Romanische Profanarchitektur

Aus jener kulturgeschichtlich hochbedeutsamen, kunstgeschichtlich wenig geklärten Zeit, wo die ersten Nachrichten dämmern über die Erbauung steinerner Häuser, in denen die Bürgerschaft zum Raten und Richten zusammenkam, aus dem zwölften Jahrhundert ist in Deutschland ein einziges Bauwerk überkommen, das man mit Fug als Rathaus ansprechen darf. Dieser Bau steht in Hessen, in Gelnhausen, der Residenz Barbarossas, der blühenden Handelszentrale des Kinzigtales, der geachteten Reichsstadt, in der die Mitglieder wichtiger Reichstage zu Gast waren, dem baugeschichtlich einzigartigem Platze, in dem die Reste romanischer Profanarchitektur sich länger gehalten haben, als irgendwo anders. Das Haus, das die große Zahl völlig untergegangener frühmittelalterlicher Rathäuser ersetzen muss, liegt am Untermarkte der Stadt, dort, wo der uralte dem Kinzigtal folgende Frankenweg den Stadtbezirk kreuzt, im Schatten der prächtigen Marienkirche und in bewusstem Abstände von der kaiserlichen Pfalz, dem Ersatzbau der alten Dynastenburg auf der Kinziginsel.

Besser, als alle Chroniken, kann der kleine Bau erzählen von den Tagen, da der Kampf ausgetragen wurde zwischen der alten Feudalherrschaft und dem erstarkten Bürgertum. Soweit hatten sich die Ansichten zu Gunsten der Städte bereits geklärt, dass der Gesamtheit der Bürger das Recht zuerkannt wurde, ein Haus zu bauen, das sich vom Palas*) des Grundherrn äußerlich nur wenig unterschied. Die Zeiten, da der Vogt des geistlichen oder weltlichen Herrn die Ortsbewohner zu Kundgebungen auf die herrschaftliche Hofstatt berief, waren vorbei. Hatte der von hoher Stelle beorderte Schultheiß mit Bürgermeister und Rat zu verhandeln, so traf man sich im Stadthaus. Seit es eine domus civium oder domus consulum gab, hatte auch der Marktplatz von seiner Bedeutung als Versammlungsort der Vollbürger, wie als Gerichtstätte und Verkaufsstelle einiges verloren. Aber ganz war die Erinnerung an die Sitte unter freiem Himmel zu tagen doch nicht geschwunden. Das beweist in Gelnhausen der offene Vorplatz vor dem Rathaus, der als Altan nach dem Markte zu sich erstreckte und eine vortreffliche Bühne für die Abhaltung eindrucksvoller Gerichtsverhandlungen gebildet haben muss (Text-Abb. 1). Auch das könnte noch als die Beibehaltung offener Tagungen gedeutet werden, dass der Zugang zu den einzelnen Geschossen über Freitreppen erfolgte und dass die Fenster der Verschlüsse entbehren, wenn nicht diese Eigentümlichkeit in der allgemeinen Bausitte der Zeit ihre ungezwungene Erklärung fände.


*) Palas: repräsentativer Saalbau einer mittelalterlichen Burg.

Nicht zweifelhaft kann es sein, dass das ,,Haus der Bürger“, das mit Kamin ausgestattet war, die Bestimmung hatte, bei Witterungsunbilden der Versammlung alle Bequemlichkeit zu gewähren, welche die einfache Technik der frühen Zeit bieten konnte. Wir finden zwei geräumige, durch Stützen geteilte und mit Holzbalkendecken abgeschlossene Säle über einander. Der untere, der durch drei Türen von der Galerie aus zugänglich war, darf als Kaufhalle gelten, die dem Marktverkehr diente. Der etwas niedrigere obere Saal, der nach dem Markte in drei Gruppen von je drei Rundbogenfenstern sich öffnete, war für die eigentlichen Beratungen bestimmt. In dieser Vereinigung von Gerichtslaube, Kaufhalle und Bürgersaal liegt das Urbild des deutschen Rathauses vor, das noch dadurch vervollständigt wird, dass ein gewölbtes, mit rundbogigen Eingängen versehenes Sockelgeschoss vorhanden ist, in dem der Platz für die Ratswaage und Münze vermutet werden darf.

Das Eigenartige und künstlerisch Lehrreiche der frühen Anlage beruht in ihrer Selbstverständlichkeit und Einfachheit. An keiner Stelle tritt die Absicht zu Tage, bei diesem bedeutsamsten Bau der Gemeinde über die klaren Forderungen des anspruchslosen Bauprogramms hinauszugehen durch gekünstelte Gruppierung des Grundrisses oder Aufputz der Fassaden. Mit den bescheidensten Mitteln sind bei dem Hause, das aus vier glatten Wänden besteht, ausgezeichnete Wirkungen erzielt. Alle Formen sind konstruktiv bedingt. Sieht man von den ornamentalen Verzierungen der Kapitelle und einem Rundbogenfriese ab, der die auskragende Brüstung des Altans aufnimmt, so lassen sich Zierglieder an der Hauptfront überhaupt nicht feststellen. Nichts lag dem Meister ferner, als die Sucht, originell zu erscheinen. Die Ausbildung der Säle ist die gleiche, wie sie bei den Hallen der romanischen Burg sich findet. Auf das Engste berührt sich die Zweischiffigkeit der Räume mit der der Pfalzen und Klosterrefektorien. Die Richtigkeit der Lösung ergibt sich am klarsten daraus, dass die primitive Normalie sich durchweg als der älteste historische Kern der späteren reicheren Rathausanlagen ermitteln lässt und bei einfachen ländlichen Gemeindehäusern bis ins 16. Jahrhundert unverändert beibehalten wird. Und ein Vergleich mit ähnlichen oder wenigstens gleich großen Aufgaben unserer Zeit, etwa mit einem zweiklaßigen Schulgebäude oder der Kombination einer Turnhalle und Aula, lehrt, wie weit uns die gesund empfindenden Bauleute des zwölften Jahrhunderts mit ihrem Gefühl für die Verteilung der Massen überlegen waren. Der festliche Ernst der rhythmischen Fassade nötigt, auch wenn man die üppigeren Lösungen der Gotik in Parallele stellt, höchste Achtung ab.