Entstellung durch wohlgemeinte aber missratene Rekonstruktion

Die Entstellung durch wohlgemeinte aber missratene Rekonstruktion ist noch nicht das Schlimmste, was den Rathäusern zugestoßen ist, da der Stilpurismus bei seiner Jugend nur in beschränktem Umfange hat sündigen können. Älter, verhängnisvoller und unverzeihlicher ist die grobe Vernachlässigung oder bewusste Zerstörung. Die Zahl der Opfer lässt sich nicht übersehen. Hingewiesen sei auf das gotische Rathaus zu Fritzlar, dessen malerisches Fachwerkgeschoss 1839 in Akkord abgebrochen wurde und dessen massiver zweigeschossiger Unterbau (Taf. 13) trotz der wohlerhaltenen Spitzbogenportale und trotz des geschichtlich wie künstlerisch gleich interessanten St. Martinreliefs zehn Jahre später nicht etwa von einem veränderungslustigen Laien, sondern von dem als Sachverständigen zugezogenen Landbaubeamten als unbedeutend und deshalb reif zur Beseitigung bezeichnet wurde. Man darf sich nicht wundern, wenn der Bezirksausschuss die Instandsetzung des Rathauses, dessen Standort auch noch als unschicklich bezeichnet war, für eine Verschwendung des Gemeindevermögens erklärte, und nur als eine mutige Tat kann man den Beschluss des Magistrats rühmen, trotzdem die domus senatoria, die alte Nachbarin des Domes, zu schützen. Diese Entschließung, die der tausendjährigen Altstadt das mittelalterliche Palladium städtischer Freiheit erhielt, war um so segensreicher, als die Neustadt bereits im 17. Jahrhundert ihr Rathaus verloren hatte. Nicht einmal im Bilde ist dieser vornehmste Bau der jüngeren Stadtgemeinde erhalten, dessen Charakter als Fachwerkhaus uns nur deshalb bekannt ist, weil in dem verhängnisvollen Jahr 1637 protokolliert wurde, dass „dahz gehöltze, so nicht widerumb zu verbauen stehet, ufs rahtthaus zu verbrennen gebracht“ werden solle. Über das Aussehen des ebenso sinnlos abgebrochenen Fachwerkstockes vom Altstädter Rathaus geben Handzeichnungen und Stiche die nur halb erfreuliche Auskunft, dass es sich um eine höchst eigenartige Lösung handelte, die eine hessische Besonderheit bedeutete: die Ausstattung der schmalen Schauseite mit drei Zwergtürmen in der Dachzone (Text-Abb. 4).

Diese malerische Dachform zeigte auch das alte Rathaus der kurhessischen Haupt- und Residenzstadt, das seit 1404 so innig mit der Geschichte der Bürgerschaft und des Fürstenhauses verwachsen war, 1837 auf einmal als störend empfunden wurde und fiel, ohne dass man es für nötig hielt, genaue zeichnerische Aufnahmen, ein Modell oder auch nur eine eingehende Beschreibung für die Nachwelt zu besorgen. Dem Interesse Ruhls an dem eigenartigen Bau und seiner stimmungsvollen Umgebung verdanken wir eine Handskizze, die uns die Lage der in der Ortschronik nur beiläufig genannten großen Ratsstube mit den Fürstenbildern, des Vorsaales mit den biblischen Gemälden, der Steuerstube, Kämmerei und Repositur, der Ratswaage, des unbequemen Bürgergehorsams und des angenehmeren Ratskellers ahnen lässt (Text-Abb. 5). Auch Hanaus 1868 völlig verändertes ,,Spilhaus“, das seine alte Schönheit freilich schon früher eingebüsst hatte, mag, wenn man ungenauen Handzeichnungen trauen darf, ursprünglich die Dachspitzen besessen haben (Text-Abb. 6 u.7).


Wie weit die Ecktürmchen an den mittelalterlichen Rathäusern in Treysa und Melsungen (Text-Abb. 8 u. 9) noch auf Originale zurückgehen, ist mangels älterer Abbildungen nicht mehr festzustellen. Von den beiden stattlichen Bauten ist das eine in Gotik, das andere anscheinend in Renaissance restauriert. Ein Gemeindehaus hat sich im nördlichen Hessen erhalten, das trotz der dürftigen Wiederherstellung in neuerer Zeit erkennen lässt, was in Fritzlar und Kassel und auch wohl anderswo an künstlerischen Werten untergegangen ist. Das 1509 erbaute Rathaus des Bergstädtchens Frankenberg (Taf. 3) wiederholt den Dreiklang der Erkertürmchen am Dachgeschoss der nach dem Markte gerichteten Schmalfront. Erhöht wird der Reiz der belebten Silhouette noch dadurch, dass auch die Längsseite einen Erker mit Spitzdach zeigt, dass der First einen luftigen Dachreiter trägt und der achteckige Treppenturm frei aus dem Baukörper heraustritt. Ein trefflicheres Beispiel dafür, welche Wirkungen das Mittelalter durch passende Gruppierungen zu erreichen wusste, als dieser schieferbeschlagene Fachwerkbau, an dem auf die Verwendung reicherer Einzelformen verzichtet ist, lässt sich kaum denken. Man braucht die elegante und würdige Lösung nur mit der gequälten und schwächlichen Art zu vergleichen, wie unsere effektlüsterne Zeit die Frage von Erker und Treppenturm behandelt, um die Überlegenheit des Meisters zu fühlen, der lediglich durch die Auflösung der Massen nach oben hin das Haus mit dem simpeln rechteckigen Grundriss zu einem Architekturstück gestaltete.
Tafel 13a Johannisberg

Tafel 13a Johannisberg

Tafel 13b Fritzlar

Tafel 13b Fritzlar

4. Fritzlar. Rathaus, durch Abbruch in seinen wesentlichen Teilen zerstört.

4. Fritzlar. Rathaus, durch Abbruch in seinen wesentlichen Teilen zerstört.

6. Hanau. Rathaus. Rekonstruktion.

6. Hanau. Rathaus. Rekonstruktion.

7. Hanau. Rathaus. Zustand im Jahre 1868.

7. Hanau. Rathaus. Zustand im Jahre 1868.

8. Treysa. Rathaus, durch missglückte Restaurierung entstellt.

8. Treysa. Rathaus, durch missglückte Restaurierung entstellt.

9. Melsungen. Rathaus, durch missglückte Restaurierung entstellt.

9. Melsungen. Rathaus, durch missglückte Restaurierung entstellt.

Tafel 3 Frankenberg

Tafel 3 Frankenberg

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