Funktion mittelalterlicher Rathäuser - Zweithäuser

Noch auf ein anderes Verfahren muss hingewiesen werden, das die Alten anwandten, das gesteigerte Raumbedürfnis ihrer Rathäuser zu befriedigen.

Dieses Verfahren, das in der Neuzeit wiederholt mit bestem Erfolge aufgegriffen ist, besteht darin, ein selbständiges zweites Haus zu errichten, das, vom Altbau losgelöst, einzelne in sich geschlossene Geschäftsabteilungen aufnimmt. Es ist bekannt, dass im Mittelalter das Gemeindehaus nicht allein die Stätte der Bürgerversammlungen, Gerichtsverhandlungen und Amtsgeschäfte war. Das Rathaus enthielt auch den Schüttboden der Gemeinde, die Kellerei und Trinkstube, den Bürgergehorsam, die Schatzkammer, das Archiv und Arsenal, die Wache und die Wage. Als größtes Profangebäude der Stadt diente es dem Handelsverkehr und dem Vergnügen der Einwohner. Auch in Hessen fehlt es nicht an architektonisch interessanten Belegen dafür, dass einzelne dieser Funktionen vom alten Rathause sich nach und nach loslösten und unter eigenem Dach Unterkunft suchten.


Es sei auf das Kaufhaus zu Fritzlar verwiesen, das, am Untermarkt gelegen, in gar keinem örtlichen Zusammenhang mit dem Rathaus stand. Noch ein anderes Gebäude besitzt dieselbe Stadt, das zur Entlastung des Rathauses diente, das Hochzeitshaus, einen umfangreichen jetzt zur Schule eingerichteten Bau, der sich von der Geismarstraße zur Schildergasse hinüberzieht, im massiven Unterstock Küche und Wirtschaftsräume, in den beiden oberen Fachwerkgeschossen den Festsaal und die Nebenräume enthaltend.

Ebenfalls als Schule dient das ehemalige Hochzeitshaus zu Eschwege, ein zweigeschossiger gut erhaltener Renaissancebau mit Mittelrisalit und Eckturm an der Außenfront und mit malerischer Galerie im Hof. Auch Alsfeld besitzt noch sein Hochzeitshaus aus der Renaissancezeit, einen prächtigen Eckbau mit geschweiften Giebeln und Erker, wohl wegen seiner Monumentalität und seiner Ausführung in Stein kurz der „Bau“ genannt, in seiner äußeren Architektur glücklicherweise ebenfalls unverdorben. In kümmerlicher Entstellung ist Hofgeismars Hochzeits- und Gildehaus überkommen. Nur das Erdgeschoss steht noch, der Oberstock wurde 1855 abgebrochen, als man Steine für den Neubau des benachbarten Rathauses brauchte, von dessen ehemaligem Aussehen jede Abbildung fehlt. In Corbach, wo das am Kump gelegene Hochzeitshaus wie in so vielen anderen Städten spurlos untergegangen ist, besitzt die Stadtwaage, die die Stelle des Altstädter Rathauses einnimmt, noch an der Außenwand die Kette mit dem Halseisen, während der Diele die alte Balkenwaage verloren gegangen ist. Kassels 1421 erbautes, bei der Martinskirche gelegenes Tuchhaus verschwand 1833 samt der Stadtkellerei und der Wache; das an die Fulda stoßende Hochzeitshaus, eine gleichaltrige Gründung, die 1819 einen Neubau erfuhr, ging 1909 mit der alten Fuldabrücke unter. 1905 fiel in derselben Stadt das 1762 von Simon Louis du Ry erbaute Messhaus und 1911 das fünf Jahre später von Diede errichtete, lange Zeit als städtisches Kassengebäude benutzte Palais Hessen-Rotenburg, zwei elegante Monumentalgebäude, die kunstgeschichtlich in ihrer Gegensätzlichkeit von besonderem Belang waren.

Nicht selten entstanden in den neuen Stadtteilen der vergrößerten Gemeinwesen völlig neue Rathäuser. So erhielt Hanau — ein besonders bezeichnendes Beispiel — neben seinen beiden alten Rathäusern noch ein drittes in der für die zugewanderten Wallonen gegründeten Neustadt (Taf. 76). In Kassel entstand — ein ähnlicher Fall — für die zugezogenen Hugenotten in der französischen Oberneustadt ebenfalls ein neues Gemeindehaus, ein Werk Du Rys (Taf. 77). Wenn diese beiden vornehmen Bauten in guter Verfassung überkommen sind, so liegt das neben ihrer späten Entstehungszeit einmal daran, dass sie bereits den ausgeprägten Grundriss des Verwaltungsgebäudes aufweisen, dann auch daran, dass sie, ganz den Anschauungen der soliden Zeit entsprechend, in der gediegenen Technik ausgeführt wurden, die allein den Häusern eine lange Lebensdauer sichert und uns, die wir an die unhaltbaren Surrogatstoffe uns gewöhnt haben und mit dem Abreißen es ebenso eilig haben, wie mit dem Aufbauen, fast wie Luxus anmutet.