Der Ritter und der Löwe

Der französische Ritter de la Four, welcher dem ersten Kreutzzuge nach Palästina beiwohnte, hörte eines Tages, als er durch einen Wald ritt, plötzlich ein schreckliches Jammergeschrei. In der Hoffnung, einen unglücklichen Menschen zu retten, eilte er mutig dem Geschrei entgegen. Wie erstaunte er aber, als er einen Löwen sah, um dessen Leib sich eine grässliche Schlange geschlungen hatte.

Den Bedrängten beizustehen ist die Pflicht jedes ächten Ritters. Beseelt von diesem Gedanken galt es unserm Ritter gleich, ob der Bedrängte ein Tier oder ein Mensch sei; genug, es war ein leidendes Geschöpf, das seiner Hilfe bedurfte — und durch einen Säbelstreich, der die Schlange von einander hieb, befreite er den Löwen von seinen gefährlichen Banden. Von der Stunde an begleitete dieses dankbare Tier beständig seinen Ritter, folgte ihm überall wie ein zahmer Hund, und äußerte seine natürliche Wildheit nur auf den Wink und Befehl seines Ritters. Natürlicher Weise war diesem damit gedient, einen solchen Kriegsgefährten zu haben.


Endlich war der heilige Krieg glücklich beendigt, und der Ritter schickte sich zur Rückkehr nach Europa an. Gern hätte er seinen getreuen Löwen mit sich genommen, aber kein Schiffer wollte sich überreden lassen, das gute Tier an Bord zu nehmen. Der Löwe musste also am Ufer, wohin er seinen Herrn begleitet hatte, zurückbleiben, und da er sich von diesem geschieden sah, sing er fürchterlich an zu brüllen. Gleich darauf stürzte er sich ins Meer, und schwamm dem Schiffe nach. Endlich verließ ihn seine Kraft, er sank — und die Wellen verschlangen ein Tier, das durch Liebe und Treue, die es bis in den Tod gegen seinen Herrn zeigte, ein besseres Schicksal verdient hätte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Historisch-literarisches Anekdoten und Exempelbuch