Mittelalterliche Kommunalarchitektur

Nur einer besonderen Gunst des Schicksals verdanken wir die Erhaltung dieses wertvollen Stückes mittelalterlicher Kommunalarchitektur. In der verhängnisvollen Periode, die so rücksichtslos mit den Denkmälern ältesten deutschen Städtewesens aufräumte, blieb das Rathaus den Blicken der Neuerer entzogen. Schon im 15. Jahrhundert war man zu einer Erweiterung des unzureichenden Baues an der Rückseite geschritten. Im 17. Jahrhundert erhielt das mittlerweile in Privatbesitz übergegangene Haus einen Fachwerkvorbau an der Vorderfront, der die romanische Architektur völlig verdeckte (Text-Abb. 2). So blieb das Kleinod, glücklich inkrustiert, Einheimischen wie Fachkreisen unbekannt, bis Ludwig Bickell beim Studium der alten Profanbauten Gelnhausens es entdeckte und im Anzeiger des germanischen Museums beschrieb. Leider war die Auffindung des nur wenig beschädigten Kernbaues kein so großes Glück, wie der verdienstvolle Entdecker in der begreiflichen ersten Freude annahm. Die Zeit, die erst zwanzig Jahre hinter uns liegt, war noch nicht reif für derartige Funde. Das Haus, das Kriege und Brände überstanden hatte, sollte 1882 einer falschen Kunstbegeisterung zum Opfer fallen.

Man legte die romanische Front frei (Taf. 1) und begann das Werk der Restaurierung und damit den Akt der Zerstörung. Den Bau, der so eng mit den Geschicken der Stadt verwachsen war und unbedingt in den Besitz der Gemeinde wieder hätte übergehen müssen, erstand ein reicher Privatmann. Das „pretorium“ wurde im Villenstile auffrisiert (Text-Abb. 3). Als ob es sich um ein Dutzendhaus und nicht um eine unersetzliche Urkunde deutscher Kunst handelte, beseitigte und ergänzte man, was man für gut hielt, im Grundriss wie im Aufriss. Bis auf die oberen Fensterreihen und die untere Mitteltür ist von Architekturteilen nichts übrig geblieben. Das Eigentümliche und Bedauerliche bei diesem Schulbeispiel misslungener Wiederherstellung ist, dass die am Bau Beteiligten gar nicht merkten, wie sehr sie Kinder ihrer nicht gerade glücklichen Zeit waren. Weder die Absicht noch das Bewusstsein hatten sie eine Villa zu bauen. Streng im Geiste des zwölften Jahrhunderts sollte die Arbeit gehalten sein. Mit Zutaten, die man für romanische Kunstformen hielt und die heute schon der Laie als Entgleisungen erkennt, glaubte man das Werk des toten Meisters verbessern zu müssen. Heute sehen wir ein, dass die Kraft nicht einmal hinreichte, die vorgefundenen Formen richtig zu kopieren. Was für die Stadt eine archäologische Sehenswürdigkeit ohnegleichen hätte werden können, steht nun an hervorragender Stelle und für unabsehbare Zeit als Denkmal unverstandener Denkmalpflege.


Das alles geschah im besten Glauben. Mit dem Gefühl, sich ein Verdienst um die Kunstgeschichte erworben zu haben, betrachtete man das vollendete und leider so entstellte Werk. Die „stilgerechte Restaurierung“ hatte sich der Bauherr ein gutes Stück Geld kosten lassen. Als künstlerischer Berater war der Architekt hinzugezogen worden, der sich wie kein Zweiter mit der Formensprache der mittelalterlichen Baukunst beschäftigt hatte, Konrad Hase. Aber ein Vorwurf kann Bauherrn und Baumeister, Verwaltung und Bürgerschaft nicht erspart bleiben, nämlich der, dass sie die Warnungen des Kunstgelehrten nicht hörten, dem das Verdienst der Entdeckung zukam und die Zuständigkeit in Altertumsfragen weit über Hessens Grenzen zuerkannt wurde. Nur ein schwacher Trost kann es für Bickels Anhänger sein, dass der Altmeister Recht behalten hat als er es „vom Standpunkte der Pflege unserer heimischen Denkmäler aufs tiefste bedauerte, dass ein Bau von so hervorragendem bau- und kulturgeschichtlichen Wert nicht vom Staat erworben wurde, und nach Beseitigung der Bauschäden in der historisch gewordenen Form, ohne Rücksicht auf eine praktische Benutzung, lediglich als Denkmal erhalten blieb. Die Zahl der erhaltenen romanischen Profanbauten in Deutschland ist wahrlich klein genug, um den höchsten Aufwand für jeden einzelnen zu rechtfertigen. In der Weise intakt, und auch in den späteren Zusätzen wieder interessant, wie das Gelnhäuser Rathaus, ist keines derselben — gewesen. Es will wenig bedeuten, dass jetzt die Dachform fragwürdig, das Hauptgesims eine archäologische Unmöglichkeit ist; dass man sich aber nicht scheute, den charakteristischen Vorbau der Eingangstür zu zerstören, das Untergeschoss total zu verändern und die ganze wichtige Inneneinrichtung hinauszuwerfen, ist unverzeihlich, und ein unersetzlicher Verlust.“

Zwei Wahrheiten kann das verunstaltete Rathaus von Gelnhausen lehren. Einmal, dass Denkmäler von außergewöhnlichem kunstgeschichtlichen Wert am besten ganz unberührt bleiben. Zum andern, dass in Fällen, wo Wiederherstellungen unvermeidbar erscheinen, es nicht Aufgabe der Restauratoren sein kann, zu Formen zu greifen, die um Jahrhunderte zurückliegen, die, nur äußerlich erfasst, schon nach wenig Jahren als unpersönlich und unkünstlerisch empfunden werden, die dem Originale eine unerfreuliche Konkurrenz machen, in Laienkreisen zu archäologischen Täuschungen, in Fachkreisen zu wissenschaftlichen Schwierigkeiten und dauernden Missstimmungen Anlass geben.
2. Gelnhausen. Rathaus vor der Freilegung.

2. Gelnhausen. Rathaus vor der Freilegung.

Tafel 1 Gelnhausen

Tafel 1 Gelnhausen

3. Gelnhausen. Rathaus, freigelegt und durch missglückte Restaurierung entstellt.

3. Gelnhausen. Rathaus, freigelegt und durch missglückte Restaurierung entstellt.

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