Einleitung

Ist es überhaupt möglich, die menschliche Natur zu
vervollkommnen, so müssen die Mittel dazu in
dem Studium der Heilwissenschaft gesucht werden.
Descartes.

Die Aufgabe des vorliegenden Werkes ist Förderung des Strebens nach Verbesserung der physischen Natur des Menschen und Verhütung der Krankheiten; deßwegen müssen wir zunächst die menschliche Natur im Allgemeinen ins Auge fassen und einiger fragmentarischer Versuche Erwähnung tun, die in dieser Beziehung gemacht worden sind.


Bernardin de St. Pierre hat den Menschen definiert als „ein religiöses lebendes Wesen“ und diese Definition bezeichnet in der Tat seine beiden Haupteigentümlichkeiten. Der Mensch besteht, wie andere Tiere, aus Fleisch und Blut; er ist ebenso mit Gefühl, Bewegung und mit bewundernswürdigen Instinkten begabt; aber außerdem besitzt er noch Etwas, was die Tiere nicht haben: er ist mit Vernunft begabt und fähig, die Gesetze der Schöpfung zu begreifen.

Suchen wir mehr im Einzelnen in die Natur des Menschen einzudringen, so finden wir erstens, dass er lebt, fühlt und sich bewegt; zweitens, dass er begreift, urteilt und beschließt; und drittens, dass er Mitgefühl hat, Wünsche hegt und liebt. Mit andern Worten: das menschliche Leben ist ein dreifaltiges und diese drei Arten der Existenz sind so innig mit einander verbunden, dass sie jedes individuelle Leben zu einer untrennbaren Einheit zusammensetzen. Während wir daher für unsere Aufgabe die Einheit festhalten, müssen wir doch jeden der drei Bestandteile besonders betrachten, welche gegenseitig von einander Zeugnis ablegen; denn alle andern Arten, den Menschen zu erforschen, würden zu einer nur stückweisen, also falschen Kenntnis seiner Natur führen. Wenn wir nur uns selbst ins Auge fassen, oder die Lebensäußerungen derer erforschen, die uns umgeben, so bemerken wir manche Unvollkommenheiten, und ein aufmerksameres Studium wird uns bald überführen, dass alle drei Elemente der Lebenseinheit des Menschen gefahrbringenden Angriffen bloßgestellt sind:

[i[der Körper durch Krankheit und Missbildung;

der Geist durch Unwissenheit, Vorurteil und Täuschung;

das moralische Sein durch mancherlei Fehler und Laster.[/i]

Wenden wir uns von unserem jetzigen Zustande rückwärts und betrachten den Menschen, wie er uns durch die Geschichte dargestellt wird; halten wir uns an geschriebene Dokumente oder an die Mythen aller Nationen und an die Ergebnisse mündlicher Überlieferung, so finden wir, dass alle auf gleiche Weise von einer allmäligen Entartung des Menschen berichten und auf Zeiten zurückweisen, in denen der Körper schöner und mit längerem Leben begabt war, in denen sein Geist durch höhere Einsicht hervorragte und sein Herz von Lastern reiner sich zeigte. Der Glaube an eine Ausartung spricht sich auch durch die mancherlei unvollkommenen Bestrebungen nach Verbesserung aus, welche wir bei den verschiedensten Stämmen des Menschengeschlechts wahrnehmen, sobald sie sich aus einem rohen Zustande zu mehr oder minder vorgeschrittener Zivilisation erheben. Nichts ist für den über sich selbst nachdenkenden Geist so klar, als dass „Körper und Geist einem Wamms mit seinem Futter gleichen, woran das Runzeln des einen auch die Glätte des andern verdirbt.“ Griechische, römische und jüdische Geschichte lehrt, dass mannigfache Versuche gemacht worden sind, jeden einzelnen Bestandteil der menschlichen Natur zu verbessern, che Christus auf die Erde kam.

Die Moral. Der Menschen moralische Entartung hätte durch die Religion wiederhergestellt werden sollen; wenn wir aber einen Blick auf die griechische und römische Geschichte werfen, und sehen, bis zu welchem Grade die moralischen Gefühle in jenen Zeiten heruntergekommen waren, so erkennen wir, dass die Menschen jener Zeiten selbst ihren Göttern alle möglichen Elendigkeiten zuschrieben und dass die Religion damals nicht zur Moralität führte, von welcher selbst die Philosophen jener Zeiten einen nur unvollkommenen Begriff gegeben haben. Aber die moralische Entartung des Menschen blieb dabei nicht stehen. Man hielt es für recht, eine Klasse der Menschen zu Sklaven der andern zu erklären, und die Frauen wurden von der Last der schwersten körperlichen Arbeit, der sie bei barbarischen Stämmen unterworfen waren, nur befreit, um den Lüsten des Mannes zu dienen, ohne je der Fülle des Gefühls seiner Liebe teilhaft werden zu können. Mit Recht mochte daher Plato an einer moralischen Regeneration des Menschen verzweifeln, „wenn nicht vom Himmel, eine Verheißung und eine göttliche Offenbarung komme, worauf der Mensch, wie auf einem vor Schiffbruch sicheren Fahrzeuge, vie Reise des Lebens glücklich zurücklegen könne.“

Der Geist. Dem geistigen Versinken hätte durch die Philosophie abgeholfen werden sollen und in-Griechenland wurde ein glorreicher Versuch dazu gemacht. Neuere Naturforscher und Philosophen in der Tat haben nicht sowohl neue geistige Grundsätze entdeckt, als vielmehr denjenigen neue Namen gegeben, welche von Plato und Aristoteles bereits klar aufgestellt worden waren. Ja in Allem, was Bacon Gutes geleistet hat, folgte er Aristoteles so häufig er auch gegen diesen auftrat, weil er ihn nur durch die scholastischen Übertreibungen seiner Nachfolger kannte. Bacon hielt sich für den Wiederhersteller der Wissenschaften, während Copernicus, Galileo und Vesalius bereits durch ihre großen Entdeckungen den hohen Wert der von Aristoteles aufgestellten Grundsätze bewiesen hatten. Obwohl aber Plato und Aristoteles, diese zwei „Säulen des Hereules“ in der Philosophie, zeigten, bis zu welchem Punkte die Wiederherstellung der geistigen Fähigkeiten durch einige Wenige geführt werden konnte, so war dieß mit Bezug auf die allgemeine Masse der Menschheit doch nur ein unvollkommener Anfang; und die Meisten, welche nachher ihre Zeit dem Studium der Philosophie widmeten, gerieten auf sophistische Spitzfindigkeiten, während die eigentliche Wissenschaft, oder die Kenntnis von der Natur und von den Gesetzen der Materie und der Kräfte des Weltalls nur noch ein toter Buchstabe war.

Der Körper. Während aber die beiden wichtigsten Teile der menschlichen Natur auf einem unvollkommenen Standpunkte geblieben waren, wurde die Pflege der Gesundheit, Kraft und Schönheit des menschlichen Körpers bei den Griechen und Römern unter der Aufsicht der Ärzte auf einen Punkt der Vollkommenheit erhoben, den sie nie weder früher noch später wieder erreicht hat. Lycurg erstrebte den höchsten Grad physischer Kraft und sicherte dieß durch Besichtigung aller neugebornen Kinder, von denen die getötet wurden, welche schwächlich erschienen; er sicherte es ferner dadurch, dass er die Kinder der verweichlichenden Erziehung durch die Mütter entzog, dass er beide Geschlechter abhärtete, dass er keine Ehe vor vollständiger Reife des Körpers zuließ und Dichtkunst und Musik untersagte, außer die der ernsten Art. — Athen strebte ebensowohl nach Schönheit als nach Stärke und hier wurden die gymnastischen Übungen durch Kunst und Beredtsamkeit gemildert, aber auch dabei waren die ersteren doch immer noch die Hauptsache. Berücksichtigen wir dagegen die geringe Wichtigkeit, welche wir bei dem jetzigen Stande der Zivilisation den Spielen der Jugend beimessen, und wie wenig Interesse die Mehrzahl der Männer am Ballspiel und an andern körperlichen Übungen nehmen, so können wir uns jetzt kaum vorstellen, dass die Gymnasien.*) und öffentlichen Bäder fast die wichtigsten Anstalten in den Städten des alten Griechenlands und Roms waren und dass in diesen Jahr aus Jahr ein die Reichsten und Talentvollsten sich versammelten, um entweder an den Übungen Teil zu nehmen oder mit innerstem Interesse den Leistungen Änderer zuzusehen. Wir wissen, dass an diesen Anstalten Ärzte auf das Genauste die Übungen leiteten und die Nahrung der Knaben überwachten, wie man es jetzt noch in England für etwa ein halbes Hundert Boxer und Jockey's tut. Ja, noch mehr! die körperliche Ausbildung hatte ihre Pythische Festfeier zu Delphi und wurde verherrlicht durch den lebensvollen Marmor des Phidias und unzähliger uns unbekannter Bildner, deren wieder ausgegrabene Werke unsere Gallerien schmücken und uns zeigen, was durch sorgfältige Körperpflege für Gesundheit und Schönheit des Körpers erreicht werden kann. Auch die öffentliche Gesundheitspflege war Gegenstand besonderer Sorgfalt. Varro und Vegetius gaben uns die Überzeugung von der Wahrheit einer Lehre, die ebenso durch die riesenmäßigen noch bestehenden öffentlichen Denkmale Roms, wie dadurch bewiesen wird, dass Griechen und Römer die Mittel kannten, wie man große Armeen plötzlich aus einem Klima in ein anderes versetzen konnte, ohne dass sie durch epidemische Krankheiten dezimiert wurden, welche bekanntlich immer die Nichtbeachtung der Regeln der allgemeinen Gesundheitspflege rächen. Während aber in Griechenland die Vorschriften der Medizin so zum ersten Male zum Schutz der Gesundheit der Menschen benutzt wurden, bemerken wir, dass schon vorher durch die Gesetzgeber der Juden das noch erstaunenswürdigere Resultat erlangt worden war, dass das Volk, welches deren Gesetze und Gesundheitsregeln beobachtete, eine Lebensdauer erlangte, welche bei andern Nationen unbekannt war und geblieben ist. Ja es scheint, sogar, als wenn die Beobachtung dieser Gesetze die Juden häufig noch beschützt habe, als sie von den Epidemien des Mittelalters umgeben waren. Und — wenn wir berücksichtigen, dass in allen christlichen Ländern die große Masse immer in dauerndem nnd verjährtem Schmutze vegetiert, so können wir es nur beklagen, dass die Reinlichkeit dem Christen nicht ebenso als ein Teil der religiösen Pflichten vorgeschrieben worden ist, wie dem Juden und Muselmann.

[i]*) Anstalten für die körperlichen Übungen der Jugend, die dabei unbekleidet war.[/b]

Es würde uns aber zu lange aufhalten, wollten wir beweisen, dass dieß der erfolgreichste Versuch war, der jemals gemacht worden ist, den Zustand der Menschen zu verbessern. Denn während im Einzelnen und Allgemeinen über die Gesundheit des Körpers sorgfältig gewacht wurde, blieb der Geist nicht ungebildet und die moralischen Gefühle wurden durch dieselben Grundsätze geleitet, welche auch jetzt noch uns führen sollen.

Unter der Regierung des Augustus und als, den Griechen nachfolgend, die Römer der verfeinerten Ausbildung aller physischen Eigenschaften des Menschen ihre ganze Aufmerksamkeit zugewendet hatten, kam Christus auf die Erde. Betrachten wir dieses Ereignis auch nur von dem philosophischen Gesichtspunkte aus, so müssen wir doch zugeben, dass es das Wichtigste war seit Erschaffung der Welt. Dennoch lässt sich nachweisen, dass für eine Zeit lang dadurch die Hygiene in Vernachlässigung geraten ist. Moral und geistige Erhebung nahmen plötzlich einen großen Aufschwung, aber gerade, weil die Heiden die Rücksicht auf das körperliche Wohl so sehr gesteigert hatten, wurde sie von den Christen geflissentlich verworfen. Gymnasien und öffentliche Bäder, in denen die Christen heidnische Missbräuche sahen, wurden verboten, und so begann die Entfremdung von aller Sorgfalt für die Kultur des Körpers; missverstandene Stellen der heiligen Schrift veranlaßtcn die Christen, den Körper gering zu achten, zu kasteien und ihn allem Elende des Schmutzes und der Not auszusetzen. Jahrhunderte hindurch wurde dieses System der Selbstmarterung für verdienstlich und Gott wohlgefällig gehalten, ja man spürt noch im 19. Jahrhundert selbst in protestantischen Ländern die Nachwirkung darin, dass alle Sanitätsreformen so schwer durchzuführen sind, und dass man im Allgemeinen so große Abneigung vor dem Baden zeigt. Wie aber die Einzelnen sich vernachlässigten, so blieb auch die öffentliche Gesundheitspflege unberücksichtigt. Man baute die Städte ohne alle Rücksicht auf Reinlichkeit so, als hätte man geradezu die Absicht, die allgemeine Gesundheit zu untergraben, und die Folge davon ist, dass die Christen von je und auch jetzt noch durch die schrecklichsten Epidemien heimgesucht werden. — Als aber durch Minderung des religiösen Eifers und durch Zunahme der Aufklärung die fanatische Verfolgung des Körpers aufhörte, folgte eine lange Zeit der Nachlässigkeit in Allem, was Gesundheit, Schönheit und langes Leben fördern konnte; und — über diese Periode sind wir noch nicht hinaus. Hippokrates ist zwar der Führer der Ärzte geworden, aber trotz der Wichtigkeit, welche er den Regeln zur Erhaltung der Gesundheit beilegt, haben sich die christlichen medizinischen Fakultäten doch dem allgemeinen Vorurteile ihrer Zeiten gefügt, so dass erst zu Ende des vorigen Jahrhunderts der erste Lehrstuhl der Hygiene (in Frankreich) errichtet wurde, und 1778 konnte Dr. Th. Beddoes noch sagen: „Eine Lehre von der Verhütung der Krankheiten, dieser im Innern der Familie waltende Schutzengel des Kindes, Jünglings, Mannes und Greises, existiert noch nicht.“ Mc. Culloch in seinem Bericht über das Britische Reich (II. p. 712) gibt indeß doch eine erfreuliche Übersicht über die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit während der letzten zwei Jahrhunderte.

In den Jahren starben jährlich vom Hundert
1629 — 1635 5,000
1660 — 1679 8,000
1728 — 1757 5,200
1771 — 1780 5,000
1801 — 1810 2,920
1831 — 1835 3,200
1831 — 1841 2,522
1851 2,340

Die großen Verbesserungen in den Sanitätsverhältnissen, welche durch die Medizin in den letzten 50 Jahren herbeigeführt worden sind, zeigen sich auch in andern Ländern; so war in Frankreich am Schlusse des vorigen Jahrhunderts die mittlere Lebensdauer noch nicht 29 Jahre, während sie jetzt 33 beträgt. — Folgende Tabelle aus Mc. Cullochs Statistik zeigt sehr schlagend den Fortschritt, den im vorigen Jahrhundert die Pflege der Kinder gemacht hat.

1730—49 1750—69 1770—89 1790—1809 1810—29
Gesammtzahl der Gebornen 315,156 307,395 319,477 388,393 477,910
Todesfälle unter 5 Jahren 235,087 195,094 180,058 159,571 151,794
Prozentverhältnis der Todes-
fälle unter 5 Jahren 74,5 63,0 51,5 41,5 31,8

Dieser Fortschritt von 74 Procent zu 31 Procent geht nach den öffentlichen Listen noch immer weiter und es beträgt die Prozentzahl der Todesfälle unter 5 Jahren jetzt nur 25,8.

Während wir aber anerkennen, was bereits getan worden ist, dürfen wir nicht blind sein für das, was noch zu tun bleibt; die allmälige Verlängerung der mittleren Lebensdauer in Großbritannien oder in andern Ländern beweiset nicht, dass eine große Verbesserung in der Lebensweise der gebildeten Klassen eingetreten sei, sondern nur, dass die Verhältnisse der großen Masse der Nationen, der niedern Stände, sich beträchtlich gehoben haben. Ebenso beweist die Abnahme der Sterblichkeit der Kinder keineswegs, dass dieselben in den gebildeten Klassen jetzt besser aufgezogen werden, als vor 50 Jahren, sondern nur, dass die dem zartesten Alter gefährlichen Einflüsse bei den niedern Klassen verbessert worden sind und dass man die Gesundheitspflege der Kinder in Gebärhäusern und Findelhäusern besser kennen gelernt hat.

Die Furcht vor der Cholera hat in England einen Gesundheitsrat (Board of Health) hervorgerufen, und in andern Ländern wenigstens die Aufmerksamkeit der Behörden auf diese Gegenstände gelenkt. In London spricht man seitdem viel von Reinigung der Themse, von Zuleitung reinen Trinkwassers, man hat die Schlachtstätten aus der Nähe der Wohnungen entfernt, die Beerdigungen innerhalb der Städte verboten und viele andere Sanitätsverbesserungen durchgeführt, sobald nur das Publikum von ihrer Notwendigkeit überzeugt war. Wenn man aber dennoch überall noch über mangelhafte Zustände der öffentlichen Gesundheitspflege zu klagen hat, so ist ohne Zweifel die Unbekanntschaft mit den besten Mitteln zur Verbesserung und Bewahrung der Gesundheit der Einzelnen, als der Hauptursache dieses mangelhaften Zustandes der Zivilisation unserer Zeit, daran Schuld; denn dadurch wird das Glück der Familien untergraben und die Zahl und Heftigkeit erblicher Leiden gesteigert.

Manche unserer Ansichten über die modischen Vergnügungen unserer modernen Gesellschaft werden freilich vielen unserer Leser utopisch vorkommen; aber wir möchten dieselben doch zu einiger ernsten Überlegung auffordern, wenn sie sich mit der Frage beschäftigen: „Ob sie mit den jetzigen Zuständen der menschlichen Gesellschaft ganz zufrieden seien? und ob sie trotz unserer vorgeschrittenen Zivilisation nicht noch einen Fortschritt zu natürlicheren und vernünftigeren Zuständen wünschen?“ Vernünftigerweise kann man nicht anders, denn es hilft nichts, für Grundsätze blind zu sein, weil dieselben mit der Mode streiten. — Überfeinerung (wie sie unsere Tage zeigen) ist in der Tat nicht Zivilisation, sie bildet vielmehr nur das Gegenbild zur Barbarei: bei dieser ist der Körper in der Regel kräftig und der Geist ruht, bei Überfeinerung sind Geist und Körper in gleicher Weise verdorben; beide aber sind von einander abhängig und eine Zerrüttung des einen ist immer Ursache der Störung der Gesundheit des andern.

Ohne Zweifel verdienen die moralischen Gefühle jede mögliche Befestigung und nicht minder die geistigen Fähigkeiten jede mögliche Hebung, die mit der Gesundheit zu vereinigen ist, aber der Körper verdient nicht minder die vollkommenste Ausbildung und Pflege.

Zu allen Zeiten haben die Philosophen und Ärzte nach Mitteln zur Verbesserung des Körpers und zur Verlängerung des Lebens geforscht; Philosophen (wie Lord Bacon) haben diesen Zweck durch das Salz, andere durch die Oralsäure oder noch seltsamere chemische Zusammensetzungen zu erreichen gemeint, aber schon der gemeine Menschenverstand erklärt sich für den Satz von Descartes:

„Verbesserung der menschlichen Natur kann nur von der Heilwissenschaft ausgehen!“[/b[

Nur der Arzt kennt den Menschen ganz. Er wird über ihn befragt, noch ehe er geboren ist; er empfängt ihn in der Nacktheit des Kindes; er muss seinen Rat über die Erziehung erteilen; er ist der Vertraute der Freuden und des Wehes der Erwachsenen und auch in später n Jahren sucht man seinen Rat, seine Teilnahme. Ein griechischer Philosoph und Arzt (Hierophilus) nannte daher, im Gefühle der Wichtigkeit seiner Aufgabe, den Arzt „die Hand Gottes.“

Das wichtigste Mittel aber zur Verbesserung des Menschengeschlechts ist vor Allem in der

[b]Verbesserung der Gesundheit des Weibes


zu suchen, denn das Weib ist die Form, in welcher die menschliche Natur geformt wird. Diese Idee ist nicht neu. Schon Lycurg war von ihrer Wahrheit überzeugt und verlangte daher eben so große Sorgfalt für die Kräftigung der Frauen, wie für die der Männer. Schwächliche und zarte Frauen haben schwache Kinder, welche, wenn sie auch die Kinderjahre überleben, dennoch ihr ganzes Leben hindurch schwächlich bleiben. Nicht weniger aber zeigt sich der Einfluss der Konstitution der Mütter auch in ihrem Einfluss auf den Geist des Kindes, und Napoleon sagte mit Recht, dass das künftige Geschick eines Kindes immer das Werk seiner Mutter sei; und in der Tat, wer wollte es leugnen, dass die Festigkeit der moralischen Grundsätze während des ganzen Lebens hauptsächlich von der Art und dem Ernste abhängt, womit diese Grundsätze von der Mutter eingeprägt worden sind?

Darin besteht der Einfluß des Weibes auf das Menschengeschlecht. Bevor wir indeß auf seine jetzige Stellung eingehen, müssen wir uns erinnern, was uns die Geschichte über sein Schicksal in der menschlichen Gesellschaft lehrt.

Bei den Barbaren (sonst und jetzt) ist das Weib die Sklavin des Mannes; sie tut alle harte Arbeit, während der Mann kämpft oder die Zeit des Friedens in Trägheit verbringt; höchstens erhebt sich das Weib des Barbaren, wenn ihm auch die Arbeit erlassen ist, zum Gegenstande des Vergnügens; es bleibt ihr aber der Genuss ihrer natürlichen Rechte, ja sogar die Aussicht auf die ihrem Mann verheißene künftige Glückseligkeit versagt. Schönere Zeiten brachen an durch das Christentum; der Erlöser und seine Jünger lehrten die Achtung vor den Frauen, und nur durch die christliche Lehre war es möglich, dass ein Dichter ohne Übertreibung von den Frauen sagen konnte:

„Compagnes d’un époux, et reines en tous lieux,
Libres sans déshonneur, fidèles sans contrainte,
Et ne devant jamais leur vertu à la crainte.“


Die Christen aller Zeiten haben, eben so wie wir jetzt, „die Ansicht gehabt, dass das Weib mit denselben Fähigkeiten begabt sei, wie der Mann; dass, während einzelne Eigenschaften beim Manne mehr ausgebildet seien, andere eine höhere Ausbildung beim Weibe erlangen; dass aber im Ganzen das Weib doch so geartet sei, dass es vom Manne abhängig bleibe. Diese Abhängigkeit ist in der Tat in der Organisation der Frauen so klar ausgedrückt und so allgemein zugegeben, dass die Frau, welche als die glücklichste auf dieser Erde betrachtet wird, niemals ganz unabhängig gestanden hat, indem sie aus der elterlichen Obhut unmittelbar in die des Gatten überging.

Was also ist die Bestimmung der Frau? Sie soll nicht bloß die matrix sein, die Form, in welcher die Menschheit geformt wird, sondern auch die nutrix, die Haupternährerin und Erhalterin der Menschheit, es mag das Kind die Milch suchen in ihrer Brust, oder der Leidende die wachsame Sorgfalt der Liebe bedürfen, um den Weg der Genesung zurückzufinden. Wenn wir demnach von der stolzen und hohen Stellung der Frauen sprechen, so bezieht sich dich nicht bloß auf Empfängnis, Geburt und Aufziehen des Kindes. Die Frau ist die Mutter des Geistes ebensowohl als des Körpers ihres Kindes, sie hat ihr Auge über dem Erwachen des Kindes, sie lehrt es sich selbst erkennen und seine schlummernden Gedanken durch die Sprache rund geben; sie ist überdieß die Mutter des moralischen Menschen, sie entwickelt die moralischen Keime, die jeder Mensch auf diese Welt mitbringt, und befestigt in dem jungen Gemüt Empfindungen und Gesinnungen, welche nie wieder ausgerottet werden können.

Aber nicht alle Frauen sind bestimmt, Mütter zu sein, und man würde einen sehr engen Begriff von der Bedeutung der Frauen in der menschlichen Gesellschaft haben, wollte man sie für unnütz achten, wenn sie nicht Mütter sind. Die Menschheit ist nicht bloß ein Geschlecht, welches unsterblich fortgepflanzt werden muss, sondern sie ist auch ein Kranker, bedeckt mit Geschwüren, ausgemergelt durch Fieber, Monate und Jahre auf dem Siechbette sich hinquälend. Wer anders als die Frau kann an der Seite des Unglücklichen wachen, wer kann seine Qualen mildern, wer Linderung in seine Seele gießen und ihn wieder zum Leben zurückführen? Ist es nicht eben so verdienstlich, Leben zu erhalten, als Leben zu geben? Dieß aber können fast alle Frauen tun, dieß leisten sie fast alle, verheiratet oder nicht verheiratet. Deßwegen, ohne Zweifel, haben auch die Frauen eine größere Lebenszähigkeit als die Männer, deßwegen sind immer mehr Frauen auf der Welt als Männer.

Die größere Lebenszähigkeit der Frau beschränkt sich nicht bloß auf Europa oder auf gemäßigte Climate; Hr. Tulloch weist nach, dass in Westindien die schwarzen Frauen dem Fieber mehr widerstehen, als die Männer, und Humboldt hat dasselbe rücksichtlich der eingebornen Stämme von Mexico angeführt. Der Erstere erwähnt auch als einer durch Gründe schwer zu erklärenden Tatsache, dass Europäerinnen weniger von dem tropischen Klima leiden, als ihre Männer. Als Bestätigung des angedeuteten Gesetzes ist zu bemerken, dass, wenn eine Nation dem Aussterben entgegen geht, die Zahl der Weiber geringer wird, als die der Männer. Dieß ist jetzt der Fall bei den Eingebornen von Australien, und besonders bei dem Maori-Stamm auf Neu-Seeland, wie Dr. Wilson, der Kolonialwundarzt, in seinem offiziellen Gerichte angibt. Was davon auch die Ursache sein mag, es scheint eine Anordnung der Vorsehung zu sein; denn ebenso wie bei den Bienen eine große Menge unvollkommen entwickelter Weibchen (als Arbeitsbienen und sogenannte Geschlechtslose) zum Wohlbefinden und zur Fortpflanzung des ganzen Schwarmes unentbehrlich ist, so scheint auch beim Menschen eine Überzahl von Frauen, die nicht berufen sind, Mütter zu werden, dennoch für die Wohlfahrt des Menschengeschlechts notwendig, indem die Frauen den Mängeln abhelfen, die Schwäche unterstützen und das Rauhe mildern und ausgleichen.

Aber sorgen wir auch, dass das weibliche Geschlecht seinen klar hingestellten Pflichten genügen könne, — dass die Frauen möglichst viel Wohlsein und Glück um sich verbreiten? Bezüglich der Ausbildung der moralischen Empfindungen ist nicht viel für ihre Verbesserung zu tun; in Bezug auf die geistige Entwickelung dagegen lässt sich in der Tat nachweisen, dass noch große Fortschritte möglich sind. Die nicht heiratenden Frauen sollten daher nicht länger, wie dieß jetzt zu ihrem großen Nachteile für das körperliche Wohlbefinden geschieht, ohne alle geistigen Hülfsquellen gelassen werden. Die physischen Fähigkeiten des Weibes werden häufig in der Kindheit nur unvollkommen entwickelt, in der Zeit der Mannbarkeit werden sie durch Unwissenheit und Vorurteil nicht minder häufig gestört, wie während der dem weiblichen Geschlechte eigentümlichen Funktionen und nach deren Aufhören. Und doch darf man nicht übersehen, dass die körperliche Gesundheit des Weibes die beste Basis ist für ihre Geisteskraft und moralische Stärke, und dass darauf eigentlich die kräftige Entwickelung der Familien, der Nationen, ja der ganzen Menschheit beruht.

Die vergleichungsweis größere Wichtigkeit der Zeugungsorgane beim weiblichen Geschlechte ergibt sich deutlich aus den öffentlichen Registern, woraus hervorgeht, dass unter 100.000 Todesfällen jeder Art nur wenige beim Manne von Krankheiten der Reproduktionsorgane abzuleiten sind, während beim weiblichen Geschlechte ungefähr 20.000 davon berzuleiten sein sollen. Diese Berechnung bezieht sich auf Frauen aller Klassen, aber es ist wahrscheinlich, dass aus verschiedenen Gründen die Frauen der höheren Stände in demselben Verhältnisse mehr daran leiden, als der Standpunkt der Zivilisation, den sie einnehmen, ein höherer ist. Diese Annahme lässt sich allerdings nicht durch Zahlen belegen, aber wir können die Einwirkungen der zahlreichen Einflüsse der Zivilisation auf die Gesundheit der Frauen daran abmessen, dass wir die relative Sterblichkeit beider Geschlechter der ganzen Population eines Landes mit den Erfahrungen der Versicherungsgesellschaften vergleichen, welche nur aus den Reihen der Wohlhabenden entnommen sind.

Die größere Lebenstenakität bei Frauen als bei Männern ist bereits erwähnt, was eben so viel heißt als: es sterben jährlich verhältnismäßig mehr Männer als Frauen. Diese Regel aber ist bei den höhern Klassen umgekehrt, denn nach der übereinstimmenden Erfahrung von 17 Versicherungsgesellschaften mit 93.905 Versicherungen ist die Sterblichkeit zwischen 20 und 50 Jahren bei dem weiblichen Geschlechte beträchtlich größer als beim männlichen Geschlechte, obwohl die Vorsicht bei der Aufnahme bei allen vollkommen gleich war. Vom 50. Jahre aufwärts aber wird die Sterblichkeit der Frauen geringer, als die der Männer. Nach dieser Erfahrung berechnen alle Versicherungsgesellschaften, mit der einzigen Ausnahme des „Adler“ (the eagle), für das Leben einer Frau dieselbe Versicherungsprämie wie für das eines Mannes und sie haben dazu alle Veranlassung, so lange das schöne Geschlecht so wenig Aufmerksamkeit auf die Erhaltung seiner Gesundheit verwendet.

Wenn es nun also Regel ist, dass jährlich mehr Männer als Frauen sterben, und wenn sich diese Regel während der Zeit vom 20.—50. Jahre, oder, mit andern Worten, während der ganzen Dauer der Tätigkeit der Zeugungsorgane zum Nachteile der höhern Klassen umkehrt, so ergibt sich schon daraus der Beweis, dass die dem weiblichen Geschlechte eigentümliche Funktion einer sehr schlechten Behandlung ausgesetzt sein muss. Wohlhabende Frauen haben eben so gute oder vielmehr bessere ärztliche Hülfe, als arme Frauen, und alle übrigen Verhältnisse scheinen die Erhaltung ihrer Gesundheit eher zu fördern. Es muss also offenbar irgend ein noch unbekannter nachtheiliger Einfluss obwalten, dass es zu so traurigen Erfolgen kommen kann. Hängt dieß nicht größtenteils von den schwächenden und entnervenden Moden ab, welche die Erziehung des weiblichen Geschlechtes bestimmen, und von der Unwissenheit, in welcher die Frauen über die geeignete Behandlung ihres Körpers erhalten werden?

Diese Bemerkung ist nicht neu, denn schon 1838 sagte Mad. Necker de Saussure in ihrem Werke über Erziehung: „Die Opfer des Müttern, selbst zu säugen, weil dieß Beide, Mutter und Kind, zu sehr schwächen würde; zahlreiche orthopädische Anstalten (zur Heilung der Verkrüppelungen) — traurige und unsichere Heilmittel gegen die Mängel der Erziehung — sind Beweise der traurigen Folgen. Wie kommt es, dass in unserer durch die Fortschritte der Heilwissenschaft sich auszeichnenden Zeit die Anwendung der Regeln der Gesundheitspflege bei den Frauen noch so weit zurück ist, — gerade bei derjenigen Hälfte der großen menschlichen Familie, von welcher die Gesundheit des ganzen Geschlechts so wesentlich abhängt? Von dieser Hälfte haben wir entweder eine gesunde und kräftige Generation oder ein schwaches, mattes, entnervtes und der Herrschaft einer übermäßig nervösen Reizbarkeit dahingegebenes Geschlecht zu erwarten, wie es so viel Mädchen und Frauen unserer Tage repräsentiren.“

Die Hygiene des weiblichen Geschlechts ist in der Tat noch sehr weit zurück, darüber sprechen sich gewichtige medizinische Stimmen bei jeder Gelegenheit aus. Es erklärt sich der Mangel einigermaßen dadurch, dass eine Schwierigkeit in der Förderung dieser Aufgabe darin liegt, dass das Zartgefühl die Aufklärung über die den Frauen eigentümlichen Funktionen wesentlich erschwert und dem Vorurteil und der blinden Routine das Feld ungeschmälert lässt. Aber Schwierigkeiten, ja selbst die Unmöglichkeit vollständigen Erfolges können nicht als zureichende Gründe betrachtet werden, uns abzuhalten, dass wir uns wenigstens bestreben, über diejenigen Seiten des Körperlebens zu belehren, von deren ungestörter Tätigkeit nicht bloß die Gesundheit des Körpers, sondern auch ein ungestörter Zustand des Geistes und die Kraft, die natürlichen Triebe in den rechten Gränzen zu halten, abhängt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hygiene des Weiblichen Geschlechts, Buch 1