Hungersteine in deutschen Strömen und Flüssen 1921

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Autor: R. Brün, Erscheinungsjahr: 1921

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hungersteine, Wassernot, Trockenheit, Wasserstand, Niedrigwasser, Wasserspiegel, Schiffsverkehr,
In Jahrgang 1921, Heft 20, Seite 311 unseres „Buchs für Alle“ brachten wir eine Abbildung der im Rhein gelegenen berühmten Pfalz, zu der man trockenen Fußes von Kaub aus gelangen konnte. Während der letzten heißen Wochen führten auch viele andere Ströme und Flüsse immer weniger Wasser, wodurch nicht geringe Schädigungen der Schifffahrt und der von ihr abhängigen Handels- und Industriezweige verursacht wurden.

Die Obermainfahrt ruhte seit dem 7. Juli. Auf dem Rhein konnte ein Teil des Wasserverkehrs noch aufrechterhalten werden; da man aber die Kähne nur teilweise beladen durfte, kam es um Mitte August zu einer weiteren Steigerung der Frachtpreise. Der Floßverkehr sank auf ein Minimum herab. Nach den letzten Lohnbewegungen der Schiffer hatten die Lohnsätze eine Höhe von fünfhundert Prozent über den Normaltarif erreicht.

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Der Wasserspiegel vieler Flüsse sank in den ersten Augustwochen so stark, dass an den Ufern auf weite Strecken der Grund zutage trat. Dabei wurden da und dort sogenannte „Hungersteine“ sichtbar, die sich sonst tief unter dem Wasser befanden. Einer dieser Steine, der bei Tetschen in der Elbe liegt, trägt die eingemeißelte Inschrift: „Wenn du mich siehst, dann weine.“ Wie man an Brückenpfeilern, Mauern und Hauswänden Marken anbringt, die den jeweiligen Stand des Hochwassers anzeigen, so finden sich auch auf den Hungersteinen Striche und Jahrzahlen eingemeißelt, die erkennen lassen, wie weit zu gewissen Zeiten der Wasserstand gesunken war. Auf dem Tetschener Stein finden sich Angaben für die Jahre 1616, 1710, 1716, 1790, 1811, 1842, 1868, 1892,1893 und 1911. In der Mosel, oberhalb Schweich bei Trier, sind zwei kuppelartige Felsstücke sichtbar geworden, die seit 1800 nicht mehr über den Wasserspiegel hervorgetreten waren. Zwischen Rüdesheim und dem Binger Loch ragte im Rheinbett ein Fels empor, der sonst nur bei außergewöhnlich tiefem Stand des Wassers zu sehen gewesen ist. Auch im Neckarbett sind während des abnorm heißen Sommers an verschiedenen Stellen „Hungersteine“ zutage getreten.

Im Jahre 1811, da auch in der Elbe der Tetschener Stein bloßlag, feierte man im Binger Loch ein Fest, bei dem ein ganzer Ochse gebraten wurde. Das scheint zur Bezeichnung „Hungerstein“ im Widerspruch zu stehen. Aber trockene und heiße Jahre sind ja meist „fette“ Obst- und insbesondere gute Weinjahre. Der Wein von 1811 galt als weltberühmter Trank; so begreift man, dass man am Rhein beim Erscheinen des Steines ein Fest feierte, wozu anderwärts für den Landmann kein Anlass vorlag.

Ungewöhnlich heiße Sommer treffen jene Gegenden schwerer, in denen Viehzucht vorherrscht. Wenn in der andauernden Hitze das Gras auf den Weideplätzen versengt, fehlt es an Futter, und das Vieh muss verkauft werden.

Das Jahr 1892 brachte einen ungewöhnlich trockenen Sommer; als darauf 1893 noch ein abnorm heißer Frühling folgte, mussten die süddeutschen Bauern viel Vieh abschlachten. Ein Preissturz trat ein, und das Pfund Kalbfleisch kostete dreißig Pfennig.

Aber auch schwere Störungen in der städtischen und ländlichen Wasserversorgung sind die Folge des Versiegens der Flüsse. Damit ist gleichfalls der Bestand der Gemüseanpflanzungen gefährdet.

Wenn wir genaue Temperaturangaben für heiße Jahre auch erst seit zweihundert Jahren (um 1720) besitzen, so enthalten doch alte Chroniken Nachrichten über abnorme Frühlingszeiten, Sommer- und Herbstmonate, die als richtig gelten dürfen. So konnte man im Jahre 1303 über die Seine, die Loire, den Rhein bei Köln und die Donau an verschiedenen Stellen trockenen Fußes gelangen; 1473 stand der Wasserspiegel der Donau so tief, dass man sie sogar in Ungarn durchwaten konnte. Im Jahre 1710 fiel von April bis zum Oktober auf großen Strecken kein Regen.

In früheren Jahrhunderten kam es bei dem raschen Anwachsen der Bevölkerung und den mangelhaften Transportmitteln während größerer Hitze und Dürre häufig zu folgenschweren Hungersnöten. Flüsse trockneten aus, der Verkehr erlosch, Fische kamen in den Teichen um und verfaulten. Moor- und Waldbrände waren nicht selten. So sind auch in diesem Jahre Moorstrecken in Brand geraten, wobei im Landstichler Moor und anderwärts auch die Torfvorräte zugrunde gingen. Viele Waldbrände sind im Lauf des Sommers zu verzeichnen gewesen. Im Taunus, Spessart und in der Rhön, bei Koblenz an der Mosel, bei Traisa im Odenwald und bei Obermossau sind Waldungen verbrannt.

Verschiedentlich ergriffen Brände auch reife Kornfelder; so wurde bei Langen, Weißkirchen und Ginnheim die Ernte aus dem Halm vernichtet. Wenn auch diese Brände meist durch das Auswerfen von Funken der Lokomotiven verursacht werden, die zuerst das zunderdürre Gras an den Böschungen entzünden, so entsteht mancher doch durch unachtsames Wegwerfen von brennenden Zündhölzern, ein Leichtsinn, der sich bitter rächt. R. Brün.

Hungerstein in der Elbe bei Tetschen.

Das ausgetrocknete Flussbett der Ahr bei Sinzig.

Hungerstein in der Elbe bei Tetschen

Hungerstein in der Elbe bei Tetschen

Das ausgetrocknete Flussbett der Ahr bei Sinzig

Das ausgetrocknete Flussbett der Ahr bei Sinzig