Fortsetzung 1 - Auf die Romane vom unglücklichen Schüler, die heute Mode sind, leg ich gar keinen Wert ...

Auf die Romane vom unglücklichen Schüler, die heute Mode sind, leg ich gar keinen Wert: will man sie als Zeichen der Zeit beachten, so beweisen sie doch höchstens, daß viele Jungen auf die Schule nicht passen, auf die sie Kurzsichtigkeit und Ehrgeiz der Eltern bannt, beweisen etwa weiter, daß es neben guten auch schlechte Lehrer gibt, was nie jemand bezweifelt hat. Aber andere Klagen und Anklagen müssen doch wohl ernster genommen werden. Ich selbst denke meiner heimischen Graudenzer Schule mit ungetrübter Dankbarkeit und Freude. Meine Lehrer sollen keine Meister der Pädagogik gewesen sein: aber sie waren Gelehrte, die an den Wert dessen glaubten, was sie lehrten und arbeiteten, und es war vielleicht ein Segen, daß keine pädagogische Technik erkältend zwischen sie und uns trat. Gewiss, ich habe manche Nachtstunde an römischen Gesetzen gelernt: nun, diese Anspannung, in der die Seele erstarkte, ist auch meinem Körper nur gut bekommen; — und wenn wir belohnt wurden, so geschahs, indem man mit uns ein bischen Aristophanes und Plautus las. Die Lehrpläne waren damals wohl lockerer: ich wundre mich nachträglich selbst, wozu wir Zeit hatten. Freiheit und Freudigkeit hat uns wahrlich nicht gefehlt, und wir kamen obendrein früher auf die Universität als es jetzt der Fall zu sein pflegt, wo der alte fröhliche Wechsel zwischen halbjährigem, jährigem und anderthalbjährigem Klassenaufenthalt abgeschafft ist, der für den Lehrer sehr unbequem, für den Schüler eine große Wohltat war. Englisch parlieren hab ich bis heute nicht gelernt; aber mit dem englischen Shakespeare bin ich schon als Primaner ganz gut Freund gewesen. Und daß ich kein junger Hellene oder Römer geworden bin, das sehen Sie ja daraus, daß ich mich dem Studium der deutschen Vergangenheit geweiht habe. Ich empfinde ganz wie Riehl, dessen ‘Gymnasium zu Weilburg’ mir immer eine Herzstärkung ist: damals war es noch ein Vergnügen Gymnasiast zu sein, aber freilich, damals war das Gymnasium noch keine ‘Frage’. Und „wir begeisterten uns für unser Vaterland, indem wir uns für Griechenland begeisterten“. Das war die rechte Wirkung. Es hat für unsre Nation und für ihr einzelnes Glied nie eine bessere Schule der Selbsterkenntnis und des fruchtbaren Selbstbewußtseins gegeben als den Humanismus. Für uns Deutsche besteht kein Gegensatz zwischen humanistischer und nationaler Bildung: im Gegenteil. —

Den Griechen sind wir, sind alle Kulturvölker, ewig Schuldner. Immer gewaltiger und wunderbarer baut sich das Bild ihrer schöpferischen Kraft vor uns auf: ihre ungeheure Leistung auf allen geistigen Gebieten ist die unentbehrliche, dauernde Grundlage für alle geistige Kultur. Vernünftelnde Toren mögen sich einbilden, jenes ererbte Gut entbehren zu können, mögen es vielleicht gar als Hemmung empfinden. Der geschmacklose parodische Roman, in dem einst der Aufklärer Christian Thomasius den Aristoteles dem Gelächter preisgab, hat dem großen Lehrer des Mittelalters nichts geschadet, könnte höchstens seinem Verfasser schaden, falls den noch jemand läse; und wenn neuerdings ein Mann, den ich sonst ernsthafter zu nehmen gewohnt bin, in andrer Tonart einen gleichgerichteten Versuch gemacht hat, natürlich unter dem Beifall der Presse, so wird die bleibende Wirkung die gleiche sein. Die Griechen hüten die Pforte zum Verständnis der Gegenwart. Und der Weg den sie weisen, wie er der leichteste, der geradeste ist, er ist zugleich der stillste. Er erspart der Jugend das Gezänk des Alltags, hält ihr Hass und Unstäte der Gegenwartskämpfe fern, lässt sie frei und rein in einem heitern Tempel in den der Lärm der Gasse nicht dringt, doch reif werden, das Leben zu begreifen. Es ist nicht die Schuld von Hellas, wenn in seinem Stadium die Sinne, der Körper nicht zu ihrem Rechte kommen: das Auge sollte der Lehrling der Griechen wahrlich anwenden lernen, und was ‘Gymnasium’ eigentlich heißt, brauchen wir nicht aus England zu erfahren. Wo es zu rechter Wirkung kommt, da macht Hellas frei: es erlöst aus der Enge des Augenblicks, gewährt die stille Stätte zur Zuflucht nach innen, zeigt die Dinge in der idealen Ferne, die keine jähe Leidenschaft und Einseitigkeit herausfordert, und doch mit voller Deutlichkeit in einer menschlichen Nähe, die Herz und Phantasie zur Teilnahme zwingt. Noch heute haben die homerischen Gesänge die Kraft, von der furchtbaren Last zu befreien, welche die Überlieferung von mehreren tausend Jahren auf uns gewälzt hat“. Und es gehört zu den hohen Vorzügen dieser Erzieher des Menschengeschlechts, daß die schlimme Frage „wozu nützt mir das?“ vor ihnen keinen Platz findet Sie ‘nützen’ wirklich nichts: ihr Geist ist unvergänglich, weil er der Stunde nicht dient. Eine gute Botschaft aus dem Lande der Sonne, aus den Tagen, da Wahrheit und Schönheit, Natur und Kunst noch zusammenklangen: eine Botschaft, wie, die Jugend sie versteht und wie sie die Jugend jung erhalten soll durch das Leben. Und doch zugleich eine Botschaft voll tiefen Ernstes: Schönheit und Wahrheit erkämpft in strenger Arbeit Ewige Typen menschlichen Strebens, menschlicher Größe, menschlicher Vergänglichkeit und Dauer. Den bleibenden Gewinn aber erntet nur, wem diese Zeit in eigner Sprache redet: der bequeme und darum wertlose Erwerb aus Übersetzungen scheint mir in höherer Bildung fast unmoralisch, jedesfalls unfruchtbar. Eine gute Übersetzung soll Sehnsucht nach dem Original erwecken; als leidlichen Ersatz darf die Schule niemals sie gelten lassen; der Schüler soll aus der Quelle trinken.


Wenn aber ein Volk, so haben wir Deutsche diesen Erziehern zu danken: wer unsers Volkes innerste Geschichte kennen lernen will und das klassische Altertum ist ihm verschlossen, der muss auf der Schwelle Halt machen.

Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß jüngst in Weimar ein Tag für deutsche Erziehung getagt habe, der dem humanistischen Gymnasium den Kampf bis aufs Messer im Namen des Deutschtums erklärt hat, natürlich wiederum unter dem Beifall von Presse und öffentlicher Meinung. Ich habe die Verhandlungen gelesen, und wenigstens die des ersten Tages, der die allgemeinen Gesichtspunkte brachte, haben mich geradezu bedrückt in ihrer Inferiorität Kraftworte, nicht Kraftgedanken; Schlehentrank mit Galle gewürzt, nicht voller starker Wein. Schreiende demagogische Accente und daneben ein hässliches Hinüberschielen zu dem Kaiser, den man um seine Schulreform betrogen habe. Nivellierende Tendenzen spielen herein: von einer gleichartigen Bildung für die ganze Nation, begründet auf Deutschtum und Psychologie, wird geträumt, und auch der Volksschullehrer soll mit Universitätsbildung versehen werden. Dass die griechisch-römischen Göttinnen, die Musen und Grazien, nicht geladen waren, ist begreiflich. Aber auch von Goethe und Schiller hätte man, wenn man ehrlich sein wollte, sich lossagen müssen. Da hilft nichts, auch zu ihnen führt der Weg über Hellas und Rom. Es gehörte Mut dazu, eine Versammlung dieser Art an unsre heiligste Kulturstätte zu verlegen. Fürchtete man des Olympiers sonnenhaftes Auge so wenig? Aber freilich: auch die fruchtbringende Gesellschaft, die so gar keine Früchte trug, hat ihrer Zeit in Weimar begonnen.