Fortsetzung 6 - Lessing öffnet die Pforte der neuen Zeit. Was dem deutschen Volke nun beschert wird, ...

Lessing öffnet die Pforte der neuen Zeit. Was dem deutschen Volke nun beschert wird, wir lieben es alle als unsern teuersten Besitz. Das alte Rom tritt zurück, die Griechen ziehen ein in das Herz unsers Geisteslebens, und mit ihnen eine Fülle, ein Reichtum, eine Schönheit geistigen Schaffens, daß noch wir Rückschauenden wie vor einem Wunder stehn. Der Bücherstaub, der dem älteren Humanismus nicht ganz erspart geblieben war, kann an den Hellenen nicht haften, und Italien, das die neue Generation mit eigenen Augen zu schauen sich gewöhnte, leiht ihnen den Glanz seiner Farben, seines glühenden Lebens. Winckelmann offenbart sich in griechischer Plastik die ewige Natur in ihrer wesenhaften Schönheit, und die Entwickelung hellenischer Kunst enthüllt ihm das Geheimnis geschichtlichen Werdens. Schiller gewinnt an der Hand der Hellenen das Evangelium seiner ästhetischen Erziehung; bei ihrem Anblick schwindet ihm der alte Widerspruch von Natur und Kunst, von Wahrheit und Schönheit; sie sind die Helden seiner wundervollen kulturgeschichtlichen Lehrgedichte. Und in Goethe vollendet sich die Persönlichkeit, die noch in Lessing etwas von der herben römischen Härte und Eckigkeit der alten Humanisten getragen hatte, zu jener Höhe milder Weisheit, selbst sich zwingender Treue, zu jener wundervollen Totalität, die uns heute noch sein Andenken, seinen Besitz zur höchsten Wohltat unseres geistigen Daseins macht. Sie alle freilich sind Kosmopoliten, und sie geben wohl gar die Lehre:

„Zur Nation Euch zu bilden, das hofft Ihr Deutsche vergebens:
Bildet, Ihr könnt es, dafür freier zu Menschen Euch aus!“


Aber auch die Nation ist dabei nicht schlecht gefahren. Der Übersetzer Homers hat uns hereingeführt in das Behagen und in die Not des norddeutschen Bauern; Iphigenia ist die echte Schwester Dorotheens; der Dichter, der die Götter Griechenlands pries, hat auch den Deutschen ihre Mission gekündet. Selbst ein Zarter, der, das Land der Griechen mit heißester Seele suchend, darüber die Heimat verlor wie Hölderlin, sah aus dem Nebel seiner Träume doch die hohe Aufgabe der Deutschen auftauchen, der Griechen ebenbürtige Nachfolger in der Führung der Menschheit zu werden. Noch die Romantik wurzelt mit ihren Anfängen in hellenischer Kultur. Als über Deutschland wieder eine Katastrophe hereinbricht, furchtbar wie einst der dreißigjährige Krieg, da braucht es kaum des stärkenden Rückblicks auf die große Vergangenheit: die Nation in ihren Besten war sich des unverlierbaren Gehaltes bewusst, den sie errungen; sie fühlte, daß sie nicht untergehen konnte, weil sie der Menschheit notwendig war.

Etwa vor hundert Jahren, in jener Zeit der schweren Not, entstand das humanistische Gymnasium, der Zwillingsbruder der Berliner Universität. Wilhelm v. Humboldt, der sich vor jeder Staatserziehung scheute, da er für die Individualität fürchtete, wusste aus seinem Eigensten, daß die Schule der Griechen dem Gesunden nur Steigerung seines Ich, die beste Hilfe zur Vollendung der harmonischen Persönlichkeit sei. Und in dem peinlichsten Mangel des Staates mutet er ihm Ausgaben und Aufgaben zu, die heute vielen schädlicher Luxus scheine.

Harmonischer Mensch, ästhetische Erziehung! Die Worte haben ihren reinen, vollen Klang für viele eingebüßt. Vage Vorstellungen von Genüsslingen schleichen sich ein. Als ob Friedrich Schillers Heldentum nicht vor solchem Irrtum schützen sollte! und die Harmonie des Menschentums, die Goethe errungen hat, ist das Ergebnis höchster Selbstbezwingung. Was erwartete Goethe für seine Nation wie für den Einzelnen von der Schule der Griechen? Er hat die Antwort vernehmlich gegeben. Von der zerstörenden Kraft formlosen Sehnens und Brausens weiß der erste Teil des Faust zu sagen: der Stürmer und Dränger jagt über Opfer vorwärts, er weiß nicht wohin. Da trifft ihn Helenas Blick ins Herz. Er rastet nicht, eh er sie errungen. Und nun? Auch das alte Faustspiel kannte die Teufelin Helena: sie treibt den fast geretteten Büßer dem Satan aufs Neue ins Netz.

Ganz anders Goethe. Den Faust, der Helena geliebt hat, ladet Mephisto zu lockendstem Genuss. Aber alsbald muss der Teufel erfahren, daß ihm dieser Faust verloren ist. „Man merkts, du kommst von Heroinen“. Der Mann, dem „sich tief im Sinn der Schönheit Quelle vollen Stroms ergossen“, er weist den Locker verächtlich ab, verächtlich selbst den Genuss seiner selbst im Ruhm, den der alte Humanist so hoch geschätzt hatte. „Die Tat ist Alles“. An Kraft hats dem Deutschen, Gott sei Dank, nie gefehlt: aber sie bedarf der Form, damit sie zur schöpferischen Tat werde. Und dazu kam uns Hellas.