I. Germanen und Slawen. Eine Umschau in der ältesten Geschichte des Vogtlandes.

Aus: Volksbrauch, Aberglauben, Sagen und andere alte Überlieferungen im Vogtland ...
Autor: Köhler, Johann August Ernst Dr. (1829-1903) Lehrer, Volkskundler, 1878 Gründer des sächsischen Erzgebirgsvereins., Erscheinungsjahr: 1867
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Vogtland, Voigtland, Volksbrauch, Heidentum, Landesgeschichte, Vaterland, Heimat, Überlieferung, Kulturgeschichte, Götterglauben, Aberglaube, Slawen, Sorbenvolk, Slawenvolk, Sorben, Germanen, Slawentum, Markomannen, Hermunduren, Sueven, Heimat, Geschichte, Thüringen, Donau, Harz, Regensburg, Passau, Bajovaren, Bayern, Thüringer, Sachsen, Quaden, Nariscer, Sitten, Bräuche, nordgermanische Mythologie
Motto:
      „Gleichwie aber, von jener Bergeshöhe herab,
      kein Landstrich isoliert, wie vielmehr, durch
      Land- und Wasserwege verbunden, das Nahe
      und Ferne in stetem Bezug zu einander erscheint,
      so auch bei der Vaterlandsgeschichte die frühere
      und spätere Epoche. Daher steht mit Vorzeit uns nicht
      so fern, als ein falscher Wahn es oft vermeint."

                  (Preusker, Blicke etc. 1. Vorrede)

Mancher Volksbrauch, manche der Gegenwart erhaltene Sage und Überlieferung wurzelt tief in dem Heidentum unserer Altvorderen. Die Gewohnheiten eines fast nur noch in den Büchern der Geschichte lebenden Volksstammes sind zum Teil auch von dem gegenwärtigen Geschlecht übernommen worden. Und wenn wir die Namen von Bergen und Flüssen, von Fluren und Ortschaften mit Verständnis durchgehen, da klingt uns in ihnen mancher Laut, welcher nach seinem Ursprunge einer andern Sprache angehört. Sollte es uns auch in verhältnismäßig nur wenigen Fällen gelingen, die verschiedenartigen Überlieferungen des Volkes bis auf ihren Urgrund zurückzuführen, da ja die älteste Geschichte der Völker nur lückenhaft vor uns liegt, so darf uns die Aussicht auf solch fragmentarisches Wissen dessen ungeachtet nicht hindern, zu sammeln, was durch die klärenden Bildungsströme noch nicht verwischt wurde. Es ist die älteste Kulturgeschichte und der alte Götterglaube gewissermaßen der Grund und Boden, auf welchem sich das Gebäude der Volksüberlieferungen erhebt; und wenn man bei einem Hause sich auch nicht mit Klarheit dessen bewusst wird, auf welcher Stelle des Fundamentes jeder einzelne Stein ruht, so weiß man doch im Allgemeinen, dass alle Teile und Teilchen, vom Balken und Quader an bis zum Mörtelbrocken, aus dem Grunde nach der Höhe aneinander gefügt worden sind. Ja, aus der Geschichte geht die Sage hervor, und sie überwuchert die erstere, so dass wir für den Zusammenhang beider kein Verständnis mehr haben; aus dem alten Götterglauben hat sich der Aberglaube und mancher Volksbrauch, manches Spiel der Kinder entwickelt, nur dass uns leider der Faden des Zusammenhanges sehr oft zerrissen wurde.

Zwei Provinzen sind es, — die eine im Osten, die andere im Westen, — welche durch ihre älteste Geschichte einander nahe gerückt sind. Während aber in der Lausitz der wendische Stamm seine Sprache und teilweise auch seine Nationaltracht bis zum heutigen Tage treu bewahrt, ist im Vogtlande selbst die Erinnerung an das Slawenvolk, welches hier einst mehrere Jahrhunderte lang im Frieden und unter harten Kämpfen lebte, bis auf einzelne Überlieferungen verloren gegangen. Um so dringender aber scheint es geboten, dieselben zu sammeln. Die nivellierende Kultur der Gegenwart fegt solch alte Überlieferungen rasch hinweg, sowohl die Reste des früheren slawischen Lebens, als auch den Sagenkreis und die andern Vermächtnisse der ältesten deutschen Bevölkerung. Beide verdienen dem schnellen Vergessen entrissen zu werden; und eine Vergleichung der vogtländischen mit den lausitzischen Gebräuchen und Überlieferungen würde dann einigermaßen feststellen, was davon in unserm Vogtlande ursprünglich slawisch ist.

Selbst der Name „Vogtland" erinnert den Geschichtsunkundigen nicht an das Sorbenvolk, während der Lausitz auch mit dem Namen — wir dürfen so sagen, — der Stempel ihres früheren allgemeinen Slawentums aufgedrückt ist. In beide Provinzen zog germanisches Leben ein; aber während es in der einen die ihm fremden volkstümlichen Elemente nicht gänzlich erdrückte, wälzte es sich in der andern lawinengleich daher, das Nationale der Sorben begrabend, so dass nur hier und da noch, wie einzelne abgebrochene Äste oder zersplitterte Stämme, Spuren desselben zurückgeblieben sind.

Als germanisches Leben das Slawentum verdrängte, setzte es sich jedoch auf einem Boden fest, den schon früher deutsche Völker bewohnt hatten. Denn nördlich des Gebirgszuges, dessen bedeutendste Glieder das Riesen- und das Erzgebirge sind, bis hin zum Thüringer Walde, hatte vor Christi Geburt der deutsche Stamm der Hermunduren seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Der Name dieses Volkes, welches ein Teil der Sueven war, bezeichnet uns dasselbe als Anwohner der großen Gebirgskette; denn irmin oder Hermin, unserm „groß" vergleichbar, und duren, d. h. das Hohe oder das Gebirge, sind die althochdeutschen Wurzeln, welche ihn zusammensetzen. Gewiss war auch der untere Teil des Vogtlandes von diesem deutschen Stamm bevölkert, während das höhere Gebirge vorherrschend noch unbewohnte Wildnis war. Doch fand noch vor dem Beginne unsrer Zeitrechnung, zwischen den Jahren 8 und 5 vor Christo, ein Auszug der Hermunduren statt; denn in einem Bruchstücke des Dio Cassius wird uns erzählt, dass der Befehlshaber der Donauprovinz, Domitius, „die aus ihrer Heimat ausgewanderten und im Suchen nach einem andern Lande umherirrenden Hermunduren aufgenommen und in einem Teile des Markomannenlandes angesiedelt habe." Obgleich für uns die Geschichte der Hermunduren von da an bedeutungslos zu sein scheint, so mag doch mit wenigen Zügen noch auf ihre spätere Ausbreitung, da aus ihnen ja der Staat der Thüringer hervorging, hingewiesen werden. Durch diese Züge wird uns zugleich ein Aussichtspunkt geöffnet, von dem aus wir das stete Drängen, Vor- und Rückwärtsschieben der Völkerstämme in einem kleinen Teile auf dem deutschen Boden vorüberziehen sehen. Wie an dem Himmel Wolkenmassen in immer neuen Formen rasch vorüberfliegen, wenn die Windströmung sie treibt, wie die Nebelmassen andere gleichsam verschlingen, und nach dem Ineinanderfließen plötzlich fremdartige Gestaltungen hervorgehen, so wanderten die Suevenstämme auf dem Schauplatze der Geschichte; sie tauchten hier und dort zuweilen unter neuen Namen auf und dabei ging vielleicht manch andrer Stamm in ihnen unter. Vielleicht war es der Markomanne Marbod, der, als er sein großes Suevenreich begründen wollte, den Anstoß gab, dass die im heutigen Sachsen angesessenen Hermunduren eine neue Heimat suchten. Sie fanden an der Donau einen Wohnplatz, und zwar bezogen sie zum Teil dieselben Marken, welche kurz vorher die Markomannen, ein Stamm der Sueven, der zu Cäsars Zeit am weitesten nach Süden vorgedrungen war, besessen hatten. Dieselben hatten sich, als in den Jahren 14 und 13 vor unserer Zeitrechnung zum Schutze des römischen Reiches zwischen der oberen Donau und dem Rheine eine Grenzwehr errichtet wurde, weiter in das Innere Germaniens zurückgezogen. — Aber wenn wir auch im ersten Jahrhunderte nördlich der Donau, bis ungefähr nach Regensburg und Passau unzweifelhaft die Hermunduren finden, so tritt doch gegen 250 Jahre später in derselben Gegend das neue Volk der Jutungen in der Geschichte auf, wahrscheinlich hatte es die Hermunduren in sich aufgenommen. In späterer Zeit, 429 ungefähr, verliert sich wieder dieser Name, um der Benennung „Thüringer" Platz zu machen. Aber jetzt verliert sich jeder sichre Anhalt, denn Nichts gibt uns darüber Aufschluss, welche politischen Begebenheiten folgten, um das Reich der Thüringer von der Donau bis zum Harze auszubreiten. Doch ging auch dieses große Volksgebiet der Thüringer bald dem Verfalle entgegen; während sich im Norden der Name nur in engeren Grenzen hielt, ging er im Süden Deutschlands in dem neuen Volksvereine der Bajovarier oder Bayern unter. — Es soll durch diesen kurzen Abriss der ältesten Geschichte eines deutschen Volksstammes, der einst wahrscheinlich, wie oben angegeben wurde, auch einen Teil des späteren Vogtlandes mit bewohnte, nicht bloß ein Beispiel aus der Geschichte der Völkerwanderungen innerhalb der Grenzen Deutschlands aufgestellt werden, sondern derselbe soll zugleich im Voraus die Antwort auf eine Frage geben. Es wird uns nämlich jetzt begreiflich sein, wie in der späteren Geschichte der Staat der Thüringer zum Nachbarstaate des Vogtlandes geworden ist. Als „Hermunduren" verließ das Volk einst seine Wohnplätze im Norden, als Volk der „Thüringer" trat es in späterer Zeit im Westen seines alten Wohnsitzes von Neuem auf.

Wenn angenommen wurde, dass die Hermunduren auch einen Teil des alten Vogtlandes bevölkerten, so kann sich diese Angabe nur auf den untern Teil beziehen, da jedenfalls im Süden, wo sich das Land in Wellenlinien erhebt, und besonders auch in dem jetzt Bayern angehörigen Vogtlande nach Angabe des Tacitus ein andrer deutscher Stamm, der der Narsker oder der Nariscer, sesshaft war. Denn „neben den Hermunduren wohnen die Nariscer und dann die Markomannen und die Quaden", heißt es beim obenangeführten Schriftsteller. Da nun die Markomannen damals Böhmen und die Quaden Mähren inne hatten, so bleibt für die Nariscer das obere Vogtland übrig. Und ebenso erscheint bei Ptolemaeus das Volk der Teuriochaimen, d. h. der längs der Tauern, des Gebirges Heimischen, welches in späterer Zeit genau die ersten Wohnsitze der Hermunduren bevölkerte, eingeschoben zwischen Chatten und Nariscern; die Chatten aber wohnten ungefähr im heutigen Hessenlande.

Das Wort „Nariscer" wird bei Ptolemäus zu „Variscer"; ans alte deutsche „narsk" für Fels, Gebirge, knüpft sich des Volksnamens Bedeutung.

Vom Götterkultus und den Sitten der Nariscer und Hermunduren speziell sind keine Nachrichten gleichzeitiger Schriftsteller uns hinterlassen worden; doch fließt die Quelle reichlich, wenn wir uns nordgermanischen Stämmen zuwenden. Was uns die Edda, das Hauptwerk über nordgermanische Mythologie erzählt. das klingt, wenn auch nur sparsam, in einzelnen Gebräuchen, in Spiel und Namen fort, so dass die Hauptzüge der nordischen Götterlehre auch bei uns aufgefunden werden.

Bei allen deutschen Völkern regierten Odhin oder Wuotan (Wodan) und seine liebenswürdige Gemahlin Frigg das Leben jedes Einzelnen, sowie das Leben der Natur. Sobald die Säfte in den Bäumen aufwärts stiegen, begann der Kampf mit störenden Gewalten und mit Ungeheuern; doch siegreich führten sie des Sommers Herrschaft ein, um sich zurückzuziehen, sobald die Blätter im Herbste wieder von den Bäumen fielen. Frigg zog im Sommer segnend durch die Fluren; es wurde ihr zu Ehren jedes Jahr das Fest der heiligen 12 Nächte, das Juelfest gefeiert, und der Herda, der mütterlichen Erdgöttin, welche wohl nicht selten an ihre Stelle trat, opferte man den wilden Eber. Dass sich das Andenken an Odhin und an Frigg im Vogtlande, wenn auch nur unbewusst, erhalten hat, ist an den abergläubischen Gebräuchen der zwölf Nächte, an den gebackenen Sonnenrädern, die zu Bretzeln wurden, an den Familienbrauch, die Schweine vorzugsweise in der Weihnachtszeit zu schlachten, und ganz besonders auch im Kinderspiele zu erkennen. Jetzt mag nur flüchtig darauf hingewiesen werden, dass in dem später vollständig mitgeteilten Liede:

      „Ringele, Ringele, Rosenkranz,
      Wir saßen auf der Weide
      Spannen klare Seide,
      Ein Jahr, sieben Jahr etc."

der Schatz, d. h. der Bräutigam, der Frühling ist, welcher der Erde einen Blumenkranz bescheert. Die Weide erinnert uns an Odhin, dem sie ja geheiligt war; und so wird der schlichte Kinderreim zu einem interessanten Zeugnisse fürs Frühlingsfest der alten Suevenstämme und für den Kultus ihrer höchsten Gottheiten. Vielleicht ist auch der Gegenwart die Erinnerung an einen Ort, wo in dem Vogtlande das Juelfest gefeiert wurde, in der Jugelsburg bei Adorf erhalten worden; in Reichenbach liegt eine Jugelsmühle, was ebenfalls hier angemerkt sein mag.

Es ist wohl nicht allein die Folge lückenhafter Nachrichten, welche uns über das Wesen der deutschen Gottheiten hinterlassen worden sind, dass wir dort einzelne derselben zu einem Gottwesen vereinigt, hier aber wieder streng auseinander gehalten finden. Vielmehr mag dieses Schwankende vielfach dadurch erklärt werden, dass bei verschiedenen Stämmen der Kultus mehrerer Gottheiten zusammenfiel. Gewiss war dies bei Frigg und Herda so, und daher mochte das Juelfest nicht bloß dem Dienste der ersteren, sondern auch dem der Herda gewidmet sein: vielleicht fiel es auch mit der Feier der Ostara, der Göttin des aufsteigenden Lichts und des strahlenden Morgens, der Bedeutung nach zusammen. Ob das auch in dem Vogtlande vor einigen Jahrzehnten noch gefeierte Frühlingsfest, bei welchem man das Lied sang:

      „Wir alle, wir alle kommen 'raus,
      Und tragen heute den Tod 'naus;
      Komm Frühling wieder mit uns in das Dorf,
      Willkommen, lieber Frühling!"

ein Nachklang des Ostaradienstes ist, wird man wohl schwerlich mit Sicherheit bestimmen können, da auch die Slawen ein Frühlings- oder Totenfest gefeiert haben, das mit dem Dienste der Ziwa, ihrer Göttin des Lebens und der Fruchtbarkeit, zusammenhing.

Wohl können uns das Kinderlied: „Ringele, Ringele, Rosenkranz, wir saßen auf der Weide", sowie die Volksbräuche mit gefundenen Hufeisen, gewissermaßen auch auf den Odhinskultus hinweisen; doch tritt er uns bestimmter in dem Spiele entgegen, bei dem die Kinder singen:

      „Ringele, Ringele, Rosenkranz,
      Wer sitzt drin?
      Der alte Kaiser.
      Was macht er?
      Federn schleißt er,
      Kielen beißt er;
      Trägt die Magd das Wasser ein,
      Fällt der ganze Kessel ein".

Denn hier erscheint uns Odhin als der alte Kaiser in seiner Wolkenburg, ohnmächtig und schwach geworden, da des Winters Herrschaft angegangen ist. Er ist im Kinderspiele zur weibischen Beschäftigung des Federschleißens herabgewürdigt worden; die Federn aber sind die Schneeflocken, welche er herabstreut; und der Schluss des Liedes mag das Gewitter andeuten. (N. Laus. Magazin. 41 B. 1 H. S. 91.)

Land der Vögte 1350

Land der Vögte 1350

Vogtland, Karte von 1662

Vogtland, Karte von 1662