Im Kampf mit den Flammen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: P. Richards, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hausbrand, Feuer, Feuerwehr, Vergnügungspark, Vergnügen, Unfall, Großfeuer, Anziehungskraft, Sensationslust
Volk hat seine eigene Art, sich zu vergnügen, und nichts spiegelt die Volksseele deutlicher wider als die Art der Vergnügungen, in denen die große Masse sich glücklich fühlt. Der Amerikaner verlangt auch vom Vergnügen den Lärm und den Nervenreiz, die ihm zum Bedürfnis geworden sind. Deshalb übt Coney Island, der gigantisch angelegte Vergnügungspark an der See, dicht bei New York, solch eine gewaltige Anziehungskraft auf ihn aus. Viel Menschliches ist dort zu studieren, viel Stoff zum Problem Amerika zu finden. Wer offene Augen hat, kann da draußen eine solche Fülle buntwechselnder Menschlichkeit beisammen sehen wie sonst vielleicht nirgends wieder auf gleichem Raum. Und wenn er die Schaulustigen beobachtet und belauscht, kommt er erst recht auf seine Kosten.

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Dies trieb auch mich immer wieder hinaus nach diesem Eldorado des Vergnügens, insbesondere nach „Traumland“, der Märchenstadt, wo das riesige Wahrzeichen Coney Islands, der magisch erleuchtete Turm, trotzig herabblickt auf die wimmelnde, gewaltige Menschenmasse, und wo ein stolzer Vergnügungspalast sich an den anderen reiht und ihn an neuartigen Aufregungen zu überbieten sucht.

Unaufhörlich wälzte sich die ungeheure Menge durch den breiten Eingang. Männlein und Weiblein kreisten kreischend und lachend in den Riesenkarussellen, Berg-und-Tal-Bahnen und Schaukelrädern umher, Musik schmetterte, und auf der Brücke, unter der die Boote der steilen Rutschbahn herabsausten ins schäumende Wasser, herrschte lebensgefährliches Gedränge.

Ich schlenderte langsam die endlose Straße der Vergnügungen entlang und sandte kritische Blicke umher, welcher der mannigfachen Volksbelustigungen ich mich zuerst zuwenden sollte. Da fiel mein Auge auf einen in klassischem Stil gebauten stolzen Palast, zu dem Granitstufen emporführten wie zum Parthenon und vor dem das Gewühl immer dichter wurde.

„Fighting the flames“, im Kampf mit den Flammen, las ich und hörte, dass der heisere Ausrufer den Beginn der Vorstellung verkündete, während launige und aufmunternde Weisen zu mir herausdrangen. Das entschied. Ich nahm mir an der Kasse einen guten Platz und ließ mich von der drängenden und stoßenden Menschenmenge in den Riesenraum schieben. Kopf an Kopf saßen die erwartungsvollen Zuschauer. Die Musik spielte, dann hob sich der Vorhang. Die Aufmerksamkeit des Publikums wurde durch einen umfangreichen quadratischen Platz gefesselt, der auf drei Seiten von nüchternen Mietskasernen der schmucklosesten Art umgeben war.

„Chatham Square“ las ich im Programm. Diese Gegend, die von unzähligen Neuyorkern nie betreten wird, ist eine Welt für sich, zwischen lärmenden Straßen gelegen — ein Viertel der Armut und des Lasters. Nüchtern reiht sich Miethaus an Miethaus; kalt sind ihre Fassaden, eintönig dehnen sich ihre nackten Fronten. Ein Laternenanzünder ging von einem Laternenpfahl zum anderen, überall hinterließ er ein Licht, das wie ein trübes Auge durch die Dämmerung blinkte, ohne zu leuchten. Die Häuser atmeten Frieden und Ruhe; nur ein riesiger Polizist schritt langsam auf und ab, und aus der Ferne ertönte das Geschrei eines Zeitungsjungen.

Ein unnatürlich gelber Mond ging auf, ein Mond, der kein Licht warf, sondern dort oben am Himmel hing wie ein Ballon, den Kinder fliegen ließen. Plötzlich öffnete sich eine Haustür.

Einige Männer in Hemdärmeln traten heraus, charakteristische Typen; ein paar Frauen folgten ihnen, mit abgetragenen Umschlagtüchern um die Schultern und Filzpantoffeln an den Füßen. Dann „N-Wort“, Mädchen und barfüßige Kinder. Gruppen fanden sich zusammen. Überall lagen Papiere umher, Fetzen von Zeitungen und zertretene Orangen- und Bananenschalen.

Jetzt ließ ein Stiefelwichser sein gellendes „Blank, blank!“ erschallen. Dann ein kreischender Lumpenhändler, heiser vom langen Missbrauch seiner Stimme. Und viele andere Neuyorker Straßentypen zogen an uns vorüber, den Armenvierteln entsprossen und mit ihnen auf das engste verwachsen; jene Typen, welche noch heute für den Stadtteil so charakteristisch sind und seinem öffentlichen Leben ein gut Teil Originalität verleihen.

Da waren Obstverkäufer, und die Limonadekarren der Italiener und Zigarrenhändler machten den Platz unsicher. An den Straßenecken lungerten Bummler und Zeitungsjungen und spielten und lärmten die Kinder. Alte Männer mit gewaltigen Plakaten, auf hohen Stangen angebracht, drängten ich durch die Menge. Das Stimmengewirr wurde immer lauter.

Dann erschien ein Drehorgelmann auf dem Plan und lockte die Kinder zum Tanze, und bei den ersten Tönen bevölkerten sich alle Fenster. An einem der höchstgelegenen erschien eine Frau mit einem Säugling. Sie neigte sich über das Kind, das sie im Arme hielt und schaukelte den kleinen Körper sacht im Takt. Bald darauf hörte man Violinen und Klarinetten tönen. Straßenmusikanten gaben ihre schmelzendsten Weisen zum Besten.

So reihte sich Bild an Bild, bis die Nacht sich auf den stillen Großstadtwinkel herabsenkte. Die Lichter verlöschten, ein Geräusch nach dem andern erstarb, nur der eintönige Schritt des Polizisten war noch zu hören.

Doch plötzlich, was war das? Dort oben auf dem gegenüberliegenden Dache schlängelte sich ein dünner, spielender Rauchschleier.

Feuer! – Feuer!

Und es brannte in der Tat. Bald stieg ein schwerer Qualm gen Himmel und eine spitze Flamme schoss hervor.

An allen Ecken wurde es mit einem Male lebendig. Verwirrung und Entsetzen griffen um sich. Aus den Häusern sprangen Menschen in allen möglichen und unmöglichen Bekleidungen mit gellenden Angstrufen durch Rauch und Flammen auf die Straße. Bald hier, bald dort bahnten sich die Flammen ihren Weg ins Freie. Das mit Teer und Firnis getränkte Holz bot dem vernichtenden Element selbstverständlich empfängliche Nahrung. Bald schlugen die Flammen auch aus den Fenstern heraus und ergriffen rasch die ganzen Gebäude. Polizisten rannten heran und Pfeifensignale ertönten. Irgendwo hinter den Mauern schoss eine Glutwelle hervor, ungeheure Rauchwolken mit sich schleppend, weithin leuchtend, alles überstrahlend.

„Hilfe, Hilfe!“ schallte es gellend durch den Qualm.

Da kam Hilfe! Die Feuerwehr rückte an. Man hörte das Heulen der Dampfspritzensirene und das Sturmläuten der anderen Feuerwagen. Ein vollständiger Löschzug kam daher gerast, bestehend aus Dampfspritzen, Schlauchwagen und Feuerleitern. Mit Blitzesschnelle waren Leitern angelegt, auf denen die mutigen Bekämpfer der Flammen unbekümmert um den Qualm in die Höhe klommen. Um neue Kunststückchen zu zeigen, wurden die tollsten Gefahren gewagt. Auf den Dächern der benachbarten Häuser hoben sich scharf von den wehenden Rauchwolken die Figuren mehrerer Feuerwehrleute ab, die von hier aus die Wasserstrahlen in den Brandherd sandten, aus dem immer stärker der weiße Dampf emporquoll.

Da versuchte plötzlich ein höchst sonderbar gekleideter Feuerwehrmann mit erstaunlicher Unsicherheit eine Leiter zu besteigen, er trug anscheinend durch seine verblüffende Komik dem Geschmack des Publikums Rechnung, denn trotz des schauerlichen Bildes, das sich den Blicken bot, vergnügte es sich königlich.

Der Vagabund hatte riesengroße Schuhe, die den Namen „Quadratlatschen“ wirklich verdienten, denn auf einer Sprosse fanden beide Füße gleichzeitig kaum Platz, und als die Zuschauermasse in dem komischen Feuerwehrmann den beliebten Clown Bib erkannte, entfesselte dieser mit seinen Grimassen und unglaublichen Körperverdrehungen donnernde Beifallsstürme.

Inzwischen prasselten die Flammen und zischten gewaltig, immer neue Ströme Wasser wurden ihnen entgegengeschleudert, und die Menge folgte dem gefährlichen Schauspiel wieder mit lebhafter Teilnahme. Da — ein Krachen und Poltern, eine wirbelnde, zum Himmel aufsteigende Flammengarbe inmitten schwererer, dunkler Rauchstöße: das Feuer hatte das oberste Stockwerk erreicht und das Dach durchbrochen. Die innere Verbindung war durch furchtbaren Qualm aufgehoben worden; an den Fenstern des höchsten Stockwerks zeigten sich hilfesuchende Menschen; eine Frau mit schreck verzerrten Gebärden, der die Furcht anscheinend jeden Laut benommen hatte, hielt, den Oberkörper weit über das Fensterbrett gelehnt, ihr Kind hinaus, als ob sie mit ihm auf das Pflaster stürzen wolle. Doch den Bedrängten war die Rettung nahe — die Rettung, die den Höhepunkt des Programms bildete — inmitten der Wut hochzüngelnder Flammen und schwelenden Rauches! Ein Feuerwehrmann drang, wie eine Katze emporkletternd, geduckt in Glut und Qualm vor. Zuerst setzte er die Leiter an die Wand und kletterte ins erste Fenster. Dort setzte er sich auf die Fensterbrüstung, zog die Leiter nach und hakte sie dann in das zweite Stockwerk ein, und so ging's weiter bis nach oben. Dann schwang er sich über das Dach, wurde für Augenblicke vom fabelhaften Flammenschein umfangen und tauchte in dem Feuermeer unter.

Eine endlose Pause. Der Zuschauer bemächtigte sich wachsende Aufregung. Da - er war oben an der bedrohten Stelle angelangt und hielt etwas hoch in den Armen. Man sah, wie er die vor Entsetzen fast besinnungslose Frau zurückzog, dann, wie er ein Rettungsseil befestigte und sie daran herunterließ. Hierauf folgte er, einen Arm um das Kind geschlungen. Ein lautes Jubeln, ein donnerndes Hoch! Inmitten eines sprühenden Funkenregens hatte auch er den Erdboden erreicht. Plötzlich tauchten sie auf, die Kleider versengt, schwarz von Rauch und Asche, die gerettete Frau krampfhaft ihr Kind an die Brust gedrückt. Der Beifall wollte kein Ende nehmen ....

Mittlerweile breitete sich das Feuer mit rasender Schnelle aus. Die Flammen schlängelten sich mit erneuter Gewalt zwischen dem Holzwerk des obersten Stockwerkes durch, die Feuerssäule spaltete das Dach und stieg wie eine ungeheure Fackel zum Himmel empor. Da tauchten auf der Umfassungsmauer des Daches einige dunkle Männergestalten auf, die kläglich um Hilfe schrien. Alle Bemühungen, sie mittels der Rettungsleitern zu erreichen, erwiesen sich als fruchtlos. Flugs wurde das große Sprungtuch ausgebreitet, gehalten von zwanzig und mehr Feuerwehrleuten, deren Blicke nach oben gerichtet waren, um, wenn nötig, im letzten Augenblick noch die Richtung des Tuches zu verändern. Tiefe Stille war plötzlich eingetreten, die Zuschauermenge verstummte. Durch ermutigende Zurufe wurden die in äußerster Gefahr befindlichen Menschen zu dem verwegenen Sprunge veranlasst. Fester fassten die Fäuste das Tuch, auf dem gleich darauf die Gestalt eines Mannes aufprallte, die noch zweimal emporgeschleudert, dann aber von eifrigen Händen gefasst und auf den Erdboden gestellt wurde. Ein Aufatmen im Zuschauerraum, dem nach einer kleinen Pause ein donnernder Beifallsturm folgte. Zwei andere Männer unternahmen dicht hintereinander den Sprung und landeten glücklich.

Und wieder begann die Musik, die für einen Augenblick ausgesetzt hatte, ihre lustigen Weisen. Noch einige kühne Springer folgten, die sich in ihren gefährlichen Vorführungen zu überbieten suchten, indem sie dabei einen Saltomortale um den andern drehten.

Nun waren fast alle heruntergesprungen, nur einer stand noch oben am obersten Fenster und rührte sich nicht vom Fleck, unbekümmert um die Flammen, die nicht nur neben, sondern auch unter ihm aufloderten.

„Spring ab!“ riefen einige Männer von unten und wiesen auf das Sprungtuch als die letzte Rettungsmöglichkeit.

Doch alles Rufen nützte nichts.

Er hielt sich an der Fensterbrüstung fest und strampelte mit den Beinen, als wenn er aufgehängt wäre.

Erst jetzt erkannten ihn die gespannten Zuschauer und bejubelten das tollkühne Stück. „Hurra, Bib!“ ertönte es von allen Seiten, als der Groteskkomiker sich mit den Knien an das Fensterkreuz festklammerte, Kopf und Körper nach unten hängen ließ und sich in dieser lebensgefährlichen Stellung die stürmisch jubelnde Menge von oben betrachtete.

Da erschallte ein krampfhafter Ruf, aufpeitschend und warnend zugleich. Aller Augen hefteten sich in angstvoller Spannung an das Fenster, das plötzlich völlig vom Rauch eingehüllt war. Als dieser sich wieder verzogen hatte, verstummte die Musik, ein Ruck ging durch das Publikum — Bib war gesprungen.

Den Kopf nach abwärts sauste er herab, der lange Körper, der für Augenblicke die Arme ausbreitete, schwebte wie ein Kreuz in der Luft.

Glücklich erreichte er das Sprungtuch und schnellte wieder empor — einmal; zweimal — dann fiel er hintenüber auf das Pflaster. Es klang seltsam hart, als er auffiel, wie Stein auf Stein. Etwas Entsetzliches musste geschehen sein, fühlte ich.

Eine tiefe Bestürzung war in allen Gesichtern. Ein angstvolles Fragen und Forschen: „Ist er gestürzt?“

Bib aber wälzte sich an der Erde, trieb allerlei Unsinn, schnitt Grimassen von unwiderstehlicher Komik und entfesselte wahre Heiterkeitssalven: der Schrecken war verflogen, die Stimmung wieder da. Und die Masse wandte ihre ganze Aufmerksamkeit erneut dem Feuer zu.

Dicker Qualm wälzte sich durch die Sitzreihen und setzte sich beizend in die Augen. Man hörte jetzt nur noch die Holzwände krachen und die Balken zusammenstürzen. Plötzlich sank das ganze Dach in sich zusammen, und auf dem glühenden Gebälk sprühte inmitten einer dichten Rauchwolke ein Meer von Funken empor. Die Vorstellung neigte sich ihrem Ende entgegen. Der Brand erlosch. Die Feuerwehr fuhr davon. Die zahllosen Zuschauer warfen noch einen letzten Blick auf den rauchenden Trümmerhaufen — ein letztes Händeklatschen, dann ertönte gellend die zum Aufbruch mahnende Glocke, und alles strömte den Ausgängen zu.

Meine Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch einen Menschenauflauf, der sich vor der Tür gebildet hatte, in Anspruch genommen.

Ich trat näher, und einige der Umstehenden blickten mit gleichgültigen Gesichtern auf.

Unter einer Decke lag Bib leblos hingestreckt — ich erkannte sofort das bekleckste Gesicht des armen Clown, dessen verglaste Augen trüb in den dunkeln Nachthimmel starrten. So hatten meine Ahnungen sich doch als richtig erwiesen. Bald darauf wurde der Verunglückte zur Leichenhalle übergeführt. Und die große Festrauschstimmung Coney Islands schlug ihre Wellen brausend darüber hinweg.

Der Spaß war aus, die Menschenleben sind hier so billig. —

Ein zum Vergnügen der Zuschauer in Brand gestecktes Wohnhaus in Coney Island, dem Vergnügungspark New Yorks

Ein zum Vergnügen der Zuschauer in Brand gestecktes Wohnhaus in Coney Island, dem Vergnügungspark New Yorks

Ein zum Vergnügen der Zuschauer in Brand gestecktes Wohnhaus in Coney Island, dem Vergnügungspark New Yorks