Was mir der Rittmeister von dem Rügenschen Kraftfutter vorhergesagt hatte

Was mir der Rittmeister von dem Rügenschen Kraftfutter vorhergesagt hatte, fand ich bestätigt; ich lebte nach meiner Empfindung wie im Schlaraffenlande und es kostete mich jedesmal einen gewissen Entschluss, zu der Zeit, die ich mir dazu gesetzt hatte, an meine Arbeit in der Bibliothek zu gehen.

Diese war in dem ersten Stock des alten Turms, in einem ziemlich großen, gewölbten Gemach gelegen; sie bildete ein wirres Durcheinander von größtenteils recht wertlosen Scharteken; nur die Anschaffungen der jüngsten Vergangenheit waren einigermaßen beieinander gehalten, in einer früheren Periode waren einmal sämmtliche Bücher, wie es schien, lediglich nach ihrer Größe geordnet worden und später hatte man auch dieses rohe System an einzelnen Stellen ohne erkennbaren Grund durchbrochen.


Den Hauptinhalt der Masse nach bildeten staatsrechtliche Streitschriften von schauerlicher Weitschweifigkeit, wie sie besonders das 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland so überreichlich hervorgebracht hat, eine Frucht der jämmerlichen Zerrissenheit des heiligen römischen Reichs; zwischenein war manche Perle der englischen und französischen Literatur verstreut, aus der deutschen klassischen und neueren Zeit war sehr wenig vorhanden, außer Wieland eigentlich nur noch Romane von geringem Wert. Die allen Klassiker fehlten fast ganz, dagegen fand sich eine Menge theologischer Schriften vor, besonders jener traurigen Produkte des 17. Jahrhunderts, in denen sich die verschiedenen evangelischen Konfessionen zu Gottes Ehre herunterrissen, dass es eine Art hatte.

Nach etwa 14 Tagen hatte ich wirklich schon Ordnung und Übersicht in dieses Chaos gebracht, nur gewisse halbzerrissene halbmottenzerfressene Buchtrümmer, die in einem Winkel beisammen lagen, hatte ich noch unberührt gelassen; ich scheute mich fast davor, den Staub aufzurühren, der darin stecken musste. Endlich fasste ich mir auch dazu ein Herz; ich erlaubte mir sogar, etwas dreist dabei zu verfahren. Ich ließ ein Feuer in dem gewaltigen Kachelofen anzünden, der im Zimmer stand und zum Glück noch Zug hatte, und weihte alles das, was nur als schädlicher Ballast anzusehen war, der Vernichtung; nur wenige Stücke entgingen diesem Schicksal. Mir war ganz wohl zu Mute, als ich immer mehr Lust und Licht in jenen finsteren Winkel brachte.

Nun war ich ja fertig. Da lag nur noch ein kleines Bündel, sonderbarer Weise in ein Stück gröbster Leinenwand geschlagen, die dem Zerfallen schon nahe war. Als ich diese Hülle etwas summarisch beseitigt hatte fand ich darin ein paar leidlich erhaltene Bücher, ein paar zusammengerollte beschriebene Blätter, die durch irgend einen Zufall so von der Nässe gelitten haben mussten, dass die Schrift darauf nur noch an sehr wenigen Stellen zu entziffern war, und ein Büchelchen mit Lederdecke - ein Taschenbuch nennt man’s heute - ziemlich angefüllt mit lateinischen Versen ; dies war in vollkommen gutem Zustande.

Erfüllt von der Absicht, mit allem Schurrmurr aufzuräumen und da mein Feuer zu verlöschen drohte, griff ich zuerst nach der Rolle mit den unleserlichen Blättern; so weit möglich musste ich doch erst feststellen, worauf ihr Inhalt Bezug haben könnte. Da waren auch bald ein Paar Zeilen, die sich entziffern ließen - hm - eine Handschrift etwa aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts - lateinischer Text - Verse. Und die Verse waren mir bekannt, nur konnte ich nicht gleich sagen, woher sie wären. Ich finde noch ein Paar andere Stellen, die nicht ganz verwaschen waren - jetzt kannte ich das Gedicht; ich hatte mich vor Kurzem noch selbst damit beschäftigt; es war eine von den Elegien des Tibullus an Delia. Nun, vielleicht enthielt die Handschrift in ihrem lesbaren Teil doch noch eine merkwürdige Variante; ich ließ also für diesmal das Feuer ausgehen.

Ich legte die Rolle bei Seite und nahm die Bücher vor; sie waren in Schweinsleder gebunden und kleinen Formats, Ausgaben aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts, die Hirtengedichte des Virgil und die Metmorphosen des Ovid - nichts Besonderes, aber immerhin des Aufhebens wert. Im Begriffe, sie ebenfalls zurückzulegen, durchblättere ich sie noch einmal ohne eigentliche Absicht und entdecke auf dem vordersten weißen Blatt des Ovid einen Namen mit schon ganz gelbgewordener Tinte geschrieben. Ich sehe näher zu und noch einmal näher - ist das möglich? - da steht, noch durchaus leserlich: „Ulrichus Huttenus Grypswoldiae 1509“, und auf dem ersten Blatte des Virgil ebenso!

Sie können denken, mit welcher Hast ich nun nach dem kleinen Taschenbuche griff, dem letzten Stück aus jenem leinenverpackten Bündel. Auch hier auf dem ersten Blatt derselbe Name und dann, fast das ganze Büchlein füllend, eine Reihe van Gedichten in elegischem Versmaße in einer zwar krausen und ungleichen, doch immer ganz lesbaren Handschrift. Was ich bei dem ersten Aufschlagen las, machte den Eindruck einer Reisebeschreibung; ein Epilog, an Eobanus Hessus gerichtet, bestätigte mir das ausdrücklich, zugleich, dass ich wirklich ein Huttensches Werk vor mir habe; dazu die Orts- und Zeitbestimmung; Greifswald 1509 - hier war die Lösung des Rätsels, das mich in Rostock soviel beschäftigt hatte!

Ich war fürs Erste durch den herrlichen Fund so außer mir geraten, dass ich mir’s gar nicht zutraute, gleich mit dem Durchlesen desselben zu beginnen. Ich schlug die zusammengehörigen Stücke sorgfältig wieder in ihre leinene Hülle und trug das Bündelchen in mein Wohnzimmer, um es dort später mit Ruhe zu durchforschen. Dann nahm ich Hut und Stock und ging erst ein Paar Stunden in Feld und Wald umher, bis mir körperliche Ermüdung die nötige Seelenruhe gebracht hatte.

Wie ward mir erst - Sie werden’s verstehen - als ich durch die Hutten’sche Dichtung nicht allein die Lücke in seiner Lebensgeschichte, zwischen dem Frühling und dem Spätherbst 1509, ausgefüllt fand, nein, auch als zweifellos festgestellt annehmen durfte, dass der Dichter während eines Teils dieser Zeit Gast bei dem damaligen Herrn derselben Burg gewesen war, in der ich mich jetzt aufhielt. Ich konnte mit Sicherheit das unter dem Dache des alten Turms gelegene Zimmer bezeichnen, welches er bewohnt hatte; ich unterließ es nicht, es säubern und einigermaßen wohnlich herrichten zu lassen und habe manche weihevolle Stunde darin gesessen, während ich für mich eine Abschrift der Hutten’schen Elegien nahm und dann in meinen letzten Ferientagen, da ich meine arbeiten in der Bibliothek beendet hatte, es unternahm, eine metrische Übersetzung davon zu fertigen.

Das Original selbst sowie die Hutten’schen Bücher und jene Handschrift des Tibullus, in der ich etwas Bemerkenswertes nicht entdeckte, brachte ich wieder in der Bibliothek unter, sorgte aber für bessere Konservierung des kleinen Schatzes und trat dann nicht einen Tag früher, als ich musste, meine Heimreise an.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hutten in Rostock