Die einsame Strandpromenade am Abend

Als er seiner Gewohnheit gemäß am Abend noch eine einsame Strandpromenade machte und eben die eiserne Leuchtbacke passierte, an der die Laterne schon lange in die Höhe gezogen war, trat aus der Dunkelheit der Professor Agricola, als habe er ihn hier erwartet, lebhaft auf ihn zu, ergriff ihn am Arm und sagte in seiner heftigen Weise:

„Ein Wort nur, Herr Oberlehrer; nur ein bündiges Ja oder Nein. Ist, was Sie uns mitteilten, wirklich und erweislich ein Hutten’sches Gedicht, oder ist es die leichtfertige Spielerei eines Mutwilligen? In ersten Falle darf der gelehrten Welt ein solcher Schatz nicht entzogen werden, im andern Falle - mag der Scherz mit der Freiheit des Badelebens entschuldigt werden.“


Das bleiche Gesicht des Oberlehrers zeigte sein gewöhnliches freundliches Lächeln, als er nach kurzem Besinnen antwortete:

,,Ich meine, das Ding muss doch in gewisser Weise für sich selbst sprechen, Herr Professor; für welchen Teil der alternative wollen Sie sich entscheiden? ich bin wirklich gespannt darauf.“

„Ich soll mich durch voreiliges Urteil so oder so binden, damit Sie mich entweder auslachen oder andern gegenüber als Autorität anführen können? Danke für die gute Absicht; aber in die Falle gehn wir lieber nicht. Und einen klaren Bescheid wollen Sie wirklich nicht geben?“ Der Professor hatte sich wieder gehörig in Zorn geredet.

„Sagt Ihnen die innere Stimme wirklich gar nichts?“ fragte der Oberlehrer zurück.

,,Zum Teufel mit Ihrer inneren Stimme !“ schrie der Professor, schleuderte den Arm des Oberlehrers, den er bisher festgehalten, von sich und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

Hinter ihm her grüßte Oberlehrer Flügel mit zierlichem Hutschwenken, dann verfolgte er seinen Weg in der Richtung auf das Spill zu. Kurz ehe er die Mole betrat, kam ihm ein eiliger Spaziergänger entgegen, der, die Hände in den Taschen, den Kopf gesenkt, ihn beinahe überrannt hätte. In dem Augenblick, da er den Professor Nesselmann erkannte, redete ihn dieser an:

,,O, der Herr Oberlehrer, oder der Herr Schulrat! haben dem Kollegen Agricola eine ordentliche Laus in den Pelz gesetzt mit Ihrem Schwindel - denn es war doch natürlich Schwindel?“

„Schwindel natürlich!“ erwiderte der andere verbindlich und damit waren Beide an einander vorüber; das Gelächter des Professors war noch eine Weile zu hören.

Als der Oberlehrer etwa die Hälfte der Mole erreicht hatte, hörte er vor sich das musikalische Klirren jenes großen Eisenringes, der kurz vor dem Spill in einem der Steinblöcke befestigt ist und mit dessen hellem oder dumpfem Tönen die Badegäste eine gewisse Symbolik verbinden, die Damen besonders.

Herr Flügel äugte scharf voraus, wen er vor sich habe; einer der beiden Professorsfrauen wäre er jetzt nicht gern begegnet, weder der prosaischen noch der sentimentalen, aber die beiden Figuren, die sich, leicht an einandergelehnt, auf ihn zu bewegten, passten nicht auf die korpulente Frau Agricola, nicht auf die stets wie im Traum einherschwankende Frau Nesselmann. Mit gleichmäßigem elastischem Schritt kamen sie heran, nun standen sie vor ihm; die beiden Professorentöchter! Er zog den Hut und wollte rasch vorüber, aber die eine der jungen Damen hatte ihn schon am Rockschoß festgehalten:

„Halt, Herr Doktor.“ sagte die lebhaftere Doris Nesselmann, „nicht wahr, uns werden Sie sagen, was wir von Ihrer Geschichte denken sollen? Professor Agricola sagt, ohne richtige Beweise könne er über die Sache ein Urteil nicht abgeben, mein Vater sagt, Alles wäre -“ hier stockte das liebe Kind.
„Schwindel, nicht wahr?“ ergänzte der Oberlehrer ihre Rede.

„So wissen Sies schon!“ fuhr Doris fort; ,,und wir wüssten’s nun so gerne, wer Recht hat?“

,,Und möchten so gerne an Alles glauben.“ setzte Gretchen Agricola hinzu.

„Nun, meine Damen,“ sagte Herr Flügel etwas feierlich; „dann sage ich Ihnen: glauben Sie getrost daran! Propaganda wollen Sie ja doch für die Sache nicht machen; warten Sie ab, bis Ihnen das Gegenteil bewiesen wird.“ Der alte Herr nahm seinen Vorteil wahr, grüßte und setzte seinen eiligen Gang nach dem Molenkopfe fort.

Doris Nesselmann stampfte verdrießlich mit dem zierlichen Fuße: ,,Nun weiß man wieder nicht, woran man ist.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Hutten in Rostock