Einleitung

Das verlorene Paradies? Talleyrand*) sagte einmal in seinen alten Tagen: wer die Zeit vor 1789 nicht gekannt hat, hat überhaupt nicht gelebt. Und unzählige seiner Zeitgenossen waren mit ihm derselben Meinung. Die Überlebenden aus jener Epoche endigten ihre Tage in Trauer über die untergegangene Insel der Seligen, deren Wonnen und Seligkeiten sie in ihrer Jugend gekostet hatten und die nun unwiederbringlich verloren waren, wie die immer trauriger werdende Gegenwart erwies. Ein zu Ende geträumter Traum der Schönheit und des Glückes.

*) Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838) Ehemaliger Präsident des Ministerrates der Französischen Republik.


Die augenfälligsten Dokumente des Ancien Régime*), die schöne Literatur und die Künste, die es hervorgebracht hat, und in denen es sich wiederspiegelt, rechtfertigen diese Trauer. Strahlende, fleckenlose Schönheit steigt aus ihnen empor. Alles ist hier schön: niemals waren die Frauen so verführerisch, nie die Männer so elegant, und selbst die Wahrheit geht in dieser Zeit nicht nackt einher, sondern ihr Gewand ist immer sprühender Esprit. Die Rose hat die Schärfe ihrer Stacheln verloren, das Laster seine Hässlichkeit, die Tugend ihre Langeweile. Alles ist nur Duft, Grazie und verzauberter Glanz. Keine Tragik, keine Schmerzen und Verbrechen verzerren die Gesichter. Auf allen Mienen thront Frohsinn und Seligkeit. Jede Träne ist durch Lachen gemildert und das Unglück nur eine Stufe zu größerem Glück .... Die Zeit kennt kein Alter und Verblühen. Man lebt eine ewige Jugend und scherzt und schäkert noch auf dem Totenbett. Alles ist Sinnlichkeit und Wollust und das ganze Leben eine einzige fortgesetzte wollüstige Ekstase. Aber auf den Rausch folgt keine peinliche Ernüchterung, sondern neue Lust. Die Dinge haben keine Konsequenzen, kein Lendemain**), sondern nur ein Heute. Die Sinnlichkeit wird durch keine Prüderie verlästert und verzerrt, sie ist ein großer verzauberter Wundergarten, aus dem die Sünde verbannt ist. Denn kein Baum mit verbotenen Früchten wächst in ihrer Erde. Man darf von allen süßen und verlockenden Früchten kosten; und auf Weg und Steg bieten sich jeder Begierde tausend Erfüllungen. Die Wollust schreitet mit den Menschen durchs ganze Leben und schüttet ihre Wonnen jedem verschwenderisch in den Schoß. Der Blick des Knaben ist schon eine wollüstige Verheißung, und die Matrone verrät: auch noch mein Garten schenkt der Begierde reiche Früchte. Die Natur hat ihre ehernen Gesetze verändert, sie hat den Ekel von der Unnatur geschieden. Denn dies alles ist in strahlende Schönheit getaucht. Wohin man blickt, nur Schönheit und ungetrübter Glanz .... Man lebt und stirbt in Schönheit. Sie steht schon am Bett der Kreisenden und hält noch die Hand des Sterbenden. Sie ist die Sonne, die nie untergeht ....

*) Ancien Régime bezeichnet ursprünglich und im engeren Sinne die Regierungsform der Bourbonen in Frankreich; im weiteren Sinn die Frühe Neuzeit in ganz Europa vor der Französischen Revolution von 1789 bzw. vor den Napoleonischen Kriegen. Oftmals steht der Begriff stellvertretend für den Absolutismus. Wikipedia
**) lendemain (französisch) Am nächsten Tag

Das ist das Paradies, an das die Überlebenden des Ancien Régime bis an ihre letzte Stunde mit düsterer Wehmut zurückdachten. Und die glühenden Gedichte, die köstlichen Kupfer und die duftigen Gemälde des Rokokos, die heute noch diese Seligkeiten vor unsre Blicke zaubern, lügen nicht. Dieses Paradies hat wirklich existiert und es ist für immer von der Erde verschwunden.

002. Nach einem Kupferstich von Lancret. Der stürmische Liebhaber
002 Nach einem Kupferstich von Lancret. Der stürmische Liebhaber

002 Nach einem Kupferstich von Lancret. Der stürmische Liebhaber

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