1. Kapitel. Ein Chajjal -8-



Mein dicker Türke hatte vor Erstaunen über diese Wendung der Angelegenheit seine Pfeife ausgehen lassen. Er blickte mich mit großen Augen an, schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf und meinte:


„Ist das möglich? Sie scheinen trotz Ihrer Grobheit gewonnen zu haben, Effendi!“

„Nicht trotz, sondern wegen meiner Grobheit. Man muß diese Leute zu behandeln wissen. Der Bakschisch hat dann dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Ich sage Ihnen, die hiesigen Beamten haben vor einem europäischen Konsul viel mehr Angst als vor dem Großsultan. Unsere Herrscher verstehen ihre Unterthanen zu schützen, während der Wille des Padischah hier fast gar keine Geltung hat.“

„Aber ob die Sache wirklich zu Ende ist, das fragt sich noch!“

„Nein, sie ist noch nicht zu Ende. Abd el Barak wird es nicht wagen, sich vor Gericht über mich zu beschweren; aber dafür wird er heimlich Rache nehmen. Ich muß von jetzt an sehr vorsichtig sein.“

„So weiß ich nicht, ob ich Ihnen hier in dieser Wohnung Schutz bieten kann!“

„Sie vermögen es nicht. Ich muß mir einen andern Ort suchen.“

„Aber wo? Im Hotel oder vielleicht bei Ihrem Konsul?“

„Im Hotel bin ich nicht sicher, und den Konsul will ich nicht belästigen. Ich werde morgen die Stadt verlassen.“

„Die Stadt, also mich verlassen? Also auch mich? Das kann ich nicht zugeben. Wir würden uns nicht wiedertreffen.“

„O doch. Ich benutze ein Nilboot oder ein kleines Segelboot, um mit den Kindern eine Strecke nilaufwärts zu fahren, und erwarte Sie dort, um, wenn Sie kommen, zu Ihnen an Bord zu steigen.“

„Kann ich mich darauf verlassen?“

„Gewiß; ich halte mein Wort. Ihr langer Selim mag noch heute hinab nach dem Hafen gehen, um sich zu erkundigen, wann ein Boot abgeht. Ich selbst mag mich heute nicht sehen lassen.“

„Und die Kinder wollen Sie mitnehmen?“

„Ja, denn ich hoffe, in Chartum Gelegenheit zu erhalten, sie zu den Dongiol schicken zu können. Ich habe mich ihrer einmal angenommen und will nicht bei dem Anfang stehen bleiben. Einen Schaden werden wir davon nicht haben; ich bin vielmehr überzeugt, daß wir an ihnen während der Fahrt sehr treue und aufmerksame Diener besitzen werden.“

„Das gebe ich zu und werde dafür sorgen, daß es ihnen unterwegs an nichts gebricht. Eigentlich aber bin ich auch noch jetzt der Ansicht, daß es besser gewesen wäre, wenn Sie sich gar nicht mit ihnen eingelassen hätten.“

Er sagte das in einer Weise, welcher ich entnahm, wie ernst gemeint es war. Er war einmal nicht Gegner der Sklaverei; ich konnte das nicht ändern.

Bald darauf kam der Neger, um uns mitzuteilen, daß die Herrin uns erwarte. Draußen stand die schwarze Dienerin, welche ich vom Zahnschmerz be freit hatte. Sie leuchtete uns die schmale Treppe empor und führte uns in ein Zimmer, welches vollständig leer und unmöbliert war. Nur ein kleiner Teppich war in der Mitte ausgebreitet. Nachdem die Dienerin dem Dicken die Lampe übergeben und sich entfernt hatte, trat eine tief verhüllte, weibliche Gestalt ein, Letafa, die Schwester meines Türken. Ihre Erscheinung harmonierte nicht im mindesten mit dem lieblichen Namen, den sie trug. Ich sah einen weißen Kleiderballen, aus welchem unten zwei kleine Pantoffel hervorschauten. Der Knäuel bewegte sich langsam nach der Mitte des Zimmers und ließ sich, ohne einen Laut von sich zu geben, dort auf den Teppich nieder. Dann fuhr unter der dichten Hülle eine Hand nach oben, und da, wo ich der Notwendigkeit nach den Kopf vermutete, wurde der Zipfel eines Tuches ein klein wenig zurückgezogen.

„Jetzt!“ nickte mir Murad Nassyr zu. „Wollen Sie es sich ansehen?“

Er näherte sich der Gestalt, um zu leuchten, wendete aber das Gesicht seitwärts, damit sein Auge nicht auf den Flecken in der Zierde des Hauptes seiner Schwester fallen könne. Ich aber sah mir denselben genau an. Ja, es gab da mitten im starken, dichten Haar eine runde, ganz kahle Stelle, welche durch mikroskopische Pilze entstanden war.

„Werden Sie es heilen können?“ fragte Nassyr.

„Ich hoffe es. Wahrscheinlich wird die Zierde dieses Hauptes schon in einigen Wochen wieder erschienen sein.“

„Allah gebe es! Und ich werde es Ihnen danken. Wie heißt das Mittel, welches man anzuwenden hat?“

„Sie finden es hier in Kairo in jeder Apotheke. Man nennt es da El Milh el hamid, und für einen halben Piaster wird für die ganze Kur ausreichen. Man löst es in einer Flasche voll Wasser auf und betupft damit täglich einmal die kahle Stelle. Das Mittel hat schon vielen geholfen, ist aber bei einem vollständigen Kahlkopfe freilich ohne Wirkung.“

Diese Worte erregten die Freude der Dame in der Weise, daß sie jetzt ihre Stimme vernehmen ließ.

„Meinen Dank; ich danke Ihnen!“ hörte ich sie leise sagen; dann erhob sie sich und verließ mit Bewegungen, welche die Bezeichnung elegant freilich nicht verdienten, das Zimmer.

Der verbeugungssüchtige Haushofmeister erhielt, als wir wieder nach unten kamen, den Befehl, da er nach dem Hafen mußte, das Mittel gleich mitzubringen, und einige Zeit später wurde uns das Abendessen aufgetragen. Es bestand aus einer großen Platte mit einem ellenhohen Berg von fettem Pillaw und aus einer zweiten Platte mit Kebab, an Hölzern gebratenen Fleischstückchen. Ich schätzte diese Bratenstücke auf gewiß sechs Pfund und dachte dabei der orientali schen Sitte, daß die Diener bekommen, was die Herren übrig lassen. Das Ganze sah höchst appetitlich aus und war jedenfalls von den weißen Händchen Letafas, der „Liebenswürdigen“, zubereitet worden. Das erhöhte meinen Appetit; ja, ich hatte beinahe Hunger, da mir vorher nur ein Hühnerbein zu teil geworden war. Man kann sich also denken, daß ich mich gar nicht nötigen ließ. Gabeln gab es nicht und Löffeln noch viel weniger. Wir aßen also orientalisch; das heißt, wir langten mit den Händen in den Haufen, ballten den Reis zu Kugeln und führten diese in den Mund. „Führten“, das kann ich allerdings nur auf mich beziehen, denn der Dicke führte nicht, sondern er warf. So oft er eine Kugel geformt hatte, öffnete er den Mund, warf sie hinein, klappte ihn zu, ein Druck, ein Schluck, und sie war hinunter. Ich war neugierig, zu sehen, daß er das Ziel einmal verfehlen werde, mußte aber einsehen, daß seine Geschicklichkeit eine viel zu große sei; er traf die Oeffnung stets auf das genaueste. Zum öfteren Reinigen der Hände waren an Stelle der Servietten halb aus einander geschnittene Citronen vorhanden. Ich beeilte mich so sehr wie möglich, konnte es aber meinem Partner nicht gleichthun. Wenn ich eine Reiskugel überwältigt hatte, waren bei ihm vier oder fünf verschwunden. Glücklicherweise bin ich kein starker Esser und hatte also bei der Größe des Reisberges die gerechteste Hoffnung, satt zu werden. Eben nahm ich wieder eine halbvolle Hand davon, fühlte aber, daß ich Widerstand fand. Ich zog und zog – – ein, zwei, drei, vier lange, dunkle Frauenhaare aus dem Pillaw. Dabei mochte sich mein Gesicht auch etwas in die Länge ziehen, denn Nassyr wurde aufmerksam und fragte:

„Was ist’s? Haben Sie sich die Lippen verbrannt?“

„Nein. Ich habe eine wichtige Entdeckung gemacht.“

Ich zeigte ihm die Haare hin. Er zog sie mir aus der Hand, betrachtete sie mit freundlicher Hingebung und meinte:

„Was ist’s weiter? Allah läßt beides wachsen, den Reis und auch die Haare. Aus seiner Hand kommt alles.“

„Aber er läßt den Reis zum Essen und das Haar zum Schmucke wachsen! Gedenken Sie der kahlen Stellen vieler Köpfe! Bedeuten dieselben ein Wunder, wenn man das, was auf den Kopf gehört, im Pillaw findet? Soll ich die Haare essen, gegen deren Verschwinden ich El Milh el hamid verordnet habe?“

„Wallah, Tallah! Ich hoffe nicht, daß Sie die Absicht haben, das Haupt meiner Schwester zu beleidigen! Diese Haare waren nicht von ihr, sondern von Fatma, der vorzüglichsten Köchin des ganzen großen Sultanreiches.“

„Wer ist diese Fatma?“

„Die Lieblingsdienerin meiner Schwester. Sie ist Meisterin in allen feinen Speisen, und der Wohlgeschmack ihrer Limonaden kommt demjenigen der Paradiesesquelle gleich. Sie werden während der Reise täglich von ihren Speisen essen und also reichlich Gelegenheit finden, ihre Kunst zu preisen.“

O weh! Von dieser Fatma essen, deren erster Pillaw mich so vollständig um meinen schönen Hunger gebracht hatte. Das war eine Aussicht, für welche ich mich nicht zu begeistern vermochte. Natürlich brachte ich meine Zunge nicht wieder mit diesem Reise in Berührung; ich hielt mich an den Kebab und mußte da aber sehr behend sein, da der Dicke es für eine Ehrenpflicht zu halten schien, mich nicht an einer Magenüberfüllung ersticken zu lassen. War er in anderer Beziehung ebenso auf seinen Vorteil bedacht, so hatte ich es später sicher zu bereuen, ihm meine Zusage zur Mitreise gegeben zu haben. Damit es meinen kleinen Negern nicht ebenso wie mir ergehen möge, warf ich ihnen einige Fleischstücke zu und formte fleißig Reisklöße, welche sie mit großer Geschicklichkeit auffingen und ebenso geschickt sich einverleibten. Wahrhaftig, die Platten wurden leer! Was der Dicke nicht zu bemächtigen vermochte, das verzehrten die Kinder, welche sich seit langer Zeit nicht ordentlich satt gegessen hatten und deren Augen mir aus Dankbarkeit für meine Fürsorge freudig entgegenstrahlten. Ich sah es ihnen an, daß ich ihre vollste Liebe gewonnen hatte. Sie waren des Arabischen zwar noch nicht sehr mächtig, hatten aber von meinem Gespräch mit dem Polizisten genug verstanden, um zu wissen, wie sehr ich mich geweigert hatte, sie ihrem grausamen Herrn zurückbringen zu lassen.

Nach dem Essen hob Nassyr den Zeigefinger, machte zu dieser Pantomime ein sehr geheimnisvolles Gesicht und sagte:

„Jetzt kommt das Allerbeste. So lange ich mich noch in Kahira befinde, werde ich mir diesen Wohlgeschmack so oft wie möglich gönnen, da ich später auf denselben verzichten muß.“

Er klatschte in die Hände, und der Schwarze brachte vier Flaschen Bier, welche der Dicke ohne mein Wissen hatte holen lassen. Nun, wenigstens dieser heimatliche Trank sollte mir nicht zu Wasser werden. Ich goß mir also fleißig in die Schale und war infolgedessen ebenso schnell mit zwei Flaschen fertig wie mein Türke.

Dieser begann jetzt, an das heutige Erscheinen des Gespenstes zu denken, oder vielmehr an dessen Nichterscheinen; denn er war wirklich überzeugt, daß es sich durch die Anwesenheit eines Ungläubigen abschrecken lassen werde. Von ihm um eine Meinung befragt, erklärte ich:

„Auch ich glaube nicht, daß der Geist kommen wird, denn er fürchtet sich vor mir.“

„Fürchten? O nein! Ein Geist kennt keine Furcht. Er wird nicht kommen, weil Sie als Christ ihm für unrein gelten.“

„Dann rate ich ihm freilich, sich nicht an mir zu besudeln, denn ich würde ihn und sein Andenken so verunreinigen, daß sein Name für alle Moslemim zum Gelächter würde. Es könnte ihm niemals einfallen, wiederzukommen.“

„Sie scheinen wirklich keine Angst zu haben?“

„Nein. Ich habe mich schon, als ich ihn zum erstenmale sah, nicht vor ihm gefürchtet.“

„Wie? Sie haben ihn bereits gesehen?“

„Ja. Wenigstens vermute ich es. Entweder er oder sein Obergespenst ist mir schon einmal hier in Kahira erschienen.“

„Allah! Und wann denn?“

„Davon später. Sie würden es mir doch nicht glauben.“

„Ich glaube es sofort. Er ist ja mir auch erschienen. Warum sollten ihn andere nicht ebenso gesehen haben?“

„Andere, ja, aber nicht ich, der ich ein Ungläubiger bin. Sie sind ja der Ansicht, daß er sich von mir fernhalten werde. Ein Ungläubiger bin ich nicht; kein Christ ist ein Giaur, denn unser Gott ist derselbe Gott, welchen Sie Allah nennen. Wir glauben sogar mehr als Sie, denn wir beten in Isa Ben Marryam 16), den Sie nur als Propheten verehren, den Sohn Gottes an. Aber in Beziehung auf Gespenster bin ich der ungläubigste Mensch, den es geben kann. Pflegen Sie des Nachts im Finstern zu schlafen?“

„Nein, sondern gerade des Gespenstes wegen brennen wir alle Licht.“

„Und es kommt dennoch?“

„Es kommt dennoch; es kommt durch die verriegelten Thüren und wandelt durch die erleuchteten Zimmer, an uns vorüber. Es ist grauenhaft! Daß ich noch nicht entflohen bin, mag Ihnen beweisen, daß ich meinen Namen Nassyr, welcher Sieg bedeutet, mit vollem Rechte trage.“

„Auch die Hausthüre ist verriegelt?“

„Natürlich, und zwar mit zwei großen, schweren Riegeln, welche man gar nicht so leicht bewegen kann.“

„Und wo schläft Selim, der tapfere Haushofmeister, welcher es mit allen Helden des Weltalls aufnimmt?“

„Hinter der Hausthüre, wo er sich täglich ein Lager bereitet.“

„Und auch er hat den Geist gesehen?“

„Täglich, alle Abende hat er ihn erblickt. Sie mögen daraus erkennen, daß er wirklich kein furchtsamer Mensch ist. Heute werden wir zum erstenmale der Ruhe pflegen können, welche uns bisher versagt gewesen ist. Ich bin müde und bedarf des Schlafes. Gute Nacht!“

Er gab mir die Hand und ging in seine Wohnung. Ich hörte, daß er die Thüre hinter sich verriegelte. Natürlich glaubte ich ihm sehr gern, daß er der Ruhe bedürfe. Starke Esser pflegen nach der Mahlzeit ermüdet zu sein. Aber daß ihn das Gespenst heute nicht stören werde, darüber war ich anderer Ueberzeugung. Ich hätte darauf schwören mögen, daß gerade heute der Geist kommen werde, wenn auch nicht mir zuliebe, aber doch gerade meinetwegen.

Es mochte nach unserer Zeit gegen elf Uhr sein, und ich hielt es für geraten, meine Vorbereitungen zu treffen, welche höchst einfach waren. Zunächst hatte ich die Kinder in Schlaf zu bringen. Sie mußten sich in eine Ecke auf das Polster legen, und ich deckte sie mit meinem Mantel, den Selim aus dem Hotel mitgebracht hatte, so zu, daß ihre Gesichter unter demselben steckten; sie sollten das Gespenst nicht sehen. Dann trat ich leise hinaus in den Säulengang, um nach der nächtlichen Beleuchtung zu sehen. Es gab keinen Mondschein; aber die Sterne schimmerten so hell hernieder, daß man wenigstens zehn Schritte weit zu sehen vermochte.

Zur Hausthüre kam das Gespenst nicht herein; das war gewiß, weil dieselbe mit Riegeln verschlossen war, und weil Selim dort lag. Ich war überzeugt, daß dieser Schlingel sich gerade denjenigen Ort, an welchem sich die Erscheinung nicht sehen ließ, zur Ruhestätte erwählt hatte. Der Geist stieg unbedingt über die Gartenmauer, in welcher es die schon erwähnten Breschen gab. Dort konnte man ihn kommen sehen. Trotzdem zog ich es vor, mich nicht in dem Garten zu postieren, denn vielleicht befand der Geist sich schon draußen, hätte mich bemerkt und auf seinen heutigen Rundgang verzichtet. Nun ging ich nach dem Hausflur, um nach Selim zu sehen. Er war noch nicht da, kam aber soeben die Treppe herab, mit einer kleinen Lampe in der Hand, welche ihn und die Umgebung matt beleuchtete. Alle Wetter, hatte dieser Held sich für die Geistererscheinung vorgesehen! Von jeder Schulter hing ihm eine Flinte herab; an der linken Seite schleppte ein mächtiger Sarras neben ihm her; sein langes, weißes Gewand war mit einem Tuche umgürtet, aus welchem die Griffe von einigen Messern und Pistolen blickten; in der Linken trug er die Lampe und in der Rechten ein starkes Holz, welches jedenfalls die Stelle einer Keule vertreten sollte. Als er mich erblickte, fuhr er vor Schreck so zusammen, daß ihm die Lampe entfallen wäre, wenn ich sie nicht ergriffen und festgehalten hätte.

„Laß mich in Ruh’, laß mich in Ruh’, o böser Geist, o Teufel!“ rief er, indem die Keule seiner Hand entglitt.

„Schrei’ nicht so, Selim!“ antwortete ich. „Ich glaube gar, du hältst mich für den Geist!“




16) Jesus, Sohn Mariens.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Lande des Mahdi 1. Band