Die Familie Sutton -1-



Wir müssen noch einmal zu dem Abend zurückkehren, an dem die Royal Mail unweit vom Gipfel des Razorhacks in den blauen Bergen überfallen und ausgeplündert wurde.


Wie sich der Leser erinnert, war der von den Bushrangern verwundete Passagier durch vier Leute von der Wegschenke auf die nicht weit entfernte Station eines englischen Gentleman, eines Mr. Sutton, gebracht worden. Dort wurde er herzlich und liebevoll behandelt. Mr. Sutton war schon ein älterer Herr, der erst spät geheiratet und zwei erwachsene Kinder, einen Sohn und eine Tochter, hatte. In dem dafür gut geeigneten Tal konnte er ständig mehr Land urbar machen und seine Station vergrößern. Jetzt betrieb er neben seinen zahlreichen Schafherden und einer einträglichen Pferdezucht auch viel Landwirtschaft. Zu seiner Unterstützung hatte er gut zwanzig Leute auf seiner Station beschäftigt.

Seine etwas kränkliche Frau konnte den Haushalt nicht allein bewältigen. Seine Tochter Rebecca war erst achtzehn Jahre alt, und deshalb hatte er zur Unterstützung seiner Frau eine Wirtschafterin eingestellt. Sie war trotz ihrer Jugend für diese Aufgabe hervorragend geeignet.

Miß Gertrud, wie die Wirtschafterin genannt wurde, mochte etwa zweiundzwanzig Jahre alt sein. Sie war sehr jung durch die Vermittlung der Mrs. Chisholm nach Australien gekommen, die damals die Vermittlung von Dienstboten nach Australien kräftig unterstützte. Nach ihrer Erzählung hatte sie eine gute Anstellung in Adelaide gefunden, wo sie mehrere Jahre als Gouvernante in einer Familie lebte. Aber dann starb die Frau, und sie kehrte zu Freunden nach Sydney zurück, als Mr. Sutton jemand für seine Familie suchte.

Alles andere interessierte hier niemand, denn man ist in Australien vorsichtig, nicht zu sehr nach den früheren Lebensverhältnissen zu fragen. Man befürchtet nämlich, selbst in den angesehensten Familien oft sehr unangenehme Rückerinnerungen zu wecken. Man nimmt die Leute eben, wie sie sind. Wenn sie jetzt ihre Pflicht tun und ihren Platz ausfüllen, fragt selten jemand danach, was früher war. In Australien wollte eben niemand gern an die Vergangenheit der Sträflinge erinnert werden.

Gertrud war übrigens eine hübsche Erscheinung. Ihr Gesicht wirkte echt englisch, die Nase etwas stumpf, aber sie hatte wundervolles, kastanienbraunes Haar, nußfarbene Augen und eine schlanke Gestalt. Nur um den Mund lag ein ernster, fast strenger Zug, der aber oft durch ein liebes Lächeln gemildert oder sogar völlig verwischt wurde. Sie trat fest und entschieden auf, gegenüber dem Ehepaar Sutton sehr taktvoll. Aber vielleicht verscheuchte sie damit auch jede Vertraulichkeit. Es war fast so, als wollte sie in der Familie nur als Angestellte behandelt werden und sich nur so wohl fühlte.

Rebecca war dagegen fast zu zart für den wilden Busch. Sie schien sowohl äußerlich wie auch vom ganzen Wesen her das genaue Gegenteil von Gertrud zu sein. Genauso schön wie sie, verliehen ihr schon das blonde Haar und die verträumten, blauen Augen etwas Weiches. Als an diesem Abend der Schwerverwundete in das Haus gebracht wurde, übernahm Gertrud auch gleich seine Pflege. Sie richtete das Zimmer für ihn her, sah nach seinem Verband und stillte, so gut es ging, die Blutung, bis der Arzt die Wunde richtig behandeln konnte. Alles ging so still und selbstbewußt vor sich, daß die übrigen Hausbewohner den neuen Gast kaum wahrnahmen oder sich durch ihn belästigt fühlen konnten.

Durch den Eifer des alten Mitpassagiers angetrieben, kam der Arzt noch in derselben Nacht zur Station „English Bottom“. Als er die Wunde untersucht hatte, schüttelt er bedenklich den Kopf. Die Kugel hatte eine sehr gefährliche Bahn genommen. Es ließ sich keineswegs mit Sicherheit voraussagen, ob der Patient den Schuß überleben würde. Jetzt atmete er noch, aber jeder Atemzug konnte sein letzter sein. Nachdem die Wunde versorgt war, mußte alles andere seiner gesunden Natur und der aufopfernden Pflege überlassen bleiben.

Mr. Sutton hatte inzwischen versucht, einen Ausweis bei dem Kranken zu finden, um seinen Namen und seine Anschrift zu erfahren. Aber sein Taschenbuch hatten die Bushranger behalten, Briefe trug er auch nicht bei sich, und auch seine Wäsche trug keine Namensschilder, denn in den Kolonien kaufte man alles, was man brauchte, fertig in den Läden. Wie sollte man also seine Angehörigen finden, noch dazu, wo in ganz New South Wales in den nächsten Tagen keiner mehr einen anderen Gedanken hatte als Gold und alle anderen Verbindungen abgebrochen schienen.

So mußte man also abwarten, bis der Verletzte selbst kräftig genug war, um über sich Auskunft geben zu können. Sollte er aber an der Wunde sterben, würde er zu den Tausenden gehören, die in fremden Weltteilen unbeachtet und ungekannt sterben und spurlos von der Erde verschwinden. Wie viele einsame Gräber liegen im stillen Wald, und nur ein Steinkranz oder ein Kreuz, im nächsten Baum mit der Axt eingeschlagen, zeigen die Stelle an.

Aber der junge Fremde starb nicht. Sieben Tage lag er regungslos auf seinem Bett. Er war nur hin und wieder in der Lage, ein paar Löffel stärkender Suppe zu schlucken, die ihm Gertrud einflößte. Erst am achten Tag schlug er seine Augen auf und sah seine Wärterin über sich gebeugt. Dann schloß er sie wieder und gab durch kein Zeichen zu erkennen, ob er die Frage an ihn verstanden habe.

Erst jetzt machte der Arzt, der schon einigemal wieder herübergekommen war, Mr. Sutton Hoffnung, daß er seinen Patienten durchbringen könne. In der gleichen Nacht klopfte der Wärter, der ständig bei ihm bleiben mußte, an Gertruds Tür und meldete ihr, daß der Verwundete zur Besinnung gekommen war. Gertrud zog sich schnell an und ging zu ihm hinüber. Es war drei Uhr morgens, und sie wollte Mr. Sutton nicht wecken. Als sie den Patienten fragte, ob er sich etwas wünsche, streckte er ihr lächelnd die blasse, abgemagerte Hand entgegen, sprach aber kein Wort.

Sie nahm die Hand und legte sie auf die Decke zurück. Er nickte ihr dankbar zu und schlief dann wieder ruhig ein bis zum nächsten Morgen.

Damit schien er aber die schlimmste Krise überstanden zu haben. Schon mit Tagesanbruch wachte er wieder auf und blickte sich suchend im leeren Zimmer um. Der Wärter war auf dem Stuhl neben seinem Bett eingeschlafen, und der Verwundete konnte ihn nicht wecken.

Da ging die Tür auf, und als Gertrud das Zimmer betrat, sah sie der Leidende mit großen, eingefallenen Augen an und sagte leise:

„Oha, das ist gut - das ist gut.“

„Gott sei Dank, daß Sie wiederhergestellt sind!“ rief Gertrud und eilte fröhlich zu ihm. „Jetzt wird alles bald besser werden. Aber Sie müssen sich noch sehr schonen und kein Wort weiter reden, bis es Ihnen der Arzt erlaubt!“

Wieder streckte ihr der Kranke die Hand entgegen und sagte mit leiser, kaum hörbarer Stimme:

„Was ist mit mir geschehen?“

Der Wärter war jetzt auch wach geworden und sprang erschrocken von seinem Stuhl auf, als er das Tageslicht und das junge Mädchen im Zimmer sah. Aber Gertrud schickte ihn zu Mr. Sutton hinüber, um ihm die freudige Nachricht mitzuteilen. Zu dem Kranken sagte sie:

„Keine Frage jetzt, die Sie nur aufregen würde. Sie müssen ganz still liegen, bis der Arzt wieder bei Ihnen gewesen ist. Ich werde inzwischen hinausgehen und Ihnen etwas zu essen bereiten. Sie haben in der letzten Woche nicht viel mehr Nahrung über die Lippen gebracht, als einen Sperling am Leben halten würde.“

Der Kranke wollte sie durch eine Bewegung seines Armes zurückhalten, aber sie hob warnend den Finger und ließ ihn dann allein.

Etwa eine halbe Stunde später kehrte sie mit Mr. Sutton zurück. Der alte Herr setzte sich ans Bett, legte seine Hand auf den Arm des Kranken und sagte herzlich:

„Mein lieber junger Freund, ich kann mir wohl denken, daß Sie nicht genau wissen, wo Sie sind und wie Sie hierher gekommen sind. Ich will Ihnen deshalb die wichtigsten Dinge mitteilen. Sie befinden sich auf der Station, die überall ‚Englisch Bottom‘ genannt wird. Kennen Sie den Ort? Bitte, Sie müssen nicht antworten. Wenn Sie ja sagen wollen, schließen Sie nur kurz die Augen.“

Der Kranke lächelte und tat es.

„Schön“, sagte der alte Herr. „Sie kennen also die Gegend hier. Wohnen Sie in Sydney? Bitte, antworten Sie nur mit den Augen!“

Der Kranke tat es.

„Also, das hätten wir ebenfalls heraus. Haben Sie Verwandte dort? Ja? Gut. Auch die werden wir später erfahren. Sie haben eine sehr häßliche Schußwunde in der Brust und sind vielleicht noch nicht außer Gefahr. Transportiert werden können Sie auch nicht, und deshalb müssen Sie es noch eine Weile bei uns aushalten. Ich möchte aber Ihren Freunden oder Verwandten Nachricht von Ihnen geben, denn sie werden sich sicherlich schon ängstigen. Halt, Sie dürfen nicht sprechen. Wenn es ohne besondere Anstrengung geht, dann schreiben Sie mit dem Bleistift auf dieses Stück Pappe Ihren Namen - weiter nichts.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Im Busch