So stand man nun doch vor einem kleinen Scharmützel

So stand man nun doch vor einem kleinen Scharmützel; denn dass Professor Nesselmann seiner Frau zu Hilfe kommen würde, war bestimmt zu erwarten; schon hatte er mit einem kurzen Ruck, wie er im Ärger pflegte, den Kopf in die Höhe geworfen. Solche peinliche Momente waren in unserer Gesellschaft leider nicht zu selten und die beiden jungen Mädchen, deren Väter immer wie die geladenen Pulverminen einhergingen, hatten schon lange den Oberlehrer Flügel, der für eine Vertrauensperson alt genug war, gebeten, im Falle der Not Hilfe zu leisten. Dieser freundliche Herr, durch Fräulein Agricola leicht in den Arm gekniffen, nahm denn auch jetzt das Wort, ehe Professor Nesselmann zum Angriff gelangte.

„Mir scheint, meine Herrschaften“, fing er an, ,,Als ob zur Lösung einer solchen Frage die Darstellung eines einzelnen Falles förderlicher ist, als die abstrakte Erörterung. Von dem Platz, auf welchem ich hier sitze, habe ich gerade über die Warnow und den Breitling hinweg ein so hübsches Bild der Türme von Rostock, dass es unbegreiflich wäre, wenn ich nicht an einen selbsterlebten Fall von Suchen und Finden erinnert würde, der mit meinem ersten Aufenthalt in jener guten Stadt eng zusammenhängt, sein Ende freilich an einer anderen Stelle fand. Ist es Ihnen Recht, so mache ich Ihnen Mitteilung davon. Die Stunde, die uns noch bleibt, ehe die Sonne sinkt, reicht eben dazu aus. Sie müssen mir nur gestatten, vorher aus meinem Zimmer eine kleine Hilfe zu holend


Die jungen Mädchen, von dem Herrn Lieutenant unterstützt, gingen mit solchem Enthusiasmus auf den Vorschlag ein, dass die beiden kampflustigen Professoren vorerst gar nicht zu Wort kamen. Also erhob sich der Oberlehrer Flügel und ging eiligen Schrittes die Mole entlang nach seiner nahe gelegenen Wohnung.

Einen wunderlichen Anblick gewährte der Herr Oberlehrer; er pflegte seine lange dünne Figur in ein auffallend kurzes Röckchen zu kleiden, das er stets offen trug, so dass, da er im Gehen kurze aber sehr schnelle Schritte machte, die Schöße sich immer in flatternder Bewegung befanden. Dazu trug er seinen hohen Zylinderhut nach vorn gerichtet und im Nacken machte sich ein starker Schopf seines schon graugemischten Haupthaars bemerklich. Aus seinem glattrasierten Gesicht trat die Nase weit vor. Der heruntergeklappte Hemdkragen ließ seinen Hals noch länger erscheinen als er wirklich war. Bei seinem halb laufenden Gange bewegte er die Arme wie Ruder oder Flügel und erinnerte so an einen Kiebitz oder Strandläufer aus vorsündflutlicher Zeit.

Auch diesmal unterließ er es nicht, sich wie ein Laufvogel zu gebärden. Vielleicht tat er absichtlich noch ein Übriges hierin, um auf seine Kosten die zornigen Professoren in gute Laune zu versetzen. Wie weit es ihm mit diesen gelang, muss dahingestellt bleiben, die Damen aber und der junge Kriegsmann ergingen sich in allerlei lustigen Bemerkungen, die indessen niemals unfreundlich wurden; denn der Herr Oberlehrer war wegen der großen Gutmütigkeit, die sich mit seinem lebhaften Geist paarte, ein entschiedener Liebling in der Frauenwelt.

In etwa 10 Minuten und jedenfalls ehe die Professoren Zeit fanden, sich wieder aufs neue zu erzürnen, kam er zurück, ein kleines Heftchen, wie das Schreibbuch eines Schülers, in der Hand, nahm seinen alten Platz wieder ein und begann, zunächst ohne von dem Buche Gebrauch zu machen.

,,Ich habe, da ich ein Mecklenburgisches Landeskind bin, die ersten beiden Semester meiner Universitätszeit in Rostock verbracht. Meine Wohnung fand ich in einem recht altmodischen Hause der XX.-Straße, dessen Besitzer einer schon seit Jahrhunderten in Rostock sesshaften Familie angehörten. Es waren ein Paar hochbetagte Eheleute, die sich, da ihre eigenen Kinder längst das schützende Elternhaus verlassen hatten, meiner noch recht unerfahrenen Jugend in liebenswürdigster Weise annahmen. Ich nahm meine Mahlzeiten an ihrem Tische und wurde bald wie ein Glied der Familie behandelt. In die einfache Geschichte derselben wurde ich eingeweiht und bei der Gelegenheit wurden mir auch einzelne sorgfältigst aufgehobene Kuriositäten vorgezeigt, die, an sich von sehr ungleichem Wert, dadurch ihre gleiche Bedeutung hatten, dass sie sich nun schon durch viele Generationen vom Vater auf den Sohn forterbten.

Unter diesen Reliquienstücken des Hauses war auch ein in Pergament gebundenes Buch, welches der Professor der Philosophie Ekbert Harlem, Regens der Bursa „zur Himmelspforten“ während des ersten Viertels des 16. Jahrhunderts, zu allerlei Aufzeichnungen über die Verwaltung der Bursa, auch über rein persönliche Erlebnisse oder Ereignisse aus der Rostocker Tagesgeschichte benutzt hatte. In welcher Verbindung der Herr Regens mit den Vorfahren meiner Wirtsleute gestanden, habe ich vergessen, aber gewiss ist, dass sich jenes kleine Buch einer ganz besonderen Verehrung erfreute und immer nur - ich möchte sagen: mit sauber gewaschenen Händen angefasst werden durfte. Obwohl man mir alles mögliche Vertrauen schenkte, war es mir doch nur gestattet, in Gegenwart meines Pflegevaters oder meiner Pflegemutter darin zu lesen; diese würden es nie zugegeben haben, dass ich es auf mein Zimmer nähme, aber sie hörten gerne zu, wenn ich nach dem Abendessen an dem runden Tisch ein Paar Seiten von den buntgemischten Notizen des würdigen Herrn Harlem vorlas.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hutten in Rostock