Erhaltungswert überkommener Bauten

Aber auch jenen ganz bescheidenen Gemeindebauten in Meerholz (Taf. 54), Altenhasslau (Taf. 55), Niederurf und Wirtheim, die der Portalvorbauten und Giebelaufsätze, der Türmchen und Erker entbehren, versagen wir nicht mehr unsere Achtung und unsern Schutz.

Nicht nur die Pietät vor den Werken unserer Altvordern ist es, die uns die überkommenen Bauten erhaltenswert erscheinen lässt, sondern die nüchterne Überlegung, dass gerade die schlichten Stücke die Gesetze lokaler Kunstübung am klarsten erkennen lassen und in einer Zeit, wo die Volkskunst bedenkliche Wege einschlägt, für die Aufgaben des Alltages willkommene Anhaltspunkte bieten. Bei einem Bau, wie dem Rathause zu Hallgarten (Taf. 74) sind wir nicht in der Lage, auch nur eine Zierform festzustellen.


Und doch kann das 1737 errichtete Gebäude, das an Größe ein Bürgerhaus kaum übertrifft, als Muster eines kleinstädtischen Verwaltungsgebäudes auch heute noch gelten. Die Zusammenfassung der Räume im Grundriss zu einem geschlossenen Rechteck, die gesetzmäßige Ausbildung der Fassade, die Abdeckung des behäbigen Baukörpers mit einem kräftigen Walmdach sind die Eigenschaften, die dem vornehm schlichten Hause für immer die Anerkennung sichern. Dass der Bau nicht mehr scheinen will, als er ist, berührt besonders wohltuend, sieht man, wie allerorten selbst die Privathäuser an überflüssigen Vorsprüngen und unverstandenen Verzierungen sich nicht genug tun können.

„Die kunstgeschichtliche Forschung hat im Laufe des letzten Jahrzehnts eingesehen, dass sie, um ein tieferes Verständnis der großen Schöpfungen zu erreichen, herabsteigen muss in die Niederungen des künstlerischen Schaffens. Es gilt das alte Handwerk zu begreifen. Es kommt darauf an, den breiten Boden der gewöhnlichen Werktätigkeit kennen zu lernen. Seine Kenntnis bildet oft genug die Voraussetzung für das Verständnis der einzelnen hervorstechenden Leistungen. Andererseits zeigt die Kunst auf dem Lande vielfach den Reflex der großen Werke, uns um so wichtiger, weil uns so viele große Werke verloren gegangen sind. Endlich vermittelt die Erforschung gerade der einfachen bürgerlichen und bäuerlichen Kunst eine Fülle von Aufschlüssen über kulturgeschichtlich merkwürdige Verhältnisse.“

So heißt es treffend in einem Gutachten, das 1906 das Rathaus zu Kaichen vor dem Untergang rettete. Dieser Fachwerkbau von 1782, der nur zwei Geschosse und fünf Fensterachsen besaß und weder Dachreiter noch Erker aufweisen konnte (Text-Abb. 39 u. 40), war der Gemeinde zu dürftig erschienen. Dass in dem schlichten „Amtshaus“ eines der ältesten Beispiele für die vollständige Umwandlung des Fachwerks am Ausgang des 18. Jahrhunderts vorlag, und dass Grund- und Aufriss bau- und kulturgeschichtlich von mehr als gewöhnlicher Bedeutung waren, hatte man nicht erkannt.

Und dass der mit dem alten Reichsadler geschmückte Giebel der symmetrischen Hauptfront dem Äußeren etwas Repräsentatives verlieh, hatte man nicht gefühlt. Wenn Denkmalpfleger und Denkmalrat für die Erhaltung des verkannten Rathauses in Kaichen eintraten, so haben sie sich nicht nur ein Verdienst um die Kunstgeschichte erworben. „Die Denkmalpflege soll keineswegs nur den Interessen der Kunstforschung dienen.

Sie soll vielmehr die künstlerischen Werke auch des kleinsten Ortes, in den nie ein Fremder kommt, eben für diesen Ort selbst bewahren, als ein werbendes Kapital, eine Summe anregender Kraft für die Erneuerung des künstlerischen Empfindens und der handwerklichen Tüchtigkeit, die uns verloren gegangen sind oder verloren zu gehen drohen. Auch das ehemalige Rathaus in Kaichen ist ein Erzeugnis jenes sachlich-logischen, zweckmäßig und materialgerecht schaffenden Handwerks, das wir wieder zu beleben trachten. Kein neues Gebäude kann lehren, was das alte noch heute an beherzigenswerten Lehren mitzuteilen hat. Und insbesondere kann kein noch so, stilvoller Neubau so vortrefflich der besonderen Forderung des Platzes entsprechen, wie es dies schlichte und doch so repräsentative Rathaus tut.“ Der Denkmalrat hat vollkommen Recht, wenn er „die Pflege des Heimatgefühles für eine nicht minder wichtige Aufgabe erklärt, als die Befriedigung der sanitären und sozialen Bedürfnisse“.
Tafel 54b Meerholz

Tafel 54b Meerholz

Tafel 55b Altenhasslau

Tafel 55b Altenhasslau

Tafel 74a Eltville

Tafel 74a Eltville

39. Kaichen. Rathaus vor der Wiederherstellung.

39. Kaichen. Rathaus vor der Wiederherstellung.

40. Kaichen. Rathaus nach der Wiederherstellung.

40. Kaichen. Rathaus nach der Wiederherstellung.

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