Der rätselhafte Strom.

Am 13. März begann der ungemütliche Marsch durch die Grenzwildnis, die uns von dem Mohammed befreundeten Land der Mangbattu trennte. Bald bot die Gegend ein ganz anderes Aussehen dar als das bisher durchzogene, wasser- und waldreiche Land. Die sich unregelmäßig durch die Steppenfläche hinschlängelnden Sumpf- und Wiesengewässer waren ohne Uferwaldung und nur von ingwerartigen Staudendickichten umsäumt. Die Gewässer mußten an Stellen durchwatet werden, die von wilden Büffelherden tief ausgetreten und zerstampft waren. Der schwarze Schlamm reichte oft bis an den Hals, während unter den Füßen der Grund ins Bodenlose zu weichen schien. Zu allem Überfluß gebot ein Unwetter Halt. Das Menschengetümmel, die allgemeine grenzenlose Verwirrung dazu, die zuckenden Blitze eines großartigen Tropengewitters hätten den schönsten Vorwurf zu einem Gemälde der Sintflut abgeben können. In der Morgendämmerung wurde nach verkürzter Nachtruhe mit leerem Magen das Schlammbad fortgesetzt. Schwimmkundige Bongo mußten eine gegen das gänzliche Versinken schützende Decke über die tiefsten Sumpfstellen legen, indem sie große Grasmassen und ausgeraufte Stauden ins Wasser warfen. Später führte wieder der Weg durch Buschwald und Galeriewälder, wie die hochstämmigen Uferwälder dieser Gebiete nach ihrer Erscheinung genannt werden. Es sind Laubengänge großen Stils, die von hier an nach Süden in noch großartigerer Gestaltung auftreten. Unter großer Mühe wurde der Grenzbach überschritten, und endlich winkten aus tiefstem Grün die idyllischen Behausungen der Mangbattu gastlich entgegen. Der Empfang bei den Häuptlingen war freundlich. Eine große Schießerei, die mich zunächst in lebhafte Unruhe versetzte, stellte sich als harmlose Begrüßung der Karawane einer andern Elfenbeingesellschaft heraus, die von Tuhami, dem Oberschreiber des Generalgouverneurs in Chartum, gegründet worden war.

Am 19. März hatten wir mein heißersehntes Ziel, den Uellestrom, erreicht, der seine trüben, bräunlich schimmernden Fluten zwischen hohen Uferwänden majestätisch gen Westen wälzte. Dies war also der rätselhafte Fluß, auf den ich infolge der Erzählungen der Nubier bereits seit dem Aufbruch von Chartum aufs höchste gespannt war. Wer eine Ahnung hat von der unklaren Darstellungsweise der arabisch sprechenden Völker, wenn es sich um Stromläufe und Stromrichtungen handelt, der wird die Spannung begreifen, mit der ich einen Durchblick nach dem großen Wasser zu gewinnen suchte. Auf dem nächsten Weg brach ich mir durch das Ufergebüsch Bahn nach dem mächtigen Strom. Sein Rauschen, das durch die Felsbänke in seinem Bett verursacht wurde, war bereits eine Zeitlang zu meinen Ohren gedrungen. Floß das Wasser nach Osten, so war das Rätsel der Wasserfülle des Mwutan, des 1864 von Baker entdeckten Albertsees, eines der Quellbecken des Nil, gelöst. Floß es aber nach Westen, dann konnte es nicht mehr zum Nilsystem gehören. Es strömte nach Westen, das große Wasser, und es gehörte darum nicht mehr zum Nil! Der neuentdeckte Strom war hier 400 Kilometer von der Nordostecke des Mwutan entfernt, und bei all den vielen Stromschnellen, die er bereits hinter sich gelassen, immer noch in einer Meereshöhe gleich der des Sees oder sie übertreffend.


In den beiden ersten Ausgaben von »Im Herzen von Afrika« ist die Zugehörigkeit des Uelle zum Nilsystem entschieden abgelehnt worden, seine Zugehörigkeit zum System des Kongo war damals nicht nachzuweisen gewesen. Ich hielt den Uelle für den Oberlauf des in das Binnengewässer des Tschadsees mündenden Schari, erwog auch die Möglichkeit, daß er zu dem durch den Niger in den Atlantischen Ozean entwässernden Benue gehören könnte. Das Hauptverdienst um die endgültige Lösung des Uelleproblems gebührt Dr. Wilhelm Junker, der zehn Jahre nach mir den ostwestlichen Lauf des Stromes auf eine Strecke von nahezu 540 Kilometer festzulegen vermochte. Der Anschluß der weit ausholenden Entdeckungen Junkers an diejenigen, die sich in der entgegengesetzten Richtung vom Kongo her stromaufwärts vollzogen, wurde zunächst durch die Entdeckung und Befahrung seines größten Nebenflusses, des Ubangi, durch den Amerikaner Grenfell ermöglicht. Dann kam der Belgier Van Gèle, der den Makua genannten Oberlauf 1888 weiter verfolgte und im Juli 1890 bis Bangasso vordrang. Dieser Ort ist nur 26 Kilometer von Junkers westlichstem Punkt entfernt. Gleichfalls im Jahre 1890 gelangte Becker über Land reisend vom Aruwimi her an den Makua-Uelle.

Der Uelle erinnert an meiner Übergangsstelle auffallend an den Blauen Nil bei Chartum. Er hatte hier eine Breite von 250 Metern. Die Wassertiefe betrug nirgends unter vier Meter; die Uferwände überragten um sieben Meter die Wasserfläche.

Ein Überschwemmungsgebiet fehlte hier wie an den weiter oberhalb überschritten Teilen des dort Kibali genannten Hauptflusses, und das Land senkte sich gegen 35 Meter in ziemlich steiler Neigung zum waldumgürteten eigentlichen Flußufer hinab.

Die Stromgeschwindigkeit betrug am nördlichen Ufer zwischen 17 und 19 Meter in der Minute. Die in der Sekunde fortbewegte Wassermasse mochte jetzt über 300 Kubikmeter betragen; bei ihrem höchsten Stand mußte sie, wenn die Geschwindigkeit dieselbe blieb, fast das Dreifache sein. Der Uelle entsteht kurz oberhalb dieser Stelle aus der Vereinigung des Gadda und des Kibali.

Die Übergangsstelle des 19. März lag nach der an Ort und Stelle flüchtig ausgerechneten Ablesung meiner Aneroide in 700 Meter Meereshöhe. Der Uelle hatte alle Merkmale eines Gebirgsflusses, wenigstens eines solchen, dessen Quellen sich in nicht zu großer Entfernung von unserm Übergangspunkt befinden konnten.

Es war nicht leicht, die Karawane über den großen Fluß zu schaffen. Diese Arbeit wurde aber durch die von Munsa, dem »König« der Mangbattu, uns gestellten Fährleute so rasch gefördert, daß in drei Stunden der letzte Mann auf das südliche Ufer übergesetzt war. Dies geschah in großen Booten, die aus einem Baumstamm gehauen waren und alles bisher Gesehene an Festigkeit und Formvollendung übertrafen. Einige von ihnen hatten bei zehn Meter Länge eineindrittel Meter Breite, Infolge ihrer Größe war beim Einsteigen nicht das geringste Schwanken zu bemerken. An beiden Enden liefen die Boote in lange horizontale Schnäbel aus, und die Bordränder waren mit Schnitzwerk verziert.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Herzen von Afrika