Fortsetzung 7 - Das große deutsche Jahrhundert, das hinter uns liegt, hat Goethe und Humboldt in jeder Hinsicht Recht gegeben. ...

Das große deutsche Jahrhundert, das hinter uns liegt, hat Goethe und Humboldt in jeder Hinsicht Recht gegeben. Wenn eine Schule an ihren Früchten erkannt werden soll, — auch der fanatischste Gegner des Gymnasiums hat kein andres Mittel, als das ‘weil’ in ein ‘obgleich’ zu verwandeln. Die Form und Idee, die durch die humanistische Bildung vertreten wird, die Freiheit des Geistes und das Vertrauen zum Geiste hat sich überall bewährt, — obgleich die Formel vom harmonischen Menschen längst nicht mehr genügt.

Aber ein Jahrhundert ist ein langes Leben, auch für eine Schule. Das Gymnasium darf es nicht übel nehmen, wenn man es immer dringlicher prüft, wie es mit seiner Kraft und Gesundheit stehe.


Deutsche sollt Ihr bilden, nicht junge Griechen und Römer! — Schön! Aber die Straße, die unsre Ahnen von jeher gewandert sind, die sie geführt hat zum Bewusstsein ihres Selbst, zur Höhe ihres Könnens: diese Straße führt nun einmal über Rom und Hellas. Und römische Geisteszucht, hellenische Freiheit, sie sind uns eingedrungen bis ins innerste Herz, sie leben in jedem Atemzug unsers nationalen Denkens: sie haben uns zu dem gemacht, was wir sind. Alles Beste unsrer Erinnerungen, das geheime und das offene Leben unsrer Sprache: ohne Rom und Hellas müssen sie uns schwanken, wie wir sie ohne Rom und Hellas so nicht erworben hätten. Rom und Hellas bergen die Schlüssel zur nationalen Selbsterkenntnis. Ihr feiert Schiller als nationalen Dichter, und die Brücke wollt Ihr niederreißen, die zu ihm führt? Wir brauchen die dauernde Fühlung mit Hellas und Rom, wenn wir nicht ehrlos den höchsten, uns echtesten Besitz aufgeben sollen, den wir ererbt haben. England und selbst Frankreich schrumpfen zusammen, wo wir sie messen an dem was uns das Altertum gab. Aber nicht der Zaunkönig sind wir, den Adlers Flügel emportrugen. Alles, was wir uns aneigneten, haben wir zugleich gewandelt. Nicht Römer sind wir geworden: Rom hat uns in harter, aber unendlich segensreicher Schule zu Deutschen gebildet. Und Hellas zumal hat uns in wunderbarer Kongenialität gesteigert über uns selbst hinaus und doch auf unsrer Bahn.

Aber Hellas ist tot! Seine Tage sind vorüber. Es hat uns nichts Neues mehr zu bieten. — Offen gestanden, mir ist Hellas fast zu lebendig: dem Germanisten weckt es leisen und lauten Neid. Es war lebendig, manchmal chamäleonhaft schillernd, durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch. Das formenklare Sonnenland hat auch tolle, finstre Dämonen entsandt; die mystischen Orgien des Dionysos haben ihr geheimnisvolles Brausen ahnungsvoll von den Schlegels bis auf Nietzsche zu uns heraufschallen lassen; als frech lachende Lebensbejaher haben kleine hellenische Geister dem Gott von Nazareth Schnippchen geschlagen; die Griechen haben auf dem weißen kalten Marmorglanz ihrer Plastik nicht bestanden, haben ihren ehrlichen Anteil an der Farbenfreude jüngerer Kunst; an unsrer Wissenschaft haben sie in allen ihren Phasen mitgearbeitet, und seit wir nur die Augen aufzumachen gelernt haben, sehen auch sie uns ganz anders an als einst. Und seit etwa zwei Jahrzehnten nun gar: da birst die Erde, und die Papyri quellen hervor, und der Orient redet vom hellenischen Geiste, und die Wanderungen griechischer Puppen und Spiele und Ornamente und Lettern und was weiß ich werden immer dichter: erweitert sich uns das Leben, sie haben nicht aufgehört Schritt zu halten. Fast könnte man sich fürchten vor dieser Überfülle hellenischen Lebens.

Aber auch vor sich selbst schützen sie uns. Denn wie es sich auch zu immer größerem Reichtum auswachse vor unsern staunenden Augen, dieses heiligste und unheiligste der Erdenvölker, sein Herz bleibt das alte, nur daß der veränderte Blutlauf ihm leise immer neue Säfte zuführt: Homer und Herodot, Aischylos und Aristophanes, Platon und Demosthenes; nicht mehr absolute Ideale, aber ewig wundervolle Vertreter bedingter Menschlichkeit, in ihrer Bedingtheit viel kostbarer und göttlicher, als da sie ein Naturphänomen schienen, vor dem das Urteil schwieg.

Ich bin außer Sorge: diese Hellenen, die uns so oft, mittelbar durch Rom, schöner unmittelbar durch sich selbst vorwärts gebracht haben, sie werden uns auch weiter führen. Und zumal vor der sozialistischen und materialistischen Barbarei, die uns heranschwillt und vor der uns alle Triumphe der Technik nicht retten werden — denn Technik und Barbarei schließen sich nicht aus — , vor diesen kulturfeindlichen Wettern sollen und werden uns die Hellenen immer wieder schützen, die Hellenen und hoffentlich auch das Gymnasium, nicht durch Unterricht in Religion und Patriotismus, sondern durch die heilige Kraft adliger Form.

Das Gymnasium. Und nun komme ich zu seiner Schuld, die ich mir schwer eingestanden habe, obgleich ich sie längst hätte wissen müssen: denn ich hatte das Glück, durch schöne Jahre mich Lagardes gütiger Teilnahme zu erfreuen. Das Gymnasium, das Wilhelm von Humboldt schuf, in fast religiöser Andacht vor der Antike, diente der Idee, der Zukunft, nicht dem Tage: es bildete wirklich. Die Bedürfnisse der Gegenwart haben und hätten Humboldt sehr wenig bekümmert So aber ist es nicht geblieben: die staatlich anerkannte Schule hat jene ‘Berechtigungen’ bekommen, die zum unerträglichsten Widerspruch führten. Humboldt wollte Individuen bilden, nicht Einjährig-Freiwillige. Wie wäre es möglich, humanistische Bildung zu schaffen vor 50 oder 60 Jungen in der Klasse, die größtenteils die rohesten praktischen Bedürfnisse, nicht Neigung und Begabung, in diese Schule gezogen haben? Ich hoffe von ganzer Seele, daß die Dreiheit gleichgestellter Anstalten — gleichgestellt vom Standpunkt der staatlichen Berechtigungen aus — dem Gymnasium den Weg zu sich selbst zurückgibt. Rage du nombre ist auch im geistigen Kampfe nicht am Platz. Schickt die Burschen, denen Hellas und Rom nichts zu sagen hat, ruhig auf die beiden Realschulen: aber die kleinere Schar führt auf die Höhen des Lebens in fröhlichem Schritt, unbeirrt durch das Stolpern der Schwachen, die sehen mögen, wo sie bleiben. Fühlt euch als eine Schule vornehmster Bildung! Füllt euch mit dem Stolze der Unnützlichkeit, der alle Zeit gehört, weil sie der Stunde wohl horcht, aber nicht gehorcht! Es soll wieder eine Auszeichnung werden, Gymnasialabiturient zu sein, und das wird es werden, wenn Lehrer und Schüler das stille Band des gemeinsamen Ideals verknüpft. Und der Lehrer, dem es beschieden ist, griechisch zu unterrichten, der mag getrost etwas von dem vielverschrienen Philologenhochmut besitzen, der doch im Grunde nichts ist als Gewissheit der hohen Sache, der er dient. Die verlachten Pedanten alter Tage, denen sl bei Herodot eine Lebensaufgabe war, haben von dieser Gewissheit etwas gehabt, was mir doch imponiert. Die Grundlage dieser Gewissheit kann heute nur die Wissenschaft sein: das Gymnasium kann keine Lehrer brauchen, die mit ihr die Fühlung verlieren, und diese Fühlung erhält sich nur in der, wenn auch bescheidensten, eignen Produktion. Und aus dieser zugleich ernsten und freudigen Schule lasst die Jungen früh heraus! Einst entließ das Gymnasium seine Schüler nicht selten mit 16 und 17 Jahren; das wäre auch heute möglich und würde der Universität nur gut tun. Und die Freudigkeit der Jugend setzt Freiheit des Lehrers voraus: ob ein Junge den ganzen Homer zu lesen hat oder nur zwei Drittel und dafür vielleicht etwas Hesiod, das sollte man nicht ein für alle Mal regeln, da sollte man dem Einzellehrer nicht zu wenig überlassen. Eins aber vor allem scheint mir nötig: den Weg von Hellas und Rom nach Deutschland, den muss der Lehrer genau kennen und sicher führen. Er kann ihn nicht entbehren. Denn er braucht, auch als Lehrender, die Heimat, die Gegenwart, um der fernen Vergangenheit ihr volles Leben wiederzugeben.

Der Naturforscher, zumal aber der Techniker, der Praktiker jeder Art hat es leicht, Interesse zu erwecken. Das Leben hilft ihm auf Schritt und Tritt. Es ist weit schwerere Arbeit, die des klassischen Philologen harrt. Er wird sie sich zugleich erleichtern und recht eigentlich fruchtbar machen, wenn er die Fühlung mit deutscher Volksart und Volksgeschichte zu finden weiß, aus der sich auch ihm die gesunde Berührung mit der umgebenden Gegenwart überall ergibt. In der innigen Durchdringung des deutschen und des klassischen Unterrichts seh ich das Heil für beide. Müsste ich wählen — was ich nicht wünsche — , so würd ich es immer noch für ersprießlicher halten, daß der Gymnasiast im Homer lebe als in dem Nibelungenlied. Aber sein Lehrer, der muss mit beiden gleich vertraut sein. Grade in dieser Hinsicht ist schwer gesündigt worden: wer vom deutschen Volksepos nichts weiß, dem sollte auch die Ehre nicht zuteil werden deutschen Knaben und Jünglingen den Homer zu erklären. Diese Mahnung sollte überflüssig sein, seit Karl Lachmann gelehrt hat, deutsche und klassische Philologie zu vereinen.