Hungersnot in Persien 1872

Aus: Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen. VIII. Jahrgang. 1872. Nr. 29
Autor: Bruce, Robert (?) Reverend, Missionar, Erscheinungsjahr: 1872
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Persien, Araber, Juden, Hungersnot, Solidarität, Hilfe, Spenden, Opfer, Katastrophe
Neben einer Skizze, welche dem heute von uns mitgeteilten Holzschnitte zu Grunde liegt, erhielten wir aus England den nachstehend übersetzten Brief des Reverend Robert Bruce mitgeteilt, welcher zu Isfahan in Persien als Missionar stationiert ist und mit einer nicht hoch genug zu preisenden Menschenliebe und Selbstaufopferung die fürchterliche Hungersnot zu bekämpfen sucht, welche seit bereits drei Jahren Persien heimsucht und immer noch nicht abgenommen hat. Der Brief, an einer Hauptquelle des Übels im verflossenen Jahre geschrieben, gibt uns tiefe Einblicke in das persische Elend, und wir sind gewiss, dass unsere Leser ihr Mitleid den armen Opfern eines schlechten Regierungssystems nicht versagen werden.

„Der Zustand, in welchem sich die Mohammedaner dieses Landes gegenwärtig befinden, ist über alle Beschreibung elend. Die Straßen von Isfahan, Jesd und der meisten Städte im Osten und Süden Persiens sind bedeckt mit Sterbenden und Toten. Die Reisenden, welche hier (in Isfahan) anlangten, berichten einstimmig, dass allenthalben auf den Landstraßen die Körper der Toten liegen, angefressen von Hunden und Raubtieren. Die ganze lange Straße von Isfahan bis Teheran schwärmt von Bettlern, die den armen Osten verlassen und sich nach der Hauptstadt hinwälzen, wo sie ein Stückchen Brot zu erhaschen hoffen. Der Winter von 1870 auf 1871 war für Persien verhältnismäßig milde, aber fürchterliche Schneestürme unterbrachen ihn und begruben dann auf der Landstraße scharenweise die unglücklichen Bettler. Mir wurde eine Stelle gezeigt, wo wenige Tage zuvor die Leichen von fünf im Schnee begrabenen Bettlern aufgefunden wurden. Ein mark- und beindurchdringender Frostwind, Sibiriens würdig, war mit fabelhafter Wut über das Land dahingestrichen, Tage lang anhaltend. Viele Märsche auf den Straßen dieser Gegend dauern dreißig (englische) Meilen, ehe der müde Wanderer wieder eine Karawanserai, ein Obdach erreicht, wo er sein Haupt niederlegen kann. Nichts bietet sich ihm auf dieser weiten Strecke als das Elend seiner Mitmenschen, die, gleich ihm mit dem Tode ringend, dem fernen Ziele zuschleichen. Hunderte von armen Weibern, von den weinenden Kindern begleitet, kaum mit einem elenden Lampen verhüllt, um die Blöße zu decken, kreuzten bei diesem eisigen Schneesturme die Straße, die über Berg und Wüste führt und hatten sie endlich das Ziel erreicht, so boten sich ihnen nur die nackten Steinplatten eines Karawanserais dar. Und in diesen war gewöhnlich nichts weiter zu finden als – Häcksel, das für Pferde, Maultiere und Menschen gleichzeitig das Futter abgeben musste. Die meisten Postpferde sind auf der Straße vor Hunger gestorben, und glücklich priesen sich die Bettler, die über das abgemagerte Tier herfallen und an ihm mit dem rohen Fleisch den Hunger stillen konnten. Die Postpferde sind aber nicht wieder ersetzt worden, und so leidet denn die Kommunikation auch außerordentlich. Briefe, welche Hilfe schaffen sollen, bleiben liegen. Selbst die königliche Post des Schahs wird von Fußgängern befördert oder mittels gemieteter Esel. O ihr, die ihr in einem warmen, wohlgepolsterten Wagen erster Klasse fahrt, gedenkt der persischen Witwen und Waisen, die gleichzeitig, in dürftige Baumwolllumpen gehüllt, dreißig Meilen an einem Tage im tiefen Schnee zurücklegen müssen, und die dann ohne Essen und ohne Bett sich niederlegen - vielleicht zur ewigen Ruhe.

Ich sah, wie in den wenigen noch im Betrieb befindlichen Fleischerläden Isfahans die Armen sich gierig über das Blut und die Knochenabfälle herwarfen und sie verschlangen; alte Lederschläuche werden als Nahrung verkauft; Bettler sitzen in den Straßen und verzehren Häcksel; und oft habe ich gesehen, wie die Armen Gras verschlangen, das manchmal noch aus den bleichen, erstarrten Lippen eines Verhungerten hervorhing, wie aus dem Maule eines Kamels. - Vielfach werden Geschichten von geschlachteten und verzehrten Kindern erzählt, und wer das Elend und den Jammer mit erlebt, der muss leider, leider an die fürchterliche Wahrheit glauben.

Der Schwiegersohn des Schahs, welcher in der letzten Zeit Gouverneur in Jesd war, erzählte mir, dass in Jesd, einer Stadt von noch nicht 50.000 Einwohnern, 20.000 Menschen in Folge Hungers gestorben seien!

Aber das Jammervollste bei all diesem Unglück war die vollständige Indifferenz der Mohammedaner und speziell der persischen Regierung gegenüber den Leiden der Armen.

Gegenüber dem Elend in Isfahan selbst bildete die christlich-armenische Vorstadt Dschula einen wohltuenden Kontrast. Die armenischen Christen, deren Vorfahren im Jahre 1615 von Dschulfa am Araxes nah Isfahan gebracht wurden, sind seitdem von den mohammedanischen Persern immer arg bedrückt worden, und man sollte glauben, dass sie, die Unterdrückten, schlimmer daran gewesen wären, als die Herrschenden. Aber es kam anders. Ihre Brüder in Indien, in Täbris und an anderen Orten sandten große Summen zur Unterstützung, die besonders an die Armen verteilt wurden. In den Straßen Isfahans, auf der anderen Seite des ausgetrockneten Bettes des Sendeh-Rud-Flusses, da bedecken Ruinen und Leichen den Boden - in Dschulfa sieht man wohlgenährte Arbeiter ihrer Beschäftigung nachgehen, und nur die aus Isfahan herübergekommenen Mohammedaner zeigen verhungerte Gesichter.

Daher kommt es, dass die Mohammedaner sagen: Dschulfa ist Behischt, d. h. der Himmel, und wenn es nicht noch als ein Kapitalverbrechen gälte, in Persien zum Christentum überzutreten, so würden jetzt sich viele zu demselben bekennen. Aber die mohammedanischen Priester halten uns jetzt, wo der Unterschied zwischen den Bekennern des Islam und der Lehre Christi so handgreiflich zu Tage tritt, eine Tradition vor, welche sagt: „Die Welt ist das Gefängnis der Gläubigen, der Himmel das Gefängnis der Ungläubigen.“ und dann fügen sie hinzu: „Diese Welt gehört den Christen, aber wir sind guter Hoffnung, uns gehört die zukünftige.“ Das sind dieselben mohammedanischen Priester, die alle Taschen voll Geld haben und die die Summen unterschlagen, welche der Schah für die Armen Isfahans sandte. Wenn sie jetzt mit solchen Doktrinen auftreten, dann ergrimmt freilich das Volk, und neulich entrann einer dieser Priester nur mit Mühe und Not der Volksjustiz. Während ringsum tausende vor Hunger starben, sammelte er eine große Menschenmenge in der Hauptmoschee der Stadt, und während die Zuhörer mit bleichen. abgehärmten Gesichtern und eingefallenen Wangen vor ihm standen und des Trostes harrten. empfahl er ihnen, drei Tage lang zu fasten und versprach, dass er dann um Nahrung zum Himmel beten wolle. „Was willst Du mit dem Worte fasten sagen, während wir hier Hungers sterben?“ schrie ihm die Menge nun zu, und nur mit Mühe entrann er ihrer Wut.

Aber da die Hungersnot so lange anhält, ist sie auch nach dem fleißigen christlichen Dschulfa vorgedrungen, welches unter der allgemeinen Not mit zu leiden hat. Vor einigen Jahren gab es dort nur eine einzige alte halbblinde Witwe, welche bettelte, jetzt hat das Unterstützungs-Komitee von den 2.719 Einwohnern der Stadt 1.000 mit Geld und Lebensmitteln zu unterstützen. Ach, die Not ist groß, und sie nimmt stündlich zu.“

Wir fügen diesem Briefe einige Erläuterungen bei, welche geeignet sind, die Ursachen der persischen Hungersnot aufzuklären. Persien ist im Vergleich zu den weiter westlich gelegenen Ländern sehr trocken; es ist das Land des Sonnenscheins und der Dürre. Im Sommer breitet sich andauernde Hitze über das Land aus und alles Grün verschwindet; ungeheure Staubwolken erheben sich und die erhitzte Luft zeigt dem gequälten Wanderer die Spiegelbilder der Fata Morgana. Was Persien namentlich fehlt, das ist das Wasser. Wo Wasser ist, da ist Leben, da bringt der Boden reichen Ertrag. wie z. B. am Urumiahsee; dicht dabei aber finden wir wieder die traurigsten, ödesten Landschaften, sandig, wüst, wahre Täler des Todes. Der Osten des Landes ist fast nur eine gewaltige Salzwüste ohne einen einzigen Grashalm, überall aber, wo man eine Bewässerung einzuführen vermochte, verwandelte sich wie mit einem Schlage die Landschaft aus dürrer Trostlosigkeit zu üppiger Fruchtbarkeit um. Lange Zeit blühte Persien, weil sein Kanal- und Bewässerungssystem im guten Zustande war. Aber Volk und Regierung sanken tiefer und tiefer; die Kanäle wurden verstopft, und die Regierung kümmerte sich nicht um das Bewässerungssystem, den Lebensnerv des Landes, der Wassermangel wurde größer und größer, die Bevölkerung ist verarmt und nur dünn über das Land zerstreut. Auf 22.000 Quadratmeilen wohnen in Persien nur fünf Millionen Menschen. Die fortwährenden Kriege, die elende Missregierung, der Mangel an Bevölkerung haben auch die kultivierte Oberfläche des Landes mehr und mehr verringert, so dass das bebaute Land jetzt nur zehn Prozent des Gesamtbodens einnimmt. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, dass nie große Getreidevorräte vorhanden sein können, und kommen zur Dürre noch Heuschrecken und Feldwanzen als Plage, so liegen die betrübenden Folgen auf der Hand. Auf den elenden Landstraßen lässt sich auch kein Verkehr unterhalten, welcher zur Abhilfe geeignet wäre. und so fehlt es denn an Saatkorn, an Vieh zur Bearbeitung des Bodens - an allem. Hauptgrund ist aber der Regenmangel, der nun zwei Jahre hindurch anhielt und der geringe Schneefall im Gebirge. - Nichts ist natürlicher als die Frage: was tut denn die persische Regierung, um dem Elende im Lande abzuhelfen? Die Statthalter der verschiedenen Provinzen, sämtlich Mitglieder der regierenden Familie, die von jeher die schändlichsten Gewalttaten an ihren Untertanen ausübten, haben die Getreidevorräte aufgekauft, um sie zu Wucherpreisen an das darbende Volk abzusetzen. Was kümmert sie dessen Untergang, wenn nur ihr Säckel voll wird! Der Schah selbst hat sich freilich daran nicht beteiligt, er ist dafür aber fortwährend auf der Jagd und kümmert sich nicht um sein Volk. Nasr-eddin-Schah führt ein Tagebuch, dessen Inhalt in der Wochenschrift „die Zeitung von Persien“, dem einzigen Journale des Landes, den Untertanen zu Nutz und Frommen veröffentlicht wird. Hier ein Auszug: „Heute früh stand ich sehr zeitig auf und trank meinen Tee, dann bestieg ich mein weißes Ross und nahm mein französisches Gewehr mit, welches von hinten geladen wird. Einige meiner Prinzen begleiteten mich; meine Armee folgte mir. Wir scheuchten bald eine Antilope auf; alle feuerten auf dieselbe - fehlten aber, was uns alle sehr verdross. Hierauf begab ich mich zum Frühstück. Als dieses zu Ende war, setzten wir die Jagd fort. Ich sah einen Hasen, schoss selbst auf denselben und erlegte ihn mit solcher Geschicklichkeit, dass die ganze Armee darüber erstaunt war.“ Le roi s’amuse! Das Volk stirbt Hungers.

Unterdessen treibt die persische Regierung mit unerhörter Härte und Grausamkeit die Steuern ein. Die Leute, die nicht einen Heller haben, um Brot zu kaufen, sollen Steuern zahlen. Furchtbar ist namentlich die Not unter den Juden. „Ich war“, schreibt ein christlicher Augenzeuge. „auf das fürchterlichste erschrocken von dem, was ich unter den Juden sah. Sie leben meistens in Höhlen unter der Erde, und wie mir es schien, waren sie alle dem Hungertode nah. Ich sah niemals ein solches Gemälde von Elend, Schmutz und Verkommenheit in meinem Leben. Bei diesen Juden traf ich den persischen Steuerkollektor, der mir in Gegenwart der Juden sagte: „Herr, ich kann Ihnen versichern, dass ich ihnen die Betten unter dem Körper weg und die Kleider vom Leibe genommen habe, so dass sie nicht einmal mehr eine Matte haben. Was kann ich tun? Ich bin ein Diener und muss gehorchen.“ Ein Jude, der dabei stand, versicherte dem Schreiber, dass der Steuereinnehmer sogar den Weibern die Kleider vom Leibe gerissen habe.

Diese Hungersnot, diese Zustände dauern gegenwärtig noch ungeschwächt fort, aber es ist eine Aussicht auf Besserung vorhanden. Am 2. Februar telegraphierte Bruce nach London: „Ich habe hier für 10.000 Arme zu sorgen; die Mildtätigkeitsfonds für diese reichen für sechs Wochen“, ich brauche aber Geld für vier Monate. Glücklicherweise ist ungemein viel Schnee gefallen, so viel, wie seit sieben Jahren nicht. Das gegenwärtige Leiden der Armen ist dabei fürchterlich, aber der Schnee bringt Wasser und damit eine gesegnete Ernte.“

Wie bekannt, hat die Mildtätigkeit sich im großen Maßstabe den unglücklichen Persern zugewandt, und große Summen sind nach Persien gesandt worden. Wir haben bei uns auch vielem Unglück abzuhelfen, aber für jene, die da denken „das eine tun und das andere nicht lassen“, und die gerne ihr Scherflein für die Hungernden in Persien beitragen wollen, geben wir unten eine Adresse an, an welche sie ihre Gabe senden können.*) Aber alle Gaben werden nur vorübergehend helfen; wenn in Persien nicht das jammervolle Regierungssystem geändert, Zucht, Sitte und Ordnung eingeführt werden, dann müssen die gleichen Zustände sich allemal nach Jahren der Dürre wiederholen.

*) Professor Dr. Hermann Metzner in Berlin, Lützowufer Nr. 11.

Hungernde Perser in den Straßen von Isfahan (Iran)

Hungernde Perser in den Straßen von Isfahan (Iran)