saßen ziemlich einsilbig bei Ottilie im Mansardenstübchen, Emma Froriep, Hofrat Soret, Mr. Parry und ich. Eckermann, den sein Herr und Meister eben losgelassen hatte, kam ebenfalls hinauf und sah betrübt aus dem Fenster.

„'Es regnet', sagte er.

„'It rains!' wiederholte Parry.

„'Il pleut!' lachte Soret.

„Ottilie, ärgerlich über diese animierte Unterhaltung, schlug vor, irgend etwas zu erfinden, um die einschlafende Gesellschaft wieder aufzurütteln. Nach langem Hin- und Herreden wurde ein 'Musenverein' feierlich gegründet. Er sollte regelmäßig zusammenkommen und dichtend, singend, malend den Musen dienen. Goethe aber sollte unser Oberhaupt, unser Apollo sein; davon wollte er jedoch nichts wissen, und der Musenverein als solcher kam nur noch einmal zusammen, um dann dem 'Chaos' Platz zu machen, das nun während fast zweier Jahre im Mittelpunkt unseres Interesses stand.[71] Es war ein geselliger Zeitvertreib, weckte, förderte Interessen, Talente und Talentchen und hinderte wertlose Klatsch-Konversionen, war also in Goethes Sinn. Ottilie, Dr. Froriep, Soret und Parry redigierten das 'Chaos' mit vielem Takt und großer Verschwiegenheit. Es erschien jeden Sonnabend, man fand Herzensergießungen in drei Sprachen, riet, hoffte verstanden zu werden, hatte Stoff zu angenehmen Gedanken und Unterhaltungen; es war ein anmutiges Spiel. August Goethe, Karl von Holtei, der den ersten Prolog für sie geschrieben, und Felix Mendelssohn, Goethes David, waren unsere eifrigsten Mitarbeiter; Mendelssohn verfaßte einige allerliebste Verse dafür, sandte auch später einen Reisebrief aus Schaffhausen und mystifizierte uns, indem er, sich hinter dem Namen einer Dame versteckend, eine Warnungspredigt vor Weimars Gefahren einschickte. Sein immer sehr harmloser Zorn richtete sich gern gegen die Engländer, besonders gegen Mr. Robinson, den er stets nach seinem Freytag frug. Ganz besondere Freude bereitete uns Mendelssohn mit seinen Kompositionen einzelner Chaoslieder. Eins derselben ist fast zum Volkslied geworden und hat mich immer gerührt, wenn ich es hörte.[72] Im zweiten Jahrgang unserer Zeitung erschienen drei Briefe Mendelssohns,[73] die dieser an Goethe geschrieben hatte. Die Briefe seiner Freunde, die Goethe an Ottilien zuweilen zum Zweck der Veröffentlichung gab, wurden von ihm erst einer genauen Revision unterworfen; er strich Unnötiges, kürzte die Sätze und änderte oft noch den ersten Druck. Ebenso verfuhr er mit Gedichten, die ihm in die Hände fielen. Er vernichtete oft über die Hälfte der Strophen; waren die Verse gar zu schlecht, so schüttelte er nur bedenklich den Kopf, brummte 'hm, hm' oder 'nu, nu' und legte sie beiseite. Von den Erzeugnissen unserer dilettantischen Muse, die er zurechtgestutzt hatte, pflegte Ottilie scherzend zu sagen: 'Wir haben sie durch das Fegefeuer geschickt.'

„Nach zwei Jahren des Bestehens unserer Zeitschrift mischten sich Neugier und Eitelkeit auch auswärtiger Kreise hinein, und da wurde sie so seicht, daß es eine Art Erlösung war, als der sehr kluge Irländer Goff daneben ein englisches 'Creation' erscheinen ließ, dem ein französisches 'Création' von Soret folgte.“

An Goethes Geburtstag, dem 28. August 1829, war das erste Blatt der Zeitschrift erschienen. Sie enthielt außer einigen Beiträgen von Goethe selbst solche von Riemer und Knebel, Fouqué und Chamisso, von Johann Dietrich Gries, dem geistvollen Übersetzer des Tasso, des Ariost und des Calderon, von Eckermann und August Goethe, von Adele Schopenhauer, von den reizenden Schwesternpaaren Egloffstein und Spiegel. Von Sulpice Boisserée wurde ein Brief an Goethe über das Oberammergauer Passionsspiel veröffentlicht, worüber Goethe ihm selbst Mitteilung machte: „Ihre anmutige Betreibung der traditionellen Aufführung eines geistlichen Dramas ist sogleich in dem Abgrund der chaotischen Verwirrung verschlungen worden.“ Auch Zelter schickte einen Bericht über Berliner Theaterereignisse, und Bettina von Arnim sandte zierliche Reime. Unter den Ausländern treten[TN1] die jungen Engländer als Mitarbeiter besonders hervor: Lord Loveson Gower, Charles des Voeux, Samuel Naylor brachten Übersetzungen Goethescher Verse in ihrer Muttersprache, der Irländer Goff, der schließlich auf dem Grabe seines geliebten Kindes starb, nachdem er zehn Jahre lang jeden Winter nach Weimar gekommen war, um eine Nacht auf dem Kirchhof zuzubringen, sandte phantastische Träumereien, und W. M. Thackeray, der schon als ganz junger Mann nach Weimar kam, stellte hie und da schüchtern sein noch unbekanntes Talent in den Dienst des „Chaos“. Zur Erinnerung an ihn, der in Jennys noch vorhandenem Album durch einige seiner hübschen Zeichnungen vertreten ist, schrieb Jenny später:

„Thackerays 'Vanity fair' rief mir wieder lebhaft den liebenswürdigen Verfasser ins Gedächtnis zurück, der ein so treuer Freund meines väterlichen Hauses war; sein treffender Humor, sein weiches Herz sprechen sich in jedem seiner Werke aus. Er war hauptsächlich in Weimar, um sein eminentes Zeichentalent zu entwickeln. Während wir um den Teetisch saßen und sprachen, zeichnete er die humoristischsten Szenen. Sich selbst zeichnete er in einer Minute und fing immer beim Fuß an, ohne die Feder abzusetzen, daneben pflegte er einen kleinen Gassenjungen hinzustellen, der ihn verspottete, da er einen durch Boxen eingeschlagenen Nasenknochen hatte. Sonst sah er gut aus, hatte schöne Augen, volles, lockiges Haar und war ziemlich groß. Er gehörte zu den beliebteren Engländern, die sich in Weimar länger aufhielten, und deren gab es genug.“

Einer ihrer leidenschaftlichsten Verehrer, Prinz Elim Metschersky, Attaché der russischen Gesandtschaft, schrieb in Prosa und Poesie für das „Chaos“ und widmete der Angebeteten, nicht zu Erobernden, darin folgendes Gedicht:

L'éclat de ton regard aurait trop ébloui Si la nuit ne l'avait recouvert de son voile; Il a le clair-obscur du jour évanoui, Il a le feu brillant, le feu vif de l'étoile.

Le génie et l'esprit unis au sentiment Voulurent tour à tour qu'il fut leur interprête, La lyre exprime ainsi par son frémissement Chaque sensation de l'âme du poète.

Er war es auch, der auf seine Bemerkung, daß man in Weimar nicht zu tanzen verstünde, von Jenny die Antwort erhielt: „Wir vergessen zu tanzen, aber die einzige Ursache ist: zu angeregte Unterhaltungen. Fragen Sie die bösen Zungen nach unserem schlimmsten Fehler, und sie werden Ihnen antworten: zu angeregte Unterhaltungen. Und um Ihnen zu beweisen, daß es nicht die Damen allein sind, die sprechen, sei Ihnen verraten, daß sie alle Englisch gelernt haben durch zu angeregte Unterhaltungen.“ Durch seine Behauptung, „daß die deutschen Mädchen von sechzehn Jahren mit ebensolcher Sicherheit von der Liebe sprechen wie die Französinnen im gleichen Alter von ihren Puppen“, führte Metschersky einen anderen lebhaften Meinungsaustausch herbei. Die Antwort Ottiliens darauf ist so bezeichnend für die damalige Gemüts- und Geistesatmosphäre Weimars, daß sie wiedergegeben zu werden verdient. Sie schrieb:

„Über jede Empfindung sprechen wir uns mit Klarheit und Offenheit aus. Wäre Weimar ein Ort, wo man wenig Fremde sieht, oder diese sich doch in einem großen Zirkel verteilen könnten, wir würden, wie es Sitte und Gewohnheit verlangt, die ganze Stufenleiter, die man mit einem Fremden durchzumachen hat, von der ersten Frage an: Sie sind zum erstenmal in Weimar? bis zu all den Gesprächen über Theater und Wetter, durchkämpfen; doch da die verschiedensten Länder uns ihre Bewohner senden, so haben wir uns alle stillschweigend entschlossen, die entsetzliche Kette der Langenweile, die uns auf die hergebrachte Weise täglich und stündlich drücken würde, abzuwerfen und, nachdem wir die erste Phrase als Abfindungsquantum bezahlt, dann ruhig in unserer Weise fortzufahren, als wäre kein Fremder zugegen. -- -- Worin besteht denn der Unterschied, sich fremd oder einheimisch fühlen? Doch nur darin, daß man den alten Bekannten mit Vertrauen und ohne Zeremonie entgegenkommt; also tut und spricht, als könnte man nicht mißverstanden werden, während man den Fremden eigentlich immer in anderen Orten mit einer Art behandelt, die doch eigentlich nichts wie ein höflich gezeigtes Mißtrauen ist.

„Sie loben den Enthusiasmus, den wir für unsere Dichter empfinden und die Sorgfalt, mit der wir ihre unsterblichen Werke in unserer Seele aufnehmen. Doch ich frage Sie, was ist mehr das Eigentum des Dichters als das gelobte Land der Liebe, als all die Wunderquellen, die ihm entspringen, sie mögen nun Namen tragen, wie sie wollen. Die Frauen verstehen sich überhaupt schlecht auf das Sondern, im Gegenteil, sie suchen alle Empfindungen zu verketten, und Liebe, Poesie, Ruhm, Vaterland, das alles bildet für sie eine elektrische Kette, von der man nur ein Glied zu berühren braucht, und es erzittert die ganze Reihe. So ist es auch mit ihrem Wissen und Verstehen aller Dinge, sie suchen stets den Teil davon zu erfassen, der es an eine Empfindung anschließt. Nehmen Sie uns die Empfindung oder vielmehr das Recht, sie zu zeigen, schneiden Sie uns von unseren Dichtern ab, und wir werden wie die Pariserinnen genötigt sein, zu witzeln und über Mode, Equipage und dergleichen zu reden; erlauben Sie Ihren Frauen, Frauen zu sein, das heißt ein Herz zu haben, und sie werden uns an Liebenswürdigkeit übertreffen, weil ihre angeborene Heiterkeit nur gemildert werden würde, während bei uns das Gefühl oft so despotisch das Übergewicht erhält, daß jede Eigenschaft des Geistes dadurch unterdrückt und gänzlich untüchtig für die Geselligkeit gemacht wird. -- Man verspottet die Chinesinnen, daß sie in der frühesten Jugend die Füße ihrer Töchter in so enge Bande schnüren, daß dadurch der Fuß nie seine natürliche Form erhält, zum eigentlichen Gebrauch untauglich wird und sie durch das Leben schwanken. Doch mich deucht, nach Ihrer Schilderung, daß die französischen Mütter dasselbe Experiment mit ihren Töchtern vornehmen, nur mit dem Unterschied, daß sie statt des Fußes das Herz dazu wählen -- und am Ende ist doch ein verkrüppelter Fuß besser als ein verkrüppeltes Herz.“

Wer heute die vergilbten Blätter des „Chaos“ zur Hand nimmt, dem wird die ganze Zeit lebendig: wieviel Geist und Wissen, wieviel mehr noch Schwärmerei und Leidenschaft! Selbst das Lächeln glänzt nur zwischen Tränen, und in den poetischen Liebesgrüßen, die hin und her gewechselt wurden, herrscht weniger die Seligkeit als das Leid der Liebe.

Auch Jennys Herz, das achtzehnjährige, liebte zum erstenmal; es war nicht jenes wild aufflackernde, strahlende und rasch wieder erlöschende Feuerwerk, dem die erste Liebe junger Menschen gleichzusehen pflegt, es war die verzehrende Flamme heißer Liebesglut, die sie ergriffen hatte. Sie ist niemals ganz erloschen, und noch im späten Alter muß sie still auf dem Altar der verborgenen Herzenskammer gebrannt haben, denn junger Liebe, für die andere meist ein mitleidig-spöttisches Lächeln übrig hatten, begegnete die Greisin mit tiefster, fast mit ehrfürchtiger Teilnahme. Und nie kam der Name dessen, dem ihr Herz gehört hatte, über ihre Lippen. So weiß ich nur, daß er ein Engländer war, daß sie sich ihm, den ein schweres Lungenleiden nach dem Süden trieb, gegen den Willen der Eltern heimlich verlobte und durch Ottiliens Unterstützung mit ihm in Verbindung blieb, bis er im Jahre 1834 in Korfu einsam gestorben ist. Die Schwermut, die alles beherrscht, was sie in diesen fünf Jahren sehnsüchtiger und sorgenvoller Liebe geschrieben hat, ihre Unnahbarkeit für die Bewerbungen derer, die ihr Herz an sie verloren hatten, ihre Abneigung gegen die gewohnten Freuden der Jugend sprachen für die Tiefe ihrer Empfindung. Was an den Geliebten erinnerte, hat sie vernichtet; vielleicht zeugt dieses Opfer aller Liebeszeichen von größerer Pietät, als wenn sie sie bewahrt und damit vor den Händen und den Blicken Gleichgültiger nicht geschützt hätte. Nur diese zwei Gedichte, die sie unter dem Eindruck ihres Schmerzes schrieb, und eine Erinnerung an das Haus Goethes, von dem ihres Lebens Inhalt in Glück und Leid ausging, sind erhalten geblieben:

Menschenschicksal

Jüngst sah ich im Vorübergehn
Vor einem goldnen Gitter
Ein lieblich Kindchen rüttelnd stehen,
Im Herzen Ungewitter.

„Die goldnen Ketten fesseln mich,
Die goldnen Stäbe bannen,
Die goldnen Wände drücken mich,
Ich möcht, ich möcht von dannen!“

Und was erreicht sein wild Bemühn?
Hat es sich losgerungen?
Zog es ins Weite stark und kühn?
Ist Großes ihm gelungen?

Am goldnen Gitter steht das Kind,
Schaut bleich ins Weltenrund,
Nur daß die Händchen blutig sind
Und Stirn und Füße wund.

Ein Leichenbegängnis

Ich grabe im Herzen ein tiefes Grab
Und senke den bleichen Freund hinab,
Und decke es zu mit Tränen und Weh
Damit kein Fremder es jemals säh!

Es tritt die Erinnerung leis hinzu,
Sie singet milde den Freund zur Ruh
Und baut im Herzen ein Monument,
Darauf eine ewige Lampe brennt.

Tief in der Nacht dann schleich ich hin
Und grabe mit treuem, liebendem Sinn
Ein Lebewohl auf den Grabesstein
Und ein Wiedersehen auf die Lampe ein!

„... Ich stieg jene breite klassische Treppe empor, die meine Schritte schon so oft durchmessen hatten -- mit fünfzehn Jahren, als ich im runden Hut, im Pensionskleid und grünen Spenzer mit kindlicher Erregung und jugendlichem Enthusiasmus an der Seite meiner Mutter hinausging, um zum ersten Male den Nestor, den Herkules des deutschen Parnassus zu besuchen; mein Herz grüßte ihn mit jener heiligen Ehrfurcht, die uns die Arme über der Brust kreuzen läßt, mit jener vertrauenden Zärtlichkeit, die voll Hingebung einen Vater in dem erhabenen Greis mit den weißen Haaren, mit der Jupiterstirn findet; mit sechzehn Jahren ging ich denselben Weg, um mein Püppchen (Alma von Goethe) zu finden, ein reizendes Kind, das ich wickeln und umhertragen durfte; später wurde seine Mutter meine Freundin. Mit wie viel verschiedenen Gemütsbewegungen betraten meine Füße diese Stufen! Sie fühlten den leichten Schritt des jungen Mädchens, das, zum Fest geschmückt, nur dem Gedanken an das Vergnügen nachhängt, jenem Gedanken, der die Füße beflügelt und die runden Wangen abwechselnd weiß und rosig färbt; sie fühlten denselben Tritt, unsicher und zögernd vor Hoffnung und Furcht wegen einer möglichen Begegnung, die das Herz nicht mehr ganz gleichgültig ließ, und wenn die Füße wieder langsam die Stufen hinuntergingen, hätten sie fühlen müssen, ob andere sie begleiteten und oft für ein Wort, für einen Blick still standen, oder ob das junge Mädchen enttäuscht und allein, fast gedankenlos den gewohnten Weg betrat. Während vieler trauriger Tage stieg ich empor, teils um zu trösten, teils um selbst getröstet zu werden, um zu klagen, um zu lernen, um Gewißheit zu erlangen über dunkle Gerüchte oder um manchmal an der Freude über gute Nachrichten teilzunehmen. Als Krankenpflegerin stieg ich empor wie als harmloser Besuch, als Geladene zu einer geistreichen Gesellschaft, die sich am Flügel oder um den runden Tisch mit seinen zwei Kerzen versammelte. Mit brennenden Wangen ging ich hinauf, getrieben vom wild pochenden Herzen, zurückgehalten von zitternden Knien -- ich glaubte unter diesem Dach mein Glück, meine Zukunft zu finden; -- dann, eines Tages, schritt ich dieselben Stufen abwärts; an einer Stelle hörte ich ein Wort, und das Wort hieß 'Lebewohl'; und es war so mächtig, daß es sich den Mauern, der Treppe einprägte; und noch nach acht Jahren, wenn ich eintrat, schrien Mauern und Treppe mir dies Wort bis in die Tiefe des Herzens zu.“

Wie Jenny einmal von Goethe gesagt hatte, daß er zu denen gehöre, die ihre Größe mit dem „Pfahl im Fleisch“ bezahlen müssen, so erging es ihr: jede seelische Erschütterung ergriff auch den Körper. Jener furchtbare Abschied, der wohl den Abschied fürs Leben schon ahnen ließ, schien sie aller Lebenskraft zu berauben, und da keiner der Weimarer Ärzte ihr helfen konnte, wandte sich ihre Mutter schließlich an Dr. Samuel Hahnemann, den Begründer der Homöopathie, der nach langem Wanderleben und Anfeindungen aller Art sich endlich in Köthen als Hofrat und Leibarzt des Herzogs Ferdinand niederlassen konnte. Er nahm den wärmsten Anteil an dem Ergehen seiner Patientin, und seine Briefe an sie -- winzige Zettelchen mit winziger Schrift -- gewähren Einblick in die originelle Art seines Verkehrs mit ihr. So schreibt er im November 1827:

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Schatten der Titanen