Dritter Abschnitt. - Von 1844 Amsterdamm und seinen Sprachstudien bis Erwerb seines Vermögens in St. Petersburg 1854.

Endlich, am 1. März 1844, glückte es mir, durch die Verwendung meiner Freunde Louis Stoll23) in Mannheim und J.H. Ballauf24) in Bremen, eine Stellung als Correspondent und Buchhalter in dem Comptoir der Herren B.H. Schröder & Co.25) in Amsterdam zu erhalten; hier wurde ich zuerst mit einem Gehalt von 1200 Francs engagirt, als aber meine Principale meinen Eifer sahen, gewährten sie mir noch eine jährliche Zulage von 800 Francs als weitere Aufmunterung. Diese Freigebigkeit, für welche ich ihnen stets dankbar bleiben werde, sollte denn in der That auch mein Glück begründen; denn da ich glaubte durch die Kenntniss des Russischen mich noch nützlicher machen zu können, fing ich an, auch diese Sprache zu studieren. Die einzigen russischen Bücher, die ich mir verschaffen konnte, waren eine alte Grammatik, ein Lexikon und eine schlechte Uebersetzung der „Aventures de Télémaque“. Trotz aller meiner Bemühungen aber wollte es mir nicht gelingen, einen Lehrer des Russischen aufzufinden; denn ausser dem russischen Viceconsul, Herrn Tannenberg, der mir keinen Unterricht geben wollte, befand sich damals niemand in Amsterdam, der ein Wort von dieser Sprache verstanden hätte. So fing ich denn mein neues Studium ohne Lehrer an, und hatte auch in wenigen Tagen, mit Hülfe der Grammatik, mir schon die russischen Buchstaben und ihre Aussprache eingeprägt. Dann nahm ich meine alte Methode wieder auf, verfasste kurze Aufsätze und Geschichten und lernte dieselben auswendig. Da ich niemand hatte, der meine Arbeiten verbesserte, waren sie ohne Zweifel herzlich schlecht; doch bemühte ich mich, meine Fehler durch praktische Uebungen vermeiden zu lernen, indem ich die russische Uebersetzung der „Aventures de Télémaque“ auswendig lernte. Es kam mir vor, als ob ich schnellere Fortschritte machen würde, wenn ich jemand bei mir hätte, dem ich die Abenteuer Telemachs erzählen könnte: so engagirte ich einen armen Juden, der für vier Francs pro Woche allabendlich zwei Stunden zu mir kommen und meine russischen Declamationen anhören musste, von denen er keine Silbe verstand.

Da die Zimmerdecken in den gewöhnlichen holländischen Häusern meist nur aus einfachen Bretern bestehen, so kann man im Erdgeschoss oft alles vernehmen, was im dritten Stock gesprochen wird. Mein lautes Recitiren wurde deshalb bald den andern Miethern lästig, sie beklagten sich bei dem Hauswirthe, und so kam es, dass ich in der Zeit meiner russischen Studien zweimal die Wohnung wechseln musste. Aber alle diese Unbequemlichkeiten vermochten meinen Eifer nicht zu vermindern, und nach sechs Wochen schon konnte ich meinen ersten russischen Brief an Wassili Plotnikow schreiben, den Londoner Agenten der grossen Indigohändler Gebrüder M.P.N. Malutin26) in Moskau; auch war ich im Stande, mich mit ihm und den russischen Kaufleuten Matwejew und Frolow, die zu den Indigoauctionen nach Amsterdam kamen, fliessend in ihrer Muttersprache zu unterhalten.


Als ich mein Studium des Russischen vollendet hatte, begann ich mich ernstlich mit der Literatur der von mir erlernten Sprachen zu beschäftigen.

Im Januar 1846 schickten mich meine vortrefflichen Principale als ihren Agenten nach St. Petersburg, und hier sowol als auch in Moskau wurden schon in den ersten Monaten meine Bemühungen von einem Erfolge gekrönt, der meiner Chefs und meine eignen grössten Hoffnungen noch weit übertraf. Kaum hatte ich in dieser meiner neuen Stellung mich dem Hause B.H. Schröder & Co. unentbehrlich gemacht und mir dadurch eine ganz unabhängige Lage geschaffen, als ich unverzüglich an den oben erwähnten Freund der Familie Meincke, C.E. Laue in Neu-Strelitz, schrieb, ihm alle meine Erlebnisse schilderte und ihn bat, sogleich in meinem Namen um Minna’s Hand anzuhalten. Wie gross war aber mein Entsetzen, als ich nach einem Monat die betrübende Antwort erhielt, dass sie vor wenigen Tagen eine andere Ehe geschlossen habe. Diese Enttäuschung erschien mir damals als das schwerste Schicksal, das mich überhaupt treffen konnte: ich fühlte mich vollständig unfähig zu irgendwelcher Beschäftigung und lag krank darnieder. Unaufhörlich rief ich mir alles, was sich zwischen Minna und mir in unserer ersten Kindheit begeben hatte, ins Gedächtniss zurück, alle unsere süssen Träume und grossartigen Pläne, zu deren Ausführung ich jetzt eine so glänzende Möglichkeit vor mir sah; aber wie sollte ich nun daran denken, sie ohne Minna’s Theilnahme auszuführen? Dann machte ich mir auch wol die bittersten Vorwürfe, dass ich nicht schon, ehe ich mich nach Petersburg begab, um ihre Hand angehalten hatte, – aber immer wieder musste ich mir selber sagen, dass ich mich dadurch nur lächerlich gemacht haben würde; war ich doch in Amsterdam nur Commis, in einer durchaus unselbständigen und von der Laune meiner Principale abhängigen Stellung gewesen, und hatte ich doch überdies keinerlei Gewähr gehabt, dass es mir in Petersburg glücken würde, wo statt des Erfolges ja auch gänzliches Mislingen meiner warten konnte. Es schien mir ebenso unmöglich, dass Minna an der Seite eines andern Mannes glücklich werden, wie dass ich jemals eine andere Gattin heimführen würde. Warum musste das grausame Schicksal sie mir gerade jetzt entreissen, wo ich, nachdem ich sechzehn Jahre lang nach ihrem Besitze gestrebt, endlich geglaubt hatte, sie errungen zu haben? Es war uns beiden in Wahrheit so ergangen, wie es uns so oft im Traume zu ergehen pflegt: wir wähnen jemand rastlos zu verfolgen, und sobald wir glauben, ihn erreicht zu haben, entschlüpft er uns immer von neuem Wol dachte ich damals, dass ich den Schmerz über Minna’s Verlust nie würde, verwinden können; aber die Zeit, die alle Wunden heilt, übte endlich ihren wohlthätigen Einfluss auch auf mein Gemüth, und wenn ich auch jahrelang noch um die Verlorene trauerte, konnte ich doch allmählich meiner kaufmännischen Thätigkeit wieder ohne Unterbrechung obliegen.

Schon im ersten Jahre meines Aufenthalts in Petersburg war ich bei meinen Geschäften so vom Glück begünstigt gewesen, dass ich bereits zu Anfang des Jahres 1847 in die Gilde als Grosshändler mich einschreiben liess. Neben dieser meiner neuen Thätigkeit blieb ich in unveränderter Beziehung zu den Herren B.H. Schröder & Co. in Amsterdam, deren Agentur ich fast elf Jahre lang behielt. Da ich in Amsterdam eine gründliche Kenntniss von Indigo erlangt hatte, beschränkte ich meinen Handel fast ausschliesslich auf diesen Artikel, und so lange mein Vermögen noch nicht 200000 Francs erreichte, gab ich nur Firmen von bewährtestem Rufe überhaupt Credit. So musste ich mich freilich zuerst mit kleinem Gewinne begnügen, riskirte aber auch nichts.

Da ich lange nichts von meinem Bruder Ludwig Schliemann gehört hatte, der im Beginn des Jahres 1849 nach Californien ausgewandert war, so begab ich mich im Frühjahr 1850 dorthin und erfuhr, dass er verstorben war. Ich befand mich noch in Californien, als dasselbe am 4. Juli 1850 zum Staate erhoben wurde, und da alle an jenem Tage im Lande Verweilenden ipso facto naturalisirte Amerikaner wurden, so wurde auch ich Bürger der Vereinigten Staaten Gegen Ende des Jahres 1852 etablirte ich in Moskau eine Filiale für den Engrosverkauf von Indigo zuerst unter der Leitung meines vortrefflichen Agenten, Alexei Matwejew, nach dessen Tode aber unter der seines Dieners Jutschenko, den ich zum Range eines Kaufmanns der zweiten Gilde erhob; denn aus einem geschickten Diener kann ja leicht ein guter Director werden, wenn auch aus einem Director nie ein brauchbarer Diener wird.

Da ich in Petersburg immer mit Arbeit überhäuft war, konnte ich meine Sprachstudien nicht weiter betreiben, und so fand ich erst im Jahre 1854 ausreichende Zeit, mir die schwedische und polnische Sprache anzueignen.

Die göttliche Vorsehung beschützte mich oft in der wunderbarsten Weise, und mehr als einmal wurde ich nur durch einen Zufall vom gewissen Untergange gerettet. Mein ganzes Leben lang wird mir der Morgen des 4. October 1854 in der Erinnerung bleiben. Es war in der Zeit des Krimkrieges. Da die russischen Häfen blockirt waren, mussten alle für Petersburg bestimmten Waaren nach den preussischen Häfen von Königsberg und Memel verschifft und von dort zu Lande weiter befördert werden. So waren denn auch mehrere hundert Kisten Indigo und eine grosse Partie anderer Waaren von den Herren J. Henry Schröder & Co. in London27) und B.H. Schröder & Co. in Amsterdam für meine Rechnung auf zwei Dampfern an meine Agenten, die Herren Meyer & Co., in Memel abgesandt worden, um von dort zu Lande nach Petersburg transportirt zu werden. Ich hatte den Indigoauctionen in Amsterdam beigewohnt und befand mich nun auf dem Wege nach Memel, um dort nach der Expedition meiner Waaren zu sehen. Spät am Abend des 3. October im Hôtel de Prusse in Königsberg angekommen, sah ich am folgenden Morgen, bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster meines Schlafzimmers, auf dem Thurme des nahen „Grünen Thores“28) folgende ominöse Inschrift in grossen vergoldeten Lettern mir entgegenleuchten:

Vultus fortunae variatur imagine lunae:
Crescit, decrescit, constans persistere nescit.

Ich war nicht abergläubisch, aber doch machte diese Inschrift einen tiefen Eindruck auf mich, und eine zitternde Furcht, wie vor einem nahen unbekannten Misgeschick bemächtigte sich meiner. Als ich meine Reise mit der Post fortsetzte, vernahm ich auf der ersten Station hinter Tilsit zu meinem Entsetzen, dass die Stadt Memel am vorhergegangenen Tage von einer furchtbaren Feuersbrunst eingeäschert worden sei, und vor der Stadt angekommen, sah ich die Nachricht in der traurigsten Weise bestätigt. Wie ein ungeheurer Kirchhof, auf dem die rauchgeschwärzten Mauern und Schornsteine wie grosse Grabsteine, wie finstere Wahrzeichen der Vergänglichkeit alles Irdischen sich erhoben, lag die Stadt vor unsern Blicken. Halbverzweifelt suchte ich zwischen den rauchenden Trümmerhaufen nach Herrn Meyer. Endlich gelang es mir, ihn aufzufinden – aber auf meine Frage, ob meine Güter gerettet wären, wies er statt aller Antwort auf seine noch glimmenden Speicher und sagte: „Dort liegen sie begraben.“ Der Schlag war sehr hart: durch die angestrengte Arbeit von acht und einem halben Jahre hatte ich mir in Petersburg ein Vermögen von 150000 Thalern erworben – und nun sollte dies ganz verloren sein. Es währte indessen nicht lange, so hatte ich mich auch mit diesem Gedanken vertraut gemacht, und gerade die Gewissheit meines Ruins gab mir meine Geistesgegenwart wieder.

Das Bewusstsein, niemandem etwas schuldig zu sein, war mir eine grosse Beruhigung; der Krimkrieg hatte nämlich erst vor kurzem begonnen, die Handelsverhältnisse waren noch sehr unsicher, und ich hatte infolge dessen nur gegen baar gekauft. Ich durfte wol erwarten, dass die Herren Schröder in London und Amsterdam mir Credit gewähren würden, und so hatte ich die beste Zuversicht, dass es mir mit der Zeit gelingen werde, das Verlorene wieder zu ersetzen. Es war noch an Abend des nämlichen Tages: ich stand im Begriffe, meine Weiterreise nach Petersburg mit der Post anzutreten, und erzählte eben den übrigen Passagieren von meinem Missgeschick, da fragte plötzlich einer der Umstehenden nach meinem Namen, und rief, als er denselben vernommen hatte, aus: „Schliemann ist ja der Einzige, der nichts verloren hat! Ich bin der erste Commis bei Meyer & Co. Unser Speicher war schon übervoll, als die Dampfer mit Schliemann’s Waaren anlangten, und so mussten wir dicht daneben noch ich einen hölzernen Schuppen bauen, in dem sein ganzes Eigenthum unversehrt geblieben ist.“ Der plötzliche Uebergang von schwerem Kummer zu grosser Freude ist nicht leicht ohne Thränen zu ertragen: ich stand einige Minuten sprachlos; schien es mir doch wie ein Traum, wie ganz unglaublich, dass ich allein aus dem allgemeinen Ruin unbeschädigt hervorgegangen sein sollte! Und doch war dem so; und das wunderbarste dabei, dass das Feuer in dem massiven Speicher von Meyer & Co., auf der nördlichen Seite der Stadt ausgekommen war, von wo es bei einem heftigen, orkanartigen Nordwind sich schnell über die ganze Stadt verbreitet hatte; dieser Sturm war denn auch die Rettung für den hölzernen Schuppen gewesen, der, nur ein paar Schritt nördlich von dem Speicher gelegen, ganz unversehrt geblieben war.




23) Herr L. Stoll ist Associé des Handlungshauses Rabus & Stoll in Mannheim und nimmt dort noch jetzt eine angesehene Stellung ein.

24) Verstorben 1873.

25) Das Haus B.H. Schröder & Co. in Amsterdam besteht und blüht heute noch. Der treffliche Herr B.H. Schröder starb 1849, aber der würdige Herr Heinrich Schröder, derselbe, der am 1. März 1844 mich engagirt hatte, und der damals schon ein Mitinhaber des Handlungshauses war, steht gegenwärtig noch mit an der Spitze des Geschäfts.

26) Die drei Gebrüder Malutin sind inzwischen verstorben, aber das Handlungshaus blüht noch unter der alten Firma.

27) Das Haus der Herren J. Henry Schröder & Co. in London und Hamburg, mit dem ich in Verbindung zu stehen seit 34 Jahren das Glück gehabt habe, ist eines der reichsten und bedeutendsten Handlungshäuser der Welt. Der älteste Inhaber, der ehrwürdige Baron John Henry von Schröder, der Gründer der unter dem Namen des Schröder’schen Stiftes weltberühmten grossartigen Wohlthätigkeitsanstalt, steht, obwol schon 96 Jahre alt, noch immer an der Spitze des Hamburger Hauses; sein Compagnon ist der treffliche Herr Vogler. An der Spitze des Londoner Hauses stehen der ehrwürdige Herr Baron J.H.W. von Schröder jun. und seine beiden ausgezeichneten Compagnons Herr Henry Tiarks und Herr von der Meden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ilios Stadt und Land der Trojaner.