Zweite Fortsetzung
Diese Zeugen der Vergangenheit lügen nicht, — aber sie verschweigen einen Teil der Wahrheit und zwar den für die Geschichte wichtigsten: sie verschweigen, dass es nur ein sehr kleiner Teil der Menschheit gewesen ist, der unter dem Ancien Régime in diesem Paradies gelebt hat, nämlich die wenigen, denen die absolute Gewalt ein Drohnenleben ermöglichte, wie es die Geschichte der europäischen Menschheit kaum ein zweites Mal gesehen hat, auch in der Antike nicht. Sie verschweigen weiter, dass das Leben fast allen andern in der gleichen Zeit eine Hölle nie endender Sorgen und Qualen sein musste, um den wenigen den Garten eines solchen Paradieses auf Erden zu sichern. Und deshalb ist das Ancien Régime kein verlorenes Eden der Menschheit.
Die Menschheit als Begriff der Gesamtheit wandelte bis heute auf Erden nie in einem Paradies, und ist daraus weder vertrieben worden, noch hat sie es je verloren. Die Pforte ins Paradies steht noch verschlossen vor ihr. Bis jetzt sind ihr im günstigsten Falle die Gartenzaunbillete des Glückes zuteilgeworden. Nur mit den Blicken der Sehnsucht hat sie das Paradies als Land der Zukunft geschaut. Aber sie hat dafür mit harter Faust den Unterbau zertrümmert, auf dem sich für wenige ein Paradies aufbauen konnte, wie es das Ancien Régime aufwies. Und dies sind ihres Strebens stolzeste Garantien. Das ist die sichere Gewähr, dass die Menschheit eines Tages die Pforten in ein Paradies öffnen wird, das die gesamte Menschheit fasst, und dessen Wonnen allen in gleicher Fülle zuteilwerden. Dieses Paradies wird freilich andere Züge aufweisen und andere Ideale des Lebens verwirklichen, als die eines mühelosen Sybaritendaseins*), denn darin bestand in Wahrheit das Paradies der Herrschenden im Ancien Régime. Es wird vielmehr ein Paradies der emsig Schaffenden und Wirkenden sein. Noch lockt die Schwelle, die die Menschheit vorher überschreiten muss, erst in weiter Ferne; aber es ist der kürzeste Weg, den sie noch zu durchmessen hat, eine kurze Wegspanne, gemessen an dem ungeheuren Weg, den die Menschheit in den Jahrtausenden ihres geschichtlichen Daseins heraufgestiegen ist von den untersten Stufen der Barbarei bis zu unsrer Gegenwart. Und darum wird sie auch diese letzte Strecke, die sie noch von der Vollendung trennt, eines Tages zurücklegen, um als ein gewaltiger Sieger die Schwelle zu überschreiten, von der überhaupt erst ihre wirkliche Geschichte beginnen wird. Die Logik der menschlichen Entwicklung ist tiefer als ein Ammenmärchen**), das von ewiger Unvollkommenheit fabelt, und höher als ein Börsenwitz, der im kapitalistischen Mein und Dein gipfelt. Wer das nicht einsieht, mag sich mit der wundersamen Logik abfinden, dass die Gesetze der Entwicklung sich auch in ihr Gegenteil kehren können. —
*) Die Einwohner der Stadt Sybaris hatten ein üppiges Dasein und ihr Lebensziel war einzig der Genuss.
**) Als Ammenmärchen bezeichnet man in der Gegenwart ein weit verbreitetes, jedoch nur scheinbares Wissen. Historisch geht der wohl im 18. Jahrhundert entstandene Begriff zurück auf die Gewohnheit der Ammen, den von ihnen betreuten Kindern unglaubliche Geschichten zu erzählen. Wikipedia
Wenn man die Tragödie einer Kultur aufrollt, muss man als Motto die stolze Zuversicht voranstellen, dass der Menschheit Götterdämmerung unausbleiblich ist, dass sie Ende und Anfang ihrer Zeit sein wird. Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus war aber eins der schmerzlichsten Trauerspiele, das die Menschheit über sich ergehen lassen musste.
003. Schönau: Der Weg zum Laster. Galanter Kupferstich
Die Bilder dieser Einleitung und des ersten Kapitels „Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus“ stehen wie bei dem ersten Bande „Die Renaissance“ nicht in direktem Zusammenhang mit dem Text. Sie sollen nur in zwanglos buntem Wechsel die verschiedenen Seiten des uns in diesem Bande beschäftigenden Themas illustrieren. Auf ihre Würdigung wird darum natürlich nicht verzichtet, diese bleibt nur den späteren Kapiteln Vorbehalten, in deren Rahmen sie im Einzelnen gehören; von dort wird jeweils auf sie zurückgegriffen werden.
005. Am Rande des Bettes. Galanter Kupferstich
006. Honore Fragonard: Liebesgetändel. Galanter Kupferstich
Die Menschheit als Begriff der Gesamtheit wandelte bis heute auf Erden nie in einem Paradies, und ist daraus weder vertrieben worden, noch hat sie es je verloren. Die Pforte ins Paradies steht noch verschlossen vor ihr. Bis jetzt sind ihr im günstigsten Falle die Gartenzaunbillete des Glückes zuteilgeworden. Nur mit den Blicken der Sehnsucht hat sie das Paradies als Land der Zukunft geschaut. Aber sie hat dafür mit harter Faust den Unterbau zertrümmert, auf dem sich für wenige ein Paradies aufbauen konnte, wie es das Ancien Régime aufwies. Und dies sind ihres Strebens stolzeste Garantien. Das ist die sichere Gewähr, dass die Menschheit eines Tages die Pforten in ein Paradies öffnen wird, das die gesamte Menschheit fasst, und dessen Wonnen allen in gleicher Fülle zuteilwerden. Dieses Paradies wird freilich andere Züge aufweisen und andere Ideale des Lebens verwirklichen, als die eines mühelosen Sybaritendaseins*), denn darin bestand in Wahrheit das Paradies der Herrschenden im Ancien Régime. Es wird vielmehr ein Paradies der emsig Schaffenden und Wirkenden sein. Noch lockt die Schwelle, die die Menschheit vorher überschreiten muss, erst in weiter Ferne; aber es ist der kürzeste Weg, den sie noch zu durchmessen hat, eine kurze Wegspanne, gemessen an dem ungeheuren Weg, den die Menschheit in den Jahrtausenden ihres geschichtlichen Daseins heraufgestiegen ist von den untersten Stufen der Barbarei bis zu unsrer Gegenwart. Und darum wird sie auch diese letzte Strecke, die sie noch von der Vollendung trennt, eines Tages zurücklegen, um als ein gewaltiger Sieger die Schwelle zu überschreiten, von der überhaupt erst ihre wirkliche Geschichte beginnen wird. Die Logik der menschlichen Entwicklung ist tiefer als ein Ammenmärchen**), das von ewiger Unvollkommenheit fabelt, und höher als ein Börsenwitz, der im kapitalistischen Mein und Dein gipfelt. Wer das nicht einsieht, mag sich mit der wundersamen Logik abfinden, dass die Gesetze der Entwicklung sich auch in ihr Gegenteil kehren können. —
*) Die Einwohner der Stadt Sybaris hatten ein üppiges Dasein und ihr Lebensziel war einzig der Genuss.
**) Als Ammenmärchen bezeichnet man in der Gegenwart ein weit verbreitetes, jedoch nur scheinbares Wissen. Historisch geht der wohl im 18. Jahrhundert entstandene Begriff zurück auf die Gewohnheit der Ammen, den von ihnen betreuten Kindern unglaubliche Geschichten zu erzählen. Wikipedia
Wenn man die Tragödie einer Kultur aufrollt, muss man als Motto die stolze Zuversicht voranstellen, dass der Menschheit Götterdämmerung unausbleiblich ist, dass sie Ende und Anfang ihrer Zeit sein wird. Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus war aber eins der schmerzlichsten Trauerspiele, das die Menschheit über sich ergehen lassen musste.
003. Schönau: Der Weg zum Laster. Galanter Kupferstich
Die Bilder dieser Einleitung und des ersten Kapitels „Das Zeitalter des fürstlichen Absolutismus“ stehen wie bei dem ersten Bande „Die Renaissance“ nicht in direktem Zusammenhang mit dem Text. Sie sollen nur in zwanglos buntem Wechsel die verschiedenen Seiten des uns in diesem Bande beschäftigenden Themas illustrieren. Auf ihre Würdigung wird darum natürlich nicht verzichtet, diese bleibt nur den späteren Kapiteln Vorbehalten, in deren Rahmen sie im Einzelnen gehören; von dort wird jeweils auf sie zurückgegriffen werden.
005. Am Rande des Bettes. Galanter Kupferstich
006. Honore Fragonard: Liebesgetändel. Galanter Kupferstich
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart
003 Schönau. Der Weg zum Laster. Galanter Kupferstich
006 Honoré Fragonard. Liebeständel. Galanter Kupferstich
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