Jack -3-



Wenige Minuten später hatten die Eingeborenen das Plateau wieder erreicht. Ihr leises und vorsichtig ausgestoßenes „Ku-ih“ rief in der nächsten Sekunde die anderen herbei, die noch immer scheu zur Hütte hinübersahen. Die Furcht vor den Weißen und ihren Waffen verließ sie keinen Augenblick. Aber es bohrte ein anderes Gefühl in ihnen, noch mächtiger als die Furcht: der Hunger.


Wo Weiße lagerten oder ihre Wohnung hatten, da bewahrten sie auch immer Lebensmittel auf, die sie auf schlaue Weise mit Karren und Pferden heranbrachten. Das Haus hier barg vielleicht einen Vorrat, die Eigentümer waren fern, sollten sie die verführerische Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?

Der junge Mann mit dem alten abgetragenen Frack war der erste, der einen Eingriff in das Recht der Fremden beging. Kaum hatte er von den Spähern gehört, wohin die Spuren führten, und sich selbst überzeugt, daß die Hütte leer war, als er auch schon den Pflock aus der Tür zog und seinen Kopf hineinsteckte. Einer der anderen wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber das ließ er nicht zu. Mit dem Arm und dem Fuß schob er ihn zurück und glitt wie eine Schlange pfeilschnell auf den Feuerplatz zu. Die Asche durchwühlte er mit beiden Armen, ehe ihm die anderen zuvorkommen konnten.

Diese schlauen Burschen wissen immer ganz genau, wo die Ansiedler ihre Lebensmittel aufbewahren oder verstecken, und selten kann etwas vor ihnen geheim gehalten werden. Die warme Asche des Feuers war außerdem der übliche Aufbewahrungsplatz für das Brot. Während der mit dem Frack mit graubestäubten Ärmeln triumphierend ein frisches Brot hervorholte, hatten die beiden anderen die von Holleck übriggelassene Hälfte des anderen entdeckt und rasch für gute Beute erklärt. Weiter sahen sie sich in dem Haus nicht um. Das sonstige Eigentum der Weißen konnten sie nicht gebrauchen. Außerdem bestand immer die Gefahr der Entdeckung bei ihnen, denn wo hätten sie es verstecken sollen?

Die Frauen und Mädchen hatten inzwischen das offene Plateau noch gar nicht betreten, sondern am Rande der Lichtung gewartet. Bei dem geringsten Geräusch, beim Schrei eines Kakadus oder dem leisen Flattern einer wilden Taube fürchteten sie schon für das Leben ihrer Freunde. Jetzt kamen sie zurück. Rasch wurden die beiden Brote verteilt und in die verschiedenen Netze geworfen, um am nächsten Lagerplatz in aller Ruhe und Sicherheit mit etwas Wattelharz und einigen gerösteten Engerlingen verzehrt zu werden.

Nur die alte Frau in Kleid und Hut konnte ihre Gier nicht bezähmen und verschlang mehr, als sie aß, ihr Teil gleich auf der Stelle und bettelte dann noch ihrem Sohn im Frack etwas von seinem ab.

Einer der jungen Männer hatte aus der Hütte auch noch einen Feuerbrand mitgebracht, den er in der Luft schwang, um die Glut zu erhalten. Damit zog sich der Trupp wieder den Hang hinunter zu einer Stelle, wo er eine kaum bemerkbare Abflachung zeigte, deren Ausläufer bis zum Wasser des Turon reichten. Hätte man eine Bahn durch den Wald gehauen, so könnte wohl ein beladener Wagen bis zur Hütte hinauf fahren.

Die Eingeborenen gingen aber nicht weit. Sie hatten das Plateau kaum zehn Minuten verlassen, als die alte Frau plötzlich über Unwohlsein klagte, am Boden niederkauerte und sich krümmte und winselte. Der Sohn wollte sie aufnehmen und eine Strecke tragen, denn die beraubte Hütte schien ihnen hier noch zu nah, aber die geringste Bewegung verursachte ihr furchtbare Schmerzen. Eine halbe Stunde verging, und während die anderen sie in scheuer Furcht umstanden, weil sie in jeder Krankheit den bösen Zauber eines Feindes sehen, wand sich das arme unglückliche Geschöpf in dem dürren Laub. Sie riß sich ihren unheimlich aussehenden Kleiderputz vom Leib und stöhnte, ächzte und schrie, daß es einen Stein hätte erbarmen mögen.

Das war der starke Zauber des Weißen, dem sie das Brot gestohlen hatten. Eingeschüchtert von der Wirksamkeit rissen es die Frauen aus ihren Netzen und warfen es von sich. Auch die Männer schlossen sich ihnen an, während ihre Hunde gierig darüber herfielen. Aber der Fluch wich nicht von der Unglücklichen. Immer kläglicher wurde ihr Stöhnen, das zuletzt in ein lautes Kreischen und Heulen ausbrach. Die unglücklichen Menschen, die sie umstanden, konnten nichts für sie tun - noch nicht einmal ein Gebet hatten sie für sie. Sie kannten ja keinen Gott und fürchteten nur die bösen Wesen und Ungeheuer, die in der Sandwüste im Landesinneren hausen und denjenigen mit ihrem giftigen Atem anblasen, auf der der Zauber gelenkt worden ist.

Es war eine entsetzliche Szene: die jammernde Frau auf dem Boden, mit Fetzen des europäischen Kleides behangen, zwischen denen die abgemagerten schwarzen Glieder sich wanden und reckten. Darum die scheuen Eingeborenen, die in den Schmerzen der Gefährtin die Gewalt des bösen Geistes sahen. Von Furcht und Mitleid waren sie an den Platz gefesselt, wagten nicht zu fliehen.

Nur einer trat nicht von ihr zurück, sondern kniete neben ihr, weinte und klagte mit ihr, raufte sich das Haar, wand sich auf dem Boden und stöhnte und wimmerte, als ob in seinen eigenen Eingeweiden das Gift wühlte, das die Mutter erfaßt hatte. Es war der Sohn, der arme Teufel in seiner lächerlichen europäischen Kleidung, in der ganzen Wildheit seines Schmerzes, seiner Verzweiflung.

Aber die Furcht der Eingeborenen wurde noch erhöht und steigerte ihre Überzeugung, daß sie es hier mit einem der gräßlichen überirdischen Wesen zu tun hatten, fast zur Gewißheit. Die mageren Hunde hatten die weggeworfenen Brotstücke kaum aufgefangen und verschlungen, sich noch darum gebissen, denn so viel Nahrung hatten sie schon lange nicht mehr, da krümmten sich schon drei von ihnen ebenfalls auf dem Boden. Sie bekamen Krämpfe, während ihnen der weiße Schaum vor dem Rachen stand, knirschten mit den Fängen und verendeten zuletzt röchelnd zwischen den von ihrem Schaum und Blut bedeckten Steinen.

Da flohen die Frauen kreischend und heulend in den Wald. Wohin, wußten sie selbst nicht. Sie wollten nur so schnell wie möglich fort von diesem furchtbaren Schauplatz. Die Männer griffen den Feuerbrand wieder auf und folgten ihnen. Nur der Sohn blieb bei dem zuckenden Körper zurück. Ratlos dachte er an Rettung und versuchte alle seine einfachen und nutzlosen Gegenzauber, um den mächtigen Teufel zu bannen, der ihren Körper befallen hatte.

Plötzlich zuckte ein verzweifelter Gedanke durch sein Hirn. Noch war Rettung möglich. Die Weißen, die da oben wohnten und den Zauber vollbracht hatten, konnten helfen, wenn sie die Formel aussprachen, die der Mutter das Leben wiedergab. Und wenn sie ihn dann wegen des gestohlenen Brotes bestraften, was machte das? Er wollte es gern ertragen, wenn er nur die Mutter vom Teufel retten und von ihrer Qual befreien konnte.

Der Abend dämmerte, die Sonne war hinter den letzten lichtblauen Bergen eben versunken. Die ausgezackten Konturen verzierte sie mit einem goldenen Band, und schon senkte sich in die Täler der violette Dunst, der in diesem Weltteil unmittelbar der Nacht vorausgeht. Jetzt war es auch noch möglich, die Fremden da oben zu finden, denn vor Einbruch der Nacht kehrte jeder zu seiner Hütte zurück. Mit dem Gedanken an Rettung griff der junge Mann den leichten, zuckenden Körper auf und trug ihn fast laufend den Berg hinauf auf das Plateau.

Jack war inzwischen zurückgekehrt, allerdings ohne seinen neuen Freund, den er bei einem der Kameraden für die Nacht sicher untergebracht hatte. Als er aber die Hütte betrat und den neuen Raub seines Brotes entdeckte, stieß er nicht wieder Flüche und Verwünschungen aus, sondern schlug sich jubelnd in die Hände.

„Brav gemacht, Kanaillen! Richtig die Zeit abgepaßt und die Lockspeise mitgenommen, wie ein alberner Dingo gleich zum erstenmal in die Falle geht. Hoffe, die Portion bekommt euch, und wer sie genommen hat, wird mir die Ehre seines Besuches wohl nicht noch einmal schenken.“

Er untersuchte noch die zurückgelassenen Spuren in der Asche, als er draußen einen merkwürdigen Laut und Aufschrei hörte. Er sprang auf, riß den Revolver heraus und stand an der Tür. Jack war nicht der Mann, der sich wehrlos in seiner Hütte überraschen ließ. Erstaunt blieb er aber an der Tür stehen, als er die beiden unheimlichen Gestalten im Zwielicht des dämmernden Abends vor sich erblickte. Der junge Eingeborene hatte ihn kaum entdeckt, als er auch heulend auf ihn zustürzte, die Sterbende zu seinen Füßen ablegte und mit flehender Stimme in etwas gebrochenem, aber verständlichem Englisch bat, daß er den Zauber von ihr nehmen möge, den er auf sie geworfen habe.

„Aha!“ schrie Jack triumphierend. „Bist du eine von den schwarzen Kanaillen, die hier mein Haus umschleichen und mein Brot stehen? Hat das alte Scheusal davon geschluckt? Wohl bekomm’s! Du Halunke hättest verdient, daß ich dir als Belohnung noch eine Kugel durch den Dickkopf jage. Aber dann muß ich dich und die da auch aus dem Weg schaffen, damit ihr mir hier nicht die Luft verpestet. Und das wäre zuviel der Mühe. Also, weg mit dir, schlepp das Aas in den Busch, damit es mir nicht mehr vor die Augen kommt. Verstanden? Oder soll ich dir mit der Waffe Beine machen?“

Der junge Mann verstand nur die Hälfte der zornig und höhnisch herausgestoßenen Worte. Aber er verstand wohl, daß der Sinn nicht freundlich war, daß der weiße Mann ihn wegjagen und der Mutter nicht helfen wollte. Der furchtbare Feind ihres Stammes sollte weiterhin seine Macht über sie ausüben. Die Unglückliche lag in ihren Zuckungen vor ihm, schon hatte der Tod seine Hand nach ihr ausgestreckt. In Angst und Verzweiflung warf sich der arme Wilde vor dem Engländer auf die Knie, rang die Hände und bat flehentlich in seiner eigenen Sprache um Hilfe.

Jack verstand natürlich, was der Mann wollte. Er kannte die Furcht der Eingeborenen vor Zauber und bösen Geistern, aber es lag ihm nichts daran, daß dieser Fall einem außerirdischen Wesen zugeschrieben werden sollte. Im Gegenteil, er wünschte, daß die Eingeborenen wußten, wem sie den Tod verdankten, wenn sie seine Hütte wieder zum Rauben betraten. Mit tückischem Grinsen sagte er deshalb:

„Hilft dir nichts, mein Junge. Ich - verstehst du mich? -, ich habe einen Zauber in das Brot getan. Wer das ißt, wer nur etwas berührt, was in dieser Hütte ist, muß sterben, wie die Alte da gerade vor deinen Augen stirbt. Und ich helfe dir auch nicht, und wenn ich es damit könnte, dir den Finger auf den schwarzen Schädel zu legen. Jetzt weg mit dem Scheusal da, oder ich verliere meine Geduld und schicke dich hinterher!“

Der Eingeborene achtete nicht mehr auf die letzten Worte, deren Sinn er verstanden hatte. Es war ihm klargeworden, daß er keine Hilfe erhalten würde. Stier sah er die vor ihm stehende drohende Gestalt an. Aber es war nicht mehr Entsetzen vor dem Fremden, es waren Wut und Rache, die da herausblitzten. Hätte er irgendeine Waffe gehabt, er hätte sich in diesem Augenblick noch nicht einmal vor dem Revolver des Weißen gefürchtet. Jack ahnte wohl etwas Ähnliches, denn er hob unwillkürlich die todbringende Waffe gegen den Unglücklichen. Da stieß die Sterbende am Boden einen letzten Schrei aus - ihre Glieder zuckten und streckten sich, und mit einem wilden Geheul warf sich der junge Mann über die Leiche. Aber es war nur ein Moment. Im nächsten griff er den leblosen Körper auf, warf noch einen Blick auf den Mörder und lief dann, so rasch ihn seine Füße trugen, den Hang hinab in das jetzt völlig dunkle Tal.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Busch