Die Nachbarschaft der Rathäuser

Das wiedererwachte Interesse für die Erhaltung der geschichtlich wie künstlerisch gleich bedeutsamen Stätten, an denen sich ehedem so ziemlich alle Akte des staatlichen und bürgerlichen Lebens abspielten, bleibt beim Rathaus nicht stehen. Auch der Nachbarschaft des Hauses, das für den Stadtplan meist bestimmender wurde, als Burg und Kirche, schenkt unsere Zeit wieder erhöhte Beachtung.

Wir haben uns daran gewöhnt, im Rathaus nur einen Teil des Marktplatzes zu erblicken. Wir sehen nicht mehr Einzelfassaden, sondern Häusergruppen, Straßenzüge, Städtebilder (Taf. 68—71). Das Rathaus muss mit den Nachbarhäusern wieder „zusammengehen“.


Dass das nicht immer der Fall war, zeigt der Marktplatz zu Spangenberg, wo das ortsfremde „Haus der Bürger“ nicht aussieht, als ob es jemals künstlerisch sich Bürgerrecht unter den bodenständigen Nachbarn verschaffen würde (Text-Abb. 41 u. 42). Aber dass Hessen noch nicht arm ist an malerischen Platzanlagen, wer wollte es leugnen angesichts der Marktplätze von Münzenberg (Taf. 73) und Idstein (Taf. 67) mit den überragenden Burgenbauten im Hintergrunde oder der weniger bekannten Marktplätze zu Bruchköbel (Taf. 38), Wolfhagen (Taf. 72) und Immenhausen (Taf. 80), wo das Rathaus mit dem Marktbrunnen, der Stadtkirche oder der alten Wache zu stimmungsvollen Bildern zusammengeht?

Höchst eigenartig wirkt in Weilburg (Taf. 29) die planmäßige Verschmelzung von Rathaus und Gotteshaus zu einem geschlossenen Baukörper, der, wenn auch nicht ganz frei vom steifen Gepräge eines schulmäßigen Klassizismus, doch in Verbindung mit dem Schlosse die Größe und Einheitlichkeit der Pläne des gräflichen Bauherrn erkennen lässt. Der Reiz von Erbachs gleichfalls durch gräfliche Munifizenz entstandenen Rathauses (Taf. 28) beruht nicht zuletzt darin, dass sich dem einfachen Hauptbau als Nebenflügel ein Torbau mit stattlichem Renaissancegiebel anschließt.

Für den architektonischen Wert des Marktplatzes zu Gladenbach, bei dem die gute Wirkung lediglich durch das staffeiförmige Zurücktreten der Häuser erzielt ist, fehlt uns ebenso wenig das Verständnis wie für die malerische Stimmung des Marktplatzes in Hachenberg, dessen Hauptreiz im ansteigenden Gelände seinen Grund hat. Beim Rathaus in Hattenheim (Taf. 69) freuen wir uns über den Durchblick in die Nachbargasse und ebenso ist’s in Niederwalluf (Taf. 69), wo das leider zum Abbruch bestimmte Biedermeierrathaus zum gotischen Kirchlein gar nicht so schlecht harmoniert. Selbst die ganz bescheidene Umgebung der dörflich anmutenden Rathäuser in Trendelburg und Frickhofen (Taf. 57) spricht uns an, weil alles zu einander passt.

Ein glücklicher Gedanke war es, in Schotten nicht nur das prächtige gotische Rathaus, einen wuchtigen Fachwerkbau mit zierlichem Erker (Taf. 40) wiederherzustellen, sondern auch die gleichartigen Nachbarhäuser durch eine würdige Instandsetzung mit dem hervorragendsten Bau des Marktplatzes in Übereinstimmung zu bringen. Und in Meerholz hat die Gemeinde gut daran getan, den Wartturm neben dem Gemeindehause zu erhalten (Taf. 54).

Die beiden Bauten, von denen weder der eine noch der andere durch Reichtum sich auszeichnet, ergänzen sich zu einer recht ansprechenden Baugruppe. Auch alle die Nebenanlagen, die das Rathaus sinnig umgeben, die Brunnen, Marktzeichen, Denksteine und ehrwürdigen Linden, sind uns nicht mehr gleichgültig. Selbst in Geisenheim, wo man kein Bedenken trug, das ebenso bodenständige wie wirkungsvolle Rathaus niederzureißen, um es durch einen Allerweltsbau in den Formen reduzierter Palastarchitektur zu ersetzen (Text-Abb. 43 u. 44), blieb die alte Linde erhalten, deren mächtiges Blätterdach auf einem Stützenkranz — leider nicht mehr auf dem alten — aufruht. Mit feinem Takt hat man auf dem intimen Marktplatz in Oestrich (Taf. 66) nicht nur den Baum in der Mitte des Marktes erhalten, sondern auch das Storchnest, das seit Jahren den Schornstein des Bürgermeisteramtes krönt. Nachahmung verdient das Vorgehen in Kaichen, wo nicht die einzelne Linde, sondern die ganze umgebende Baumgruppe unter Schutz gestellt ist.

Besondere Aufmerksamkeit beanspruchen die Dingstätten, an denen man lange achtlos vorbeigegangen ist. Noch in den meisten Dörfern haben sich diese Gerichtssitze erhalten, Steintische unter Bäumen, gegen die vorbeiführende Strasse etwas erhöht aufgestellt und von einer rechteckigen, kreisförmigen oder polygonalen Einfassung umgeben. In den Städten sind die Malstätten seltener geworden.

Der Verkehr, der so viele moderne Sünden entschuldigen muss, hat auch diese interessanten Rechtsdenkmäler beseitigt. Zu begrüßen ist es schon, wenn die Tische, Bänke und Schranken nicht zu Straßenpflaster verarbeitet, sondern, wie in Corbach die Reste des ehemals auf dem Altstädter Markt befindlichen Kaks, in der Stadtpromenade wieder aufgestellt werden. Aber wesentlich höheren instruktiven Wert behalten die Denkmäler doch, bleiben sie dort, wo sie das Burding hingestellt hat. Aus der ursprünglichen Umgebung herausgerissen reden diese Zeugen spannender Beratungen und aufregender Verhandlungen, erlösender Freisprüche und vernichtender Urteile nur noch die tote Sprache der Museumsdenkmäler.

Auch malerisch wirken die wuchtigen Erzeugnisse primitiver Steinmetzkunst am alten Platze ungleich eindrucksvoller, selbst dann, wenn die Nachbarschaft weder eine gleichaltrige noch gleichartige Fassung trägt. Das zeigt der Marktplatz in Allendorf (Taf. 64), wo der noch mit der Salzwaage versehene Gemeindetisch mit der mehr als einmal umgebauten Pfennigstube und dem Stadttor zu einem gefälligen Bilde zusammen geht.
Tafel 67 Idstein

Tafel 67 Idstein

Tafel 70 Frankenberg

Tafel 70 Frankenberg

Tafel 71 Butzbach

Tafel 71 Butzbach

Tafel 66 Oestrich

Tafel 66 Oestrich

Tafel 57a Trendelburg

Tafel 57a Trendelburg

Tafel 57b Frickhofen

Tafel 57b Frickhofen

Tafel 54b Meerholz

Tafel 54b Meerholz

Tafel 68a Windecken

Tafel 68a Windecken

Tafel 68b Wachenbuchen

Tafel 68b Wachenbuchen

Tafel 69a Hattenheim

Tafel 69a Hattenheim

Tafel 69b Niederwalluf

Tafel 69b Niederwalluf

Tafel 73b Münzenberg

Tafel 73b Münzenberg

Tafel 72a Wolfhagen

Tafel 72a Wolfhagen

Tafel 29a Weilburg

Tafel 29a Weilburg

Tafel 28a Erbach

Tafel 28a Erbach

41. Spangenberg. Alter Marktplatz. Einheitliche Wirkung trotz der verschiedenartigen Bauten.

41. Spangenberg. Alter Marktplatz. Einheitliche Wirkung trotz der verschiedenartigen Bauten.

42. Spangenberg. Neues Rathaus. Fremdkörper im Stadtbild.

42. Spangenberg. Neues Rathaus. Fremdkörper im Stadtbild.

43. Geisenheim. Altes Rathaus. Reiche Wirkung ohne Zierformen.

43. Geisenheim. Altes Rathaus. Reiche Wirkung ohne Zierformen.

44. Geisenheim. Neues Rathaus. Imitierte Palastarchitektur ohne Wirkung.

44. Geisenheim. Neues Rathaus. Imitierte Palastarchitektur ohne Wirkung.

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