Hochwasser

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 4. 1929
Autor: Johannes Heinrich Braach, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Hochwasser, Klima, Natur, Umwelt, Regen,
Aus schweren Wolken goss es ohne Unterlass, und die Wasser wuchsen. Auf Höhen und Bergen schmolz der letzte Schnee, und der Strom schwoll an. Seine Wellen dehnten sich aus, und die Wirbel wurden wilder. Telefon und Radio schrien Gefahr ins Land. Notwachen wurden eingerichtet, und die Häfen waren gedrängt voller Schiffe, die Zuflucht suchten.

Der Regen hörte auf, aber die Wut der Wogen bändigte sich nicht. Der Schnee war verschwunden, aber der Fluss hob seine Gewalt höher und höher, und das Verhängnis nahm brausend seinen Lauf. An den Ufern Furcht. Überall Beklommenheit, bestürztes Warten und Grauen vor dem Bilde der Vernichtung, das eintreten würde, wenn der Damm zerriss.

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Um späte Nachmittagszeit befahlen Böllerschüsse den Einwohnern von Markweiler, aus Schuppen und Scheunen zu eilen und in obere Stockwerke zu flüchten. Entsetzen geißelte Frauen und Greise. Das war der Tod, der anrücken wollte. Die Steinmauer, die den Dämon kettete, drohte zu brechen. Gebete und Flüche zuckten um zitternde Lippen. Die Hast zu Treppen und Leitern gleich dem Kampf um letzte Atemzüge. Kranke kreischten, Kinder jammerten, und Ochsen wie Rinder brüllten dumpf vor den Krippen, als wenn sie um das Bangen wüssten.

Kam die Überschwemmung jetzt? Gleich? Hatten Besorgte noch Zeit, Brot aus der Küche zu holen und Habseligkeiten zu bergen? Zu retten, bis man selbst gerettet oder von niederschlagenden Mauern erdrosselt würde?

Bebende Leiber hingen sich an die Fenster, die zum Strome führten, und blickten auf die Bahn des rollenden Unheils. Oberhalb des Ortes sah man Männer zu einer Stelle streben, Pflöcke in den Damm stoßen, Balken gegen ihn stemmen und Erdreich aufschanzen. Gnade um die, die dort schafften. Wurde der Wall zertrümmert, dann wurden sie von anrauschender Macht erdrückt wie Weinstöcke von stürzenden Felsen. Und jetzt — Ruder stießen vom Ufer, und ein Nachen strebte in das Meer der kochenden Gewalt. Was wollte der Narr, den das Fahrzeug barg? Noch ehe er dreißig Meter weit in das quirlende Durcheinander von gelber Brühe, treibenden Büschen, Sträuchern und ausgewühlten Wurzeln kam, musste das Boot zerschellen. Wellen warfen es hin und her und spielten mit ihm wie Wind mit welken Blättern. Man schrie und tobte, rief von Haus zu Haus und begehrte zu wissen, wer der Waghalsige sei. Griet Elmer meinte, dass es Till Kaderlak wäre, und Trude Geltert zeterte um Jahn
Ivelt, von dem sie fürchtete, dass er einen Klaps bekommen habe. Aber Imme Ilbersen erkannte deutlich den Schiffer. Sie stürzte zu Boden und wurde bewusstlos. Als sie wieder zu sich fand, erfuhr sie, dass ihr Mann dem Strudel entronnen und drüben gelandet sei. Eine Stunde später sagte der Müller, dessen Werk linkseitig der Flut und oberhalb von Markweiler lag, zu Ilbersen: „Bauer, Ihr seid dumm, dass Ihr Euch solcher Sache wegen anstrengt.“
„Holter — unsere Bitte,“ drängte der Hinübergeruderte.
„Ist unerfüllbar.“
„Unmöglich,“ empörte sich Ilbersen.
„Eure Sippschaft bildet sich ein, dass drüben der Druck nachlässt, sobald ich das Abschlusswehr meines Baches öffne und der Flut gestatte, in dieses Tal zu dringen. Kann sein, wenn es auch unwahrscheinlich ist. Nach meiner Überzeugung macht es nicht die Hälfte von einem Pfifferling aus, wenn ich die Schleuse aufreiße und Wohnung, Scheune und Feld ersaufen lasse.“
„Müller,“ bangte der Bauer.
„Aus Not greift Ihr zum Strohhalm. Was bezweckt eine Ableitung, die gegenüber der jetzigen Gewalt des Flusses rein gar nichts bedeutet?“
„Kein Mittel darf unversucht bleiben.“
„Wenn es Wert hätte, Ilbersen. Aber es hat keinen. Das müsst Ihr einsehen. Und Ihr müsst auch erkennen, dass nutzlose Opfer nicht von einem Nachbar verlangt werden dürfen.“
„Fällt Euer Haus, so richten wir es wieder her.“
„Ihr? Die Markweiler? Um Groschen zu sparen, habt ihr euch eine eigene Mühle gebaut.“
„Also — darum.“
„Nichts — darum. Schert Euch zum Teufel!“
„Ist das Euer letztes Wort?“ schrie der Bauer.
„Das letzte. Das allerletzte. Macht, dass Ihr hinauskommt. Ich vermag nicht zu helfen — und — damit Ihr es wisst — selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Hört Ihr? Ich nicht. Nie! Jetzt erst gerade nicht.“
Zorn überrannte Ilbersen. Er ergriff einen Stuhl und rückte gegen den Gegner vor. Der wich aus und schrie. Türen öffneten sich, und herein traten seine Söhne und Knechte.
„Ich habe es mir gedacht!“ rief der Holter. „Man kennt Euch. Jawohl. Wo Ihr Euren Willen nicht durchsetzt, glaubt Ihr mit der Faust durchkommen zu können. Seid froh, dass ich es bei einem höflichen Abschied bewenden lasse.“

Ilbersen verließ das Haus. Er glich einem Tier in seinem Grimm, als er an die Flut vor neunzig Jahren dachte. Damals stießen entfesselte Elemente durch die Schutzmauer und zertrümmerten zweihundert Häuser. Heute stand die Flut höher. Wie viele würden diesmal fallen? Nach des Müllers Weigerung ging das Schicksal seinen Weg. Seine Frau und seine Kinder mussten sterben, Ian Eckers sein Weib und seine sieben Gören, Niels Twartig seine Braut und Ian Eckers seine Mutter — alle würden aus dem Leben scheiden, wenn nicht ein Zufall und rechtzeitige Rettung zu Hilfe eilten.

Wie unabsehbar trostlos das Ende des Tages war! Die letzte Dämmerung für viele. Nicht daran denken. Gehen. Vorwärts gehen. Einen Fuß vor den anderen setzen und das Gehirn ausschalten. Stumpfsinnig sein. Nicht denken. In Bewegung bleiben. Nichts überlegen. Nur laufen und die Muskeln erschöpfen. Halt — tapste es nicht an ihm vorüber? Ja. Schritte. Ilbersen erkannte den Müller mit Söhnen und Knechten.

„Wir ziehen auf Wacht,“ bedeutete der Alte. „Nicht wegen des Dammes, dessen Bruch auf unserer Seite nicht zu befürchten ist. Wegen Eurer verschrobenen Einfälle. Es könnte sein, dass noch mehr Hirnverbrannte den Versuch einer Stromüberquerung wagen. Mein Wehr könnte Euren Fingern passen? Das vermöchte Euch zu locken. Richtet es aus, wenn Ihr hinüberfinden solltet. Der Strom hat Hunger. Ein zweites Mal schenkt er Euch nicht das Leben.“

„Ich will zu meiner Schwester nach Stetten,“ wich der Bauer aus, ging über den Deich, band seinen Nachen los und treidelte flussauf.

Die Holters bezogen ihre Wache und langweilten sich. Unentwegt schauten sie nach Markweiler. Sie wünschten nicht, dass der Damm zerbräche, obwohl eine tiefe Kluft seit der Errichtung einer drüben gelegenen Mühle zwischen jenen und ihnen lag. Die Söhne hatten den Groll des Vaters ererbt, und die Knechte teilten die Abneigung der Herren. Als der Wind stärker wurde, gab man die Stellung am Wehr auf und suchte hinter Pappeln Schutz.

Im letzten Licht des Abends erkundete Ilbersen den Standpunkt der Müller und erspähte, dass in der Schleusenschraube die eiserne Stange zum Öffnen und Schließen steckte. Wenn es ihm gelänge, den Hebel acht-, neun-mal umzudrehen, würde die den Strom absperrende Backe um so viel in die Höhe gezogen, dass das Flutwasser Abzug erhielt und drüben der Druck gemildert wurde.

Näher und näher schlich der Bauer. Sein Boot lag verstaut, er selbst war im Schutze des Deiches an die Schleuse herangepirscht. Die Minuten erschienen endlos. Das Wasser stieg. Neue unheilschwangere Wetterwolken bedeckten den Himmel, und qualvoll langsam verschwand der Tag. Raben krächzten gespenstig und steigerten die Schaurigkeit.

Da — Ilbersen erschrak unter der Weide, die ihn verbarg. Das Aufgebot der Müller stampfte nach Hause. Es war ihm zu ungemütlich geworden. Man marschierte heim, als wenn es nichts Natürlicheres auf der Welt gäbe. Markweiler und die Bedrängnis seiner Einwohner kümmerten die Müller nicht.

Der Bauer wartete, bis sich die Holters entfernt hatten. Dann stieg der gequälte Mann den Damm empor, sprang über die Wehrmauer, kletterte über die Querstange und warf sich über die Schraube, an den Hebel. Jetzt stemmte, presste er den Körper dagegen. Will die Schraube nicht? Versagt
die Wind? Hakt der Hebel nicht ein? Fest, fester. Noch stärker. Eins-zwei,eins — zwei. Das gibt einen Ruck. Noch einen, und einen dritten. Der Hebel kreist, die Schraube dreht sich, und das Stauwehr öffnet sich langsam — langsam. Es quirlt und zischt. Tosend rasen wütende Wellen in das geschaffene Tor. Geknebelte Natur, erlöst von einer Kette, hebt ihren ungeheuren Arm und stößt zu. Das sprudelt und wallt, das schwellt und brandet. Sturzwogen schnellen ins Tal und fällen, was den Weg versperrt. Jetzt stürzen die Holters zum Wehr zurück. Weiter. Kümmere dich nicht darum. Höher — immer höher und noch höher! Gerettet. Die Heimat gerettet! Jauchzt Ilbersen, zieht das Hebeleisen aus der Schraube und lässt es in den Strudel fallen. Dann, als die Schar der Müller anspringt, wirft er sich in den Strom, dass die Wellen aufbegehren und weißer Schaum im Kreise spritzt.

In der Nähe des Ufers reißt es ihn talab. Nebenher — dicht auf dem Damm hasten die Holters. Wenn Ilbersen sich an eine Weide klammert, versuchen sie, ihn zu fassen. Wenn er sich mit Aufbietung aller Kräfte gegen den Strudel stellt und Fuß fasst, bleiben sie stehen. Wenn er taucht, um sie zu täuschen, verharren sie so lange, bis er wieder zum Vorschein kommt.

Ilbersen überlegt: Er will ans Land. Aber am Lande wollen sie ihn erschlagen. Im anderen Fall muss ich ertrinken. Tolles Treiben giert hinter ihm her. Er ist das Wild, um das es geht.

Der Kampf erschöpft den Verfolgten. Er ersehnt die Nacht, in der er unbemerkt zu landen hofft. Aber aufs neue öffnen sich die Schleusen des Himmels, und grell leuchtend erhellen die Blitze des Frühlingsgewitters die Wasserfläche. Es ist nichts mit der Flucht auf festen Boden. Zwanzig Ellen, zwanzig armselige Ellen, trennen ihn von der Heimkehr. Zehn winzige Meter und die Rache der Holters. Verzweifelt muss er versuchen, über den Strom zu schwimmen. Mag sein, dass es gelingt. Möglich. In jungen Jahren glückte die Überquerung oft. Aber heute — bei diesem Hochwasser. Was hilfts! Überlegen nützt nichts, und jedes Verweilen schwächt die ermattenden Kräfte.

So strebt Ilbersen der Strommitte zu. Holter und seine Söhne schreien, kreischen und rufen noch mehr. Sie lachen mich aus, denkt der Bauer und drückt den Kopf in das Bett der Wellen.

Wie wohltuend das ist! Fast wie ein Ausruhen. Das bedeutet Friede, Erlösung. Nein — weiter. Nicht erliegen. Geschwommen. Nur geschwommen in dem fürchterlichen Rasen und Reißen. Die Schuhe ziehen zur Tiefe, das Gewicht der Kleider wird unerträglich, und die Kälte, die entsetzliche Kälte. Aber — weiter. Weiter, wie an der Wehrschraube. Beim Umdrehen des Hebels. Weiter — weiter. Eins — zwei. Eins — zwei. Weiter—-weiter.

Hendrik Ilbersen kam nicht nach Hause. Aber der Deich bei Markweiler hielt. Das Wasser sank, und die Gefahr ging vorüber. Der Strom hatte sich mit einem Opfer begnügt.

Hochwasser

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